1.2. Ziele und Aufbau der Arbeit

Für sehr viele, wenn nicht die meisten Nordamerikaauswanderer im 19. Jahrhundert war die Reise nach Übersee keine Fahrt ins Ungewisse. Viele ließen sich in Gegenden nieder, wo sie von Landsleuten bereits erwartet wurden. Das Phänomen der sogenannten Kettenwanderung findet sich sehr häufig bei Migrationsbewegungen (man denke nur an die türkische Bevölkerung im Deutschland der Gegenwart), jedoch haben bisher – wie bereits dargelegt – nur wenige Wissenschaftler die deutsche Nordamerikaauswanderung unter diesem Aspekt untersucht. Die vorliegende Fallstudie über Hessen-Darmstädter in Wisconsin verfolgt daher vor allem das Ziel, den von Thistlethwaite zitierten ‚Salzwasservorhang‘ zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten ein weiteres kleines Stück zu lüften. Insbesondere soll die Bedeutung der Kettenwanderung für den individuellen Auswanderungsentschluß sowie für die Prozesse der Ansiedlung und Akkulturation (Eingewöhnung bzw. Anpassung) einer näheren Prüfung unterzogen werden. Dabei erhielt der Verfasser zahlreiche methodische Anregungen von Thistlethwaite, Kamphoefner und Ostergren, nicht zuletzt bei der ausgesprochen arbeitsaufwendigen, EDV-gestützten Erschließung deutscher und amerikanischer Quellen. Obwohl diese Dissertation sich vornehmlich mit dem Zielraum beschäftigt, will sie – unter Anwendung der Methoden von Bade - einen bescheidenen Beitrag zur Klärung einiger bisher unzureichend erforschter Aspekte der südwestdeutschen Migrationsgeschichte bieten, insbesondere im Bereich der Auswanderungsstruktur. Dieses Herangehen macht es notwendig, sich im ersten Teil der Studie nicht auf die Betrachtung der Auswanderung nach Wisconsin zu beschränken, sondern alle feststellbaren rheinhessischen Fernwanderungen zwischen 1832 und 1870 zu berücksichtigen.

Die vorliegende Arbeit ist in acht Kapitel gegliedert, im wesentlichen zerfällt sie jedoch in zwei Hauptteile, die durch die unterschiedlichen geographischen Räume gekennzeichnet sind. Zu Beginn der Untersuchung (Kapitel 2) sind zunächst die Grundzüge der politischen, wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung Rheinhessens im 19. Jahrhundert zu thematisieren, wobei die relative Überbevölkerung und Landverknappung besonders zu berücksichtigen sind. Das Wanderungsgeschehen selbst wird im dritten Kapitel untersucht. Hierzu zählen Verlauf und Umfang der Migrationen, die Haltung des Staates zu den Wegzügen und eine Betrachtung verschiedener Auswanderungsziele. Im vierten Kapitel rücken die Auswanderer in den Vordergrund der Betrachtung. Die datentechnische Auswertung quantitativer Quellen ermöglicht die Analyse struktureller Merkmale wie Alter, Geschlecht, Familienstand und Beruf. Daneben sollen anhand einiger Fallbeispiele nichtökonomische Wanderungsstimulatoren näher beleuchtet werden.

Das fünfte Kapitel leitet den umfangreichen transatlantischen Teil dieser Studie ein. Es vermittelt zunächst einen Überblick über die von hessischen und anderen deutschen Immigranten bis 1870 bevorzugten Siedlungsräume in den Vereinigten Staaten. Danach steht die hessische Bevölkerung Wisconsins im Zentrum der Betrachtung. Hier ist zu untersuchen, welche Landesteile bis 1860 am stärksten von der Einwanderung aus hessischen Gebieten betroffen waren. In einem weiteren Schritt sind die Ursachen der regionalen Konzentration von Immigranten aus der Provinz Rheinhessen zu hinterfragen. Hierbei gilt es, Stimulatoren der Kettenwanderung ausfindig zu machen, die zwischen 1839 und dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges andauerte. Ebenso ist auf Formen und Verlauf dieser Migrationswelle einzugehen.

Das sechste Kapitel enthält einen detaillierten Überblick über die Siedlungsgebiete hessen-darmstädtischer Einwanderer in Wisconsin. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Counties Washington und Sheboygan, Zentren der rheinhessischen Immigration. Anhand einiger lokaler Beispiele soll der Besiedlungsprozeß nachgezeichnet werden, wobei aus methodischen Gründen Einwanderer aus den übrigen deutschen Staaten sowie Angehörige anderer ethnischer Gruppen in die vergleichende Betrachtung einzubeziehen sind.

Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit der Akkulturation rheinhessischer Einwanderer und ihrer deutschen Landsleute im Osten Wisconsins. Zunächst ist zu klären, welches Bild deutschsprachige Immigranten von ihren anderssprachigen Nachbarn hatten und wie sich dies im Zusammenleben auswirkte. Danach soll
untersucht werden, ob die Berufsstrukturen einzelner ethnischer Gruppen in den Jahren 1850 und 1860 Unterschiede aufwiesen und wie die soziale Schichtung der Bevölkerung in ländlichen Räumen aussah. In den folgenden Abschnitten zur Landwirtschaft zwischen 1840 und 1885 werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Ackerbau und Viehzucht der einzelnen Einwohnergruppen herausgearbeitet. Außerdem ist zu klären, ob die Disparitäten verschwunden waren, als eine in Wisconsin aufgewachsene Generation die Farmen ihrer Eltern übernommen hatte. Die berufliche Eingliederung rheinhessischer Immigranten in städtischen Gebieten soll anhand zweier ausgesuchter Erwerbszweige (Brauwesen und Weinhandel in Milwaukee) herausgearbeitet werden. Aussagekräftige Ergebnisse zur Akkulturation sind ferner durch die nähere Analyse verschiedener Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens zu erwarten. Hierzu zählen die Wahl des Ehepartners, politische Partizipation, Stellung zum Amerikanischen Bürgerkrieg sowie Presse-, Vereins- und Schulwesen.

Das achte und letzte Kapitel thematisiert die Akkulturation rheinhessischer Immigranten auf dem religiösen Sektor. Hier sind Entstehung und Entwicklung ihrer verschiedenen Kirchengemeinden zu dokumentieren. Ebenso ist zu überprüfen, ob die Immigranten ihrer alten religiösen Überzeugung treu blieben oder ob es auch zu Übertritten zu Glaubensgemeinschaften kam, die in ihrer Heimat unbekannt waren. Anhand des Beispiels der Freien Gemeinden Wisconsins soll geklärt werden, inwieweit rationalistische Strömungen wie der in Rheinhessen in den 1840er Jahren recht stark verbreitete Deutschkatholizismus auch in Wisconsin Fuß faßten.

Im Schlußwort werden die wesentlichen Ergebnisse der Studie zusammenfassend dargestellt, verbunden mit einem kurzen Ausblick auf die fortschreitende Amerikanisierung der Nachfahren rheinhessischer Immigranten im 20. Jahrhundert.

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