Altruismus und Kooperation
 

Unter Altruismus versteht man eine Handlung, durch die der Fortpflanzungserfolg eines anderen Tieres auf Kosten des eigenen Überlebens oder der eigenen Fortpflanzung erhöht wird.

Altruistische Verhaltensweisen sind z.B. die Alarmrufe bei Vögeln oder Säugetieren. Sie können den Rufer gefährden, indem sie den Feind auf ihn aufmerksam machen, schützen jedoch die Empfänger des Rufes.

Extreme Formen altruistischