1.1. Zum Stand der Forschung

In seinem Aufsatz Die Neupfalz in Nordamerika beschrieb der emeritierte Professor und damalige Gutsbesitzer und Bürgermeister Johannes Neeb aus dem rheinhessischen Nieder-Saulheim einen Traum. Tagsüber hatte er auf der Durchgangsstraße bei seinem Heimatdorf einen langen Treck von armselig daherkommenden Auswanderern gesehen, und im Schlaf fühlte er sich in ein fremdes Land versetzt. Verwundert bemerkte er dann auf einem Wegweiser Städtenamen, mit denen er vertraut war: Mannheim, Oppenheim, Mainz, Darmstadt und Alzey. Als er in eine der Siedlungen ging, begegnete er einem Mann, der sich als Friedensrichter vorstellte. Er erzählte Neeb, er befände sich in Oppenheim am Ohio – einer rein pfälzischen Siedlung, deren Bewohner mit den Lebensbedingungen in der neuen Heimat zufrieden seien – und lud ihn zum Bleiben ein. Neeb wollte in die ihm dargebotene Hand einschlagen, stieß dabei jedoch gegen den Pfosten seines Bettes und erwachte.

Diese Erzählung aus dem Jahr 1817 hatte einen realen Hintergrund. Seit dem späten 17. Jahrhundert waren immer wieder Menschen aus pfälzischen Gebieten, darunter Teilen des späteren Rheinhessen, nach Osteuropa und Nordamerika ausgewandert. Möglicherweise wußte Neeb, daß es in den Vereinigten Staaten ein Oppenheim gab, das allerdings nicht am Ohio lag, sondern in der Nähe des hundert Jahre zuvor von Pfälzern besiedelten Mohawktals im Staat New York. Zudem verdeutlicht Neebs Traum, daß in Rheinhessen Kenntnisse über Siedlungsgebiete in Nordamerika bestanden, in denen aus der Region stammende Auswanderer eine neue Heimat gefunden hatten und in die immer neue Landsleute folgten. In seinem Todesjahr 1843 machten sich zahlreiche Bewohner seines Dorfes auf den Weg in den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, wo sie in Wisconsin heimisch wurden. Einige Jahrzehnte später wurde in dem US-Staat gar eine Stadt nach dem Nieder-Saulheimer Auswanderer Friedrich Weyerhäuser benannt, der es zum "Holz-Koenig von Amerika" gebracht hatte.

Die deutsche Nordamerikaauswanderung wurde zum Gegenstand einer unüberschaubaren Fülle von Untersuchungen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich vor allem Nationalökonomen mit dem Thema auseinander. Die Studien von Philippovich, Mönckmeier und Burgdörfer berücksichtigen vor allem die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der Massenauswanderung sowie die Auswanderungspolitik der deutschen Staaten. Daneben entstanden zahlreiche Bücher und Aufsätze über die Leistungen deutscher Einwanderer im Zielland, die oft einen kompilatorischen Charakter haben und auf theoretische Ansätze verzichten. Besonders während des Dritten Reiches hatte die Erforschung der deutschen Auswanderung aus ideologischen Gründen Konjunktur. Dies führte zu einer langjährigen Tabuisierung in der deutschen Geschichtsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg, die erst in den 1970er Jahren durchbrochen wurde. Richtungsweisend wurde der 1960 von Frank Thistlethwaite aufgestellte umfangreiche Forderungskatalog zur historischen Migrationsforschung. Darin regte er unter anderem an, regional begrenzte Studien über Auswanderungs- und Zielgebiete zu erstellen, da sie in ihrer Gesamtheit am ehesten generalisierende Aussagen über das Wesen der Migration ermöglichten. Thistlethwaites Thesen fanden große internationale Beachtung und verliehen der Wanderungsforschung neuen Auftrieb. Nachdem in den Vereinigten Staaten bereits 1964 Mack Walkers wegweisende Studie über Hintergrund und Verlauf der deutschen Massenauswanderung im 19. Jahrhundert erschienen war, betrachtete 1973 erstmals Peter Marschalck in Deutschland das Thema unter bevölkerungsgeschichtlichen und soziologischen Fragestellungen. Dieser fruchtbare Ansatz wurde Anfang der 1980er Jahre von Klaus J. Bade zur ‚sozialhistorischen Migrationsforschung‘ weiterentwickelt. Bade zufolge sind alle mit den Übersee- und Binnenwanderungen verbundenen Prozesse "so in den interdependenten Zusammenhang der Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft einzubetten, daß Multidimensionalität und Multikausalität dieses komplexen Teilbereichs gesellschaftlicher Wirklichkeit im historischen Prozeß erfaßbar werden." Ausgehend von dieser These sind seither zahlreiche Studien von Bade und anderen Autoren, insbesondere für den ostelbischen Raum, erschienen.

