Helmut Schmahl: Verpflanzt, aber nicht entwurzelt: Die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Mainz (u. a.) 2000 (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 1).

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5.4.2. Formen und Verlauf der Kettenwanderung

Im Frühjahr 1840 traf Neukirchs erster ausführlicher Bericht aus Wisconsin bei seiner Frau ein. Offenbar setzte Philippina Neukirch ihre Umgebung von den vorteilhaften Verhältnissen in Kenntnis, die ihr Mann angetroffen hatte und lud Bekannte ein, ihr zu folgen. Auf ihrer Reise wurden sie und ihre Kinder von Bekannten begleitet. Wenig später ließen sich fünf Familien aus Neukirchs langjährigem Wohnort Guntersblum und einige junge Männer aus weiteren Ortschaften des Oppenheimer Raumes (Dienheim, Schwabsburg, Mettenheim) in der Gegend von Milwaukee nieder. Auch aus Gensingen im Westen der Provinz machten sich 1840 einige Familien auf den Weg an den Michigansee.

Rasch verbreiteten sich Berichte über die Attraktivität Wisconsins in zahlreichen Gemeinden Rheinhessens. Der Schwerpunkt der Auswanderung lag zunächst in den westlich von Oppenheim gelegenen Dörfern Schwabsburg, Köngernheim und Selzen. Allein aus Selzen kamen 1843 rund 60 Personen in das Territorium am Michigansee. In diesem Jahr breitete sich die Wanderungsbewegung bis in die Gegend von Wörrstadt (Undenheim, Schornsheim, Spiesheim und Wallertheim) aus.

Bis zur Jahrhundertmitte waren die meisten Dörfer des Raumes zwischen Oppenheim und Wörrstadt in unterschiedlicher Intensität an der Auswanderungswelle nach Wisconsin beteiligt. Auch eine Reihe von Bewohnern der Räume Ingelheim (Stadecken, Essenheim) und Alzey (Framersheim, Biebelnheim) schlossen sich ihnen an. Im Süden und Westen Rheinhessens wurde Wisconsin nur selten als Auswanderungsziel gewählt. Die dortige Bevölkerung bevorzugte andere Gegenden der Vereinigten Staaten. Eine Ausnahme bildete allenfalls Bechtheim: Zwischen 1847 und der Mitte der 1850er Jahre kamen rund 70 Einwohner der Gemeinde in den Raum zwischen Milwaukee und Sheboygan. Hierfür dürfte Adam Jung verantwortlich gewesen sein, der 1847 mit zwei weiteren Bechtheimern nach Washington County übersiedelte. Jung stammte aus dem 15 Kilometer nordwestlich von Bechtheim gelegenen Undenheim und war wohl in seinem Geburtsort auf Wisconsin hingewiesen worden.

Meistens reisten Personen im Familienverband nach Wisconsin. Der Anteil der Einzelauswanderer in den 1840er und 1850er Jahren läßt sich anhand der Quellen nicht genau beziffern, es ist jedoch anzunehmen, daß er etwas geringer war als bei rheinhessischen Emigranten allgemein. Die Auswanderung nach Wisconsin betraf vor allem ländliche Gebiete, junge Menschen, die allein nach Amerika gekommen waren, fanden hingegen häufig in den zahlreichen Städten des Ostens Arbeit. Sie waren meist nicht in der Lage, sogleich Land zu erwerben. Eine Schätzung von 75 Prozent Familienwanderern und 25 Prozent Alleinreisender dürfte der Realität nahekommen.

Die Familienwanderung erfolgte oft in Etappen. Mitunter wurden ein oder mehrere erwachsene Söhne von ihren Eltern auf Erkundungstour nach Amerika geschickt. So kamen Jakob und Karl Friedrich Best 1840 aus Mettenheim nach Milwaukee. Sie hatten dort einen erfolgreichen Start im Gewerbe ihres Vaters, der Essigfabrikation. Karl kehrte in seine Heimatgemeinde zurück, wo er seinen Verwandten von den guten Startbedingungen in Wisconsin berichtete. 1844 brachte er seine gesamte Familie nach Milwaukee, darunter seinen über 80jährigen Großvater. Ebenfalls drei Generationen waren an der Kettenwanderung der Familie Spindler aus Guntersblum beteiligt. Ein Sohn kam 1848 nach Sheboygan County, die Eltern folgten mit einigen Kindern ein Jahr später. 1850 ließ sich schließlich der älteste Sohn mit seiner Frau und zwei Kindern in ihrer Nähe nieder. Mitunter wurden ganze Verwandtenkreise aus Rheinhessen nach Wisconsin verpflanzt. Die Familien Schowalter, Jöckel, Weinheimer und Dautermann, die zwischen 1843 und 1845 im Town of Jackson siedelten, stammten alle von dem Leineweber Johannes Roth aus Wallertheim (1754-1811) ab.

Kettenwanderungen zogen sich mitunter auch über längere Zeiträume hin. 1843 wanderte die Familie Johann Diefenthäler aus Spiesheim nach Germantown aus. Einem Brief zufolge dachten sein Bruder und sein Schwager damals ebenfalls an einen Wegzug, und Diefenthälers Frau Katharina ermunterte sie mit den Worten: "Ich erwarte Euer [sic] mit grossem Verlangen, indem wir wünschen Euer Nachbar zu werden". Es vergingen jedoch noch vier Jahre, bis der erste Verwandte, der Abb. 19: Verwandtschaftsverhältnisse rheinhessischer Einwanderer in Jackson (siehe Datei dissquer.doc) Schuhmacher Jakob Hartmann, der Einladung nachkam. 1848 folgte Diefenthälers jüngerer Bruder Anton als nächstes Familienmitglied. Dieser wurde zur Triebfeder für die Übersiedlung weiterer Personen aus dem Bekanntenkreis. Anton verbrachte den Winter 1851/52 in Spiesheim und brachte auf der Rückreise seine Braut Elisabeth Gerlach, deren Bruder Wilhelm und weitere Personen nach Wisconsin mit.

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