Schlußwort der Dissertation von Helmut Schmahl "Verpflanzt, aber nicht entwurzelt: Die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin im 19. Jahrhundert"

Wenige Schriften haben das Selbstverständnis der US-Amerikaner so stark geprägt wie die 1782 erstmals erschienene Essaysammlung Letters from an American Farmer des französischen Adligen J. Hector St. John de Crèvecoeur. In seinem dritten Brief geht Crèvecoeur, der weite Teile Nordamerikas bereist hatte, der Frage What Is an American nach. Er charakterisiert Amerika als Asyl für die Unterdrückten Europas und Schmelztiegel der Völker und stellt den Amerikaner als new man dar, der durch neue Gesetze, neue Lebensformen und eine neue Gesellschaft geprägt sei. Die Immigranten vergleicht Crèvecoeur mit nutzlosen Pflanzen, die aus ihrer Heimaterde nach Amerika verpflanzt wurden, erst dort Wurzeln geschlagen hätten und erblüht seien. Dieses Bild des entwurzelten ‚neuen Menschen‘ fand vielfache Resonanz, auch in der amerikanischen Geschichtsschreibung, zuletzt in den 1950er Jahren bei Oscar Handlin. Seitdem hat die historische Migrationsforschung – angeregt durch Frank Thistlethwaite - eine deutliche Zurechtrückung dieser Auffassung in die Wege geleitet. Studien auf Mikroebene, die sich mit dem gesamten Migrationsprozeß und den Lebensbedingungen in der Herkunfts- und der Zielregion beschäftigen, zeigen deutlich auf, daß die Auswanderer meist weit davon entfernt waren, mit ihrer bisherigen Lebensweise radikal zu brechen.

Für den deutschen Sprachraum existieren bisher nur wenige Untersuchungen, welche die transatlantische Dimension des Wanderungsprozesses berücksichtigen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, anhand der Auswanderung aus Rheinhessen in den US-Staat Wisconsin einen bescheidenen Beitrag zu Formen und Verlauf der deutschen Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts zu leisten und die Akkulturation einer Gruppe von Migranten jenseits des Atlantiks zu beleuchten.

Die Auswanderung aus Rheinhessen, das 1816 als hessen-darmstädtische Provinz entstand, hatte wie die aus zahlreichen anderen Gebieten in Südwestdeutschland eine lange Tradition. Sie reicht bis in das späte 17. Jahrhundert zurück. Wegzüge erfolgten vor allem aus ökonomischen Gründen. Das in der Region praktizierte Realteilungsrecht, das alle Erben gleichstellte, ermöglichte es einer großen Zahl von Personen, Familien zu gründen. Hohe Geburtenraten führten - verbunden mit einer sinkenden Mortalität - seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem raschen Bevölkerungswachstum. Die fortschreitende Zersplitterung landwirtschaftlichen Besitzes erreichte in vielen Orten Rheinhessens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bedenkliche Ausmaße. Diese Entwicklung nahmen seit 1824 vor allem Angehörige der ländlichen Mittelschicht zum Anlaß, ihren Besitz zu veräußern, um mit dem erzielten Kapital einen erfolgversprechenderen Anfang in anderen Weltteilen zu wagen. Nach 1845, als eine europaweite Pauperismuskrise Rheinhessen erfaßte, stieg der Anteil der Unterschicht an den Wegzügen stark an und erreichte in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre seine größten Ausmaße. Die Massenemigration, die hauptsächlich die Vereinigten Staaten, zeitweise aber auch Brasilien, Algerien und Osteuropa zum Ziel hatte, bewirkte, daß die Bevölkerungszahl Rheinhessens zwischen 1846 und 1855 nahezu konstant blieb. Örtlich führte die Aus- und Abwanderung mitunter zu starken Einwohnerrückgängen, insbesondere im Süden der Provinz. Die wirtschaftliche Situation verbesserte sich erst aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dies hatte einen Rückgang der Auswanderung zur Folge, der sich unter anderem darin manifestierte, daß anstelle ganzer Familien nun hauptsächlich ledige Personen die Provinz verließen. Außer wirtschaftlichen Wirkfaktoren gab es zahlreiche individualpsychologische Auswanderungsursachen, die sich allerdings meist nicht fassen lassen. Politische und religiöse Gründe waren allenfalls in Einzelfällen ausschlaggebend.