Eine weitere Anregung Frank Thistlethwaites hat hingegen in der deutschen historischen Migrationsforschung bisher wenig Resonanz gefunden: die transatlantische Perspektive des Wanderungsprozesses. Er forderte die Amerikaner auf, den "salt water curtain inhibiting [American] understanding of European origins" zu durchtrennen. Zugleich ermutigte er die Europäer, den Migrations- und Ansiedlungsprozeß ihrer Landsleute in Übersee im Auge zu behalten. Resultat war eine neue Sichtweise "from neither the continent of origin nor from the principal country of reception [...] neither of emigrants nor immigrants, but of migrants, and to treat the process of migration as a complete sequence of experiences". Bereits 1939 hatte der Deutsche Joseph Scheben auf den Mißstand hingewiesen, daß die Auswanderer selbst nicht im Zentrum der Betrachtung standen.

Thistlethwaites Appell, Gruppen von wandernden Menschen von ihrem Heimatraum bis in ihr Zielgebiet in Nordamerika zu betrachten, führte zur Herausbildung des Forschungsfeldes der Rekonstruktion transatlantischer Kettenwanderungen. Die Kombination der Perspektiven der Aus- und Einwanderung hat laut Robert Ostergren den Vorzug, daß sie es erlaube, "to view the migrant experience from within rather than from without", da alle Stufen der Auswanderung beleuchtet werden, und Kontinuitäten und Brüche der Lebenserfahrung einzelner Personen herausgearbeitet werden könnten. Zum anderen trage diese Betrachtungsweise zur Überwindung der herkömmlichen Sicht von Ein- und Auswanderung als unterschiedlichen Phänomenen bei.

Die meisten bisher entstandenen Arbeiten beschäftigen sich mit skandinavischen Nordamerikaauswanderern. Insbesondere Angehörige der Uppsalaer Schule haben im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts wichtige Erkenntnisse aus europäischen und nordamerikanischen Quellen gewonnen. Zum mitteleuropäischen Raum sind bisher nur wenige transatlantische Arbeiten erschienen. Der Grund hierfür ist – neben dem großen Arbeitsaufwand sowie der Lokalisierung einer ausreichenden Quellenbasis – die Schwierigkeit, eine geeignete Personengruppe zu finden, die sich über längere Zeit in einem eng begrenzten Gebiet in Amerika aufgehalten und nicht zerstreut hat. Joseph Schebens Pilotstudie zur Methode und Technik der deutschamerikanischen Wanderungsforschung fand bis in die 1970er Jahre nur wenig Beachtung. Bahnbrechend für Deutschland ist Walter D. Kamphoefners Dissertation, die 1982 unter dem Titel Westfalen in der Neuen Welt erschien und die Lebensbedingungen deutscher Migranten vor und nach ihrer Auswanderung in die Gegend von St. Louis/Missouri untersucht. Eine erste den Atlantik überspannende Arbeit für den südwestdeutschen Raum ist Mark Häberleins Studie über baden-durlachische Migranten im 18. Jahrhundert.