Neben den abstoßenden Kräften des Heimatlandes (push-Faktoren) spielte die Attraktivität des Ziellandes (pull-Faktoren) eine wichtige Rolle. Die Vereinigten Staaten übten die größte Anziehungskraft auf deutsche Wanderungswillige aus, da Nachrichten über günstige Siedlungsbedingungen immer wieder in Rheinhessen und anderswo eintrafen. Deutsche Einwanderer konzentrierten sich vor allem im Nordosten und im Mittleren Westen der USA, wobei Immigranten aus den einzelnen Regionen des Deutschen Bundes unterschiedliche Siedlungsräume bevorzugten. Dies legt den Schluß nahe, daß ein Großteil der Migranten an Kettenwanderungen teilnahm. So war der am Michigansee gelegene US-Staat Wisconsin seit 1840 vor allem bei Einwanderern aus ostelbischen Gebieten populär, während Immigranten aus den hessischen Staaten sich zur gleichen Zeit vor allem an der Atlantikküste und im südlichen Mittleren Westen niederließen. Eine Ausnahme bildete der östliche Teil Rheinhessens, wo sich in den 1840er und 1850er Jahren eine Wanderungstradition nach Wisconsin herausbildete. Diese Kettenwanderung wurde von Franz Neukirch ausgelöst, der sich 1839 in der Gegend von Milwaukee an der damaligen euroamerikanischen Siedlungsgrenze niederließ. Briefe des ehemaligen Försters animierten bereits ein Jahr später Bewohner seines langjährigen Wohnortes Guntersblum und der Nachbardörfer zur Übersiedlung nach Wisconsin. In den kommenden Jahren wurde das Gebiet zum bevorzugten Ziel zahlreicher Emigranten aus der Gegend zwischen Oppenheim, Wörrstadt und Alzey. In manchen Dörfern hielt die Auswanderung über ein Jahrzehnt an, mitunter wurden ganze Verwandtschaftskreise verpflanzt. Im Westen und Süden Rheinhessens war das Interesse an Wisconsin hingegen gering. Kettenwanderungen aus diesen Räumen waren in andere Teile der Vereinigten Staaten gerichtet.

Zunächst konzentrierten die Rheinhessen sich vor allem nordwestlich von Milwaukee in Washington County, wo es ihnen zwischen 1840 und 1848 gelang, ein relativ geschlossenes Siedlungsgebiet in den Townships Germantown, Richfield, Polk und Jackson zu bilden. Viele Familien profitierten von günstigen Landverkäufen der amerikanischen Regierung. Als das Angebot an Regierungsland in Washington County knapp wurde, zogen neuankommende Rheinhessen seit 1847 in das rund 50 Kilometer nordöstlich gelegene Township Rhine in Sheboygan County. Landsleute, die zuvor einige Jahre in Germantown gelebt hatten, schlossen sich ihnen an, so daß Rhine den Charakter einer Tochterkolonie von Germantown erhielt. In der Mitte der 1850er Jahre klang die Wanderungswelle ab. Auch in Milwaukee, der größten Stadt Wisconsins, und anderen Bezirken im Osten des Staates ließen sich zahlreiche Rheinhessen nieder. Um 1860 dürfte ihre Zahl rund 2000 Personen betragen haben.

Da Deutsche in den untersuchten Gebieten die Bevölkerungsmehrheit stellten, kam es zu keiner Assimilation. Anfängliche Zwistigkeiten unter Deutschen aus verschiedenen Herkunftsstaaten wurden schnell überwunden. Es wurde ihnen bewußt, daß sie von gebürtigen Amerikanern als eine Gruppe betrachtet und als Immigranten oft geringschätzig behandelt wurden. Angesichts ihrer beachtlichen Zahl trugen viele der Einwanderer ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein gegenüber ihren meist puritanisch geprägten angloamerikanischen Nachbarn zur Schau. Sowohl auf deutscher als auch auf amerikanischer Seite gab es scheinbar unüberwindbare Vorurteile, die in unterschiedlichen Lebens- und Denkweisen wurzelten. Kontakte beschränkten sich auf ein Mindestmaß, Eheschließungen waren die Ausnahme.

Die Akkulturation deutscher Einwanderer in der neuen Umgebung läßt sich in vielerlei Hinsicht dokumentieren. Die große Mehrheit war in der Landwirtschaft tätig, Deutsche dominierten aber auch in zahlreichen Handwerksbereichen. In Milwaukee, dem Wirtschaftszentrum Wisconsins, spielten rheinhessische Einwanderer eine wichtige Rolle im Brauwesen. Einige der von ihnen gegründeten Betriebe wie die Pabst Brewing Company und die Schlitz Brewing Company gehörten seit dem späten 19. Jahrhundert zu den größten Brauereien der USA. Auch im Weinhandel Milwaukees taten sich Rheinhessen hervor; einen nicht unerheblichen Teil ihrer Importe bezogen sie aus ihren Heimatgemeinden.

Hessen-darmstädtische Einwanderer in Washington County waren besser gestellt als die meisten übrigen deutschen Bewohner des Bezirks. Der Wert ihres Grundbesitzes lag 1860 durchschnittlich um ein Viertel über dem ihrer Landsleute. Dies ist darauf zurückzuführen, daß Rheinhessen oft zu den frühesten Pionieren des Gebietes zählten und günstig umfangreiche Ländereien erwerben konnten, was späteren Einwanderern oft nicht mehr möglich war. In der ersten Zeit nach der Ansiedlung übernahmen deutsche Einwanderer so viel wie nötig an amerikanischen Produktionsmethoden und bemühten sich aber gleichzeitig, ihre traditionelle Anbauweise so weit wie möglich beizubehalten. Weizenanbau war bei allen ethnischen Gruppen (außer Deutschen hauptsächlich Angloamerikaner und Iren) vorherrschend, da er das wichtigste Marktgetreide war. Trotz der wesentlich schlechteren Vermarktungsmöglichkeiten von Roggen bestellten deutsche Farmer im Gegensatz zu anderen Siedlern beträchtliche Flächen mit ihrem traditionellen Brotgetreide. Mais und Ahornsirup waren unbekannte Produkte für die Immigranten; sie begannen jedoch gleich nach der Ankunft mit deren Erzeugung, wenn auch in wesentlich bescheidenerem Ausmaß als Angloamerikaner. Mit der Zeit näherten sich die Produktionsgewohnheiten der Gruppen immer weiter an. Als die Bedeutung des Weizens aus Wisconsin auf den Märkten nachließ, erfolgte der Übergang zur Milchwirtschaft. Dieser Schritt wurde zunächst von Angloamerikanern vollzogen, bis zur Mitte der 1880er Jahre zogen auch die Deutschen im Untersuchungsgebiet nach. Zahlreiche hessen-darmstädtische Farmer im Town of Rhine spezialisierten sich auf die Herstellung von Käse, wobei sie sich an der angloamerikanischen Produktionsweise orientierten.

Spielten die Deutschen auch im Erwerbsleben eine nicht wegzudenkende Rolle, so war dies in der Politik – außer auf lokaler Ebene - nicht der Fall. Lediglich in den 1840er Jahren entfalteten die fast ausschließlich der demokratischen Partei nahestehenden Rheinhessen ein bemerkenswertes Maß an Aktivitäten, um ihre politischen Interessen in der Verfassung des zukünftigen Staates Wisconsin durchzusetzen. Künftig galt ihre Aufmerksamkeit der unmittelbaren Umgebung. In den Darmstädter Settlements und ihrer Nachbarschaft entwickelte sich ein deutschamerikanisches kulturelles Leben, das in vielerlei Hinsicht dem in der alten Heimat glich. Geselligkeit wurde in Vereinen oder auf Festen und Bällen, insbesondere in Milwaukee, gepflegt. Auf dem Land waren die Kirchen vor allem während der Besiedlungsphase oft die einzigen Zentren des geistlichen und kulturellen Lebens. Da die meisten rheinhessischen Einwanderer evangelisch waren, gründeten sie seit 1843 mehrere unierte Kirchengemeinden, die im Volksmund teilweise als Darmstädter Kirchen bezeichnet wurden. Hierzu zählten vor allem St. Johannes in Germantown (1843) , St. Jacobi in Richfield (um 1846), St. Paul und St. Johannes in Polk (um 1844 bzw. 1852), die Friedensgemeinde und St. Peter in Jackson (1852 bzw. 1858) sowie St. Petri in Rhine (1859). Andere hessen-darmstädtische Einwanderer schlossen sich protestantischen Glaubensrichtungen an, die in der Heimat unbekannt waren. Prediger verschiedenener Gemeinschaften missionierten in den Darmstädter Settlements, was in Richfield zur Gründung der Emmanuelgemeinde der methodistisch geprägten Evangelischen Gemeinschaft (1852) und der First Presbyterian Church of Richfield (1862) führte. Mitunter führte Streit über theologische und organisatorische Fragen zur Spaltung und Neugründung von Kirchengemeinden. Manche Immigranten standen den traditionellen Formen des christlichen Glaubens fern und waren bereits in Rheinhessen mit dem Deutschkatholizismus in Berührung gekommen. In den frühen 1850er Jahren bildeten sie in den meisten Townships der Darmstädter Settlements Freie Gemeinden, die von den rationalistischen Ideen von Eduard Schröter aus Milwaukee, vormals Prediger der Deutschkatholiken in Worms, geprägt waren. Organisatorische Probleme führten nach wenigen Jahren zum raschen Niedergang dieser Bewegung.

Zwar kam es in den Jahrzehnten nach der Besiedlungsphase zu zahlreichen Wegzügen rheinhessischer Familien aus dem Osten Wisconsins in weiter westlich gelegene Gebiete, dennoch erfuhren die durch Kettenwanderung entstandenen ländlichen Siedlungen kaum Veränderungen in ihrem Bevölkerungsaufbau. Noch in der heutigen Zeit können Besucher aus Rheinhessen bei einem Blick in das Telefonbuch oder bei einem Rundgang über Friedhöfe zahlreiche in ihren Heimatgemeinden typische Familiennamen ausmachen.

Die Amerikanisierung der Nachfahren der Einwanderer war ein schleichender Prozeß. Er fand erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Abschluß durch die Aufgabe von Deutsch als Gottesdienst- und Umgangssprache. Die Sprache wurde spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr in der Schule gelehrt, ihre Weitergabe erfolgte im Elternhaus und im kirchlichen Unterricht. Ein eindrucksvolles Zeugnis für die Stabilität des Darmstädter Settlements im Town of Rhine ist die rheinhessische Mundart, die von manchen älteren Bürgern noch heute – 150 Jahre nach der Einwanderung ihrer Vorfahren - beherrscht wird.

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