Deutsche Gruppenansiedlungen in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts sind bisher nur unzureichend erforscht. Eine Ausnahme ist allenfalls das Siedlungsprojekt des Mainzer Adelsvereins, der in den 1840er Jahren mehrere tausend Deutsche nach Texas beförderte. Daß es auch in vielen Gegenden Wisconsins eine starke Konzentration von Einwanderern aus der gleichen Heimatregion gab, wurde schon von der amerikanischen Forschung im späten 19. Jahrhundert hervorgehoben. Jedoch fanden fast nur solche Siedlungen das Interesse der Historiker, die aus religiösen Gründen entstanden, planmäßig organisiert waren oder sich durch andere Besonderheiten auszeichneten. Die Mehrzahl der Settlements, deren Besiedlung sich unspektakulär durch oft jahrzehntelange Kettenwanderungen vollzog, wird meist nur am Rande erwähnt.

In Deutschland fanden deutsche Gruppenansiedlungen in Wisconsin, soweit ersichtlich, bisher in der wissenschaftlichen Forschung wenig Beachtung. Einen Anfang machte Uwe Reichs kurze, aber materialreiche Studie zu Auswanderern aus dem brandenburgischen Kreis Arnswalde im Verwaltungsbezirk Green Lake County. Das benachbarte Bundesland Hessen ist seit 1976 Partnerstaat von Wisconsin; zu einer intensiveren Beschäftigung mit der hessischen Auswanderung nach Wisconsin ist es indes bisher nicht gekommen.

Kaum ein US-Staat wurde von deutschen Einwanderern so sehr geprägt wie Wisconsin. Dennoch ist die Literatur zur deutschamerikanischen Bevölkerung des Staates in vielerlei Hinsicht recht dürftig. Als erste untersuchte Kate Everest Levi genauer Herkunft und Siedlungsverhalten der dortigen Deutschen. Ihre Aufsätze gehören zudem zu den frühesten Zeugnissen amerikanischer Sozialgeschichtsschreibung. Ansonsten erschienen, von Zeitschriftenartikeln abgesehen, bis zum heutigen Tag lediglich drei Monographien zum Thema, welche die Lücke nicht zu schließen vermögen. Das umfassendste hiervon ist Wilhelm Hense-Jensens zwischen 1900 und 1902 erschienenes zweibändiges Werk Wisconsin‘s Deutsch-Amerikaner bis zum Schluß des neunzehnten Jahrhunderts. Zwei weitere knappere Darstellungen von J. H. A. Lacher (1925) und Richard H. Zeitlin (1977) gehen nur wenig darüber hinaus.

Wichtige Erkenntnisse zur Besiedlung verschiedener Regionen Wisconsins liefern die zwischen 1922 und 1936 entstandenen Domesday Book Studies von Joseph Schafer. Sie enthalten minutiöse Untersuchungen des Siedlungsverhaltens der unterschiedlichen ethnischen Gruppen in verschiedenen Counties Wisconsins. Schafer verfaßte weiterhin Aufsätze mit methodischen Überlegungen zur Erforschung des Besiedlungsprozesses des Staates. Leider wurden Forschungen in diesem Bereich nach seinem Tod 1941 zunächst nicht fortgeführt. In Deutschland wies Katharina Reimann 1938 auf Schafers Studien sowie auf weitere Forschungsmöglichkeiten hin, jedoch verhinderte der Kriegsausbruch, daß die deutschamerikanische Besiedlung und Kultur Wisconsins intensiver untersucht werden konnten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg befaßte man sich erst seit den 1970er Jahren mit der Geschichte der deutschamerikanischen Bevölkerung Wisconsins. Den Anfang machte Kathleen Neils Conzens 1976 veröffentlichte Dissertation über die ethnischen Gruppen Milwaukees. In dieser Studie, die mustergültig für andere amerikanische Städte wurde, vergleicht sie die ökonomischen, sozialen und demographischen Gegebenheiten der unterschiedlichen Bevölkerungsteile Milwaukees von der Gründung 1836 bis zum Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges. Mit dem politischen Verhalten der einzelnen ethnischen Gruppen Wisconsins und ihrer Assimilation beschäftigt sich LaVern J. Rippley in seinem 1985 verlegten Buch The Immigrant Experience in Wisconsin. Die Amerikanisierung deutscher Immigranten und ihrer Nachkommen ist darüber hinaus in mehreren Monographien unterschiedlicher Disziplinen sowie in Susan Jean Kuypers Studie zur deutschamerikanischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten Wisconsins thematisiert worden.

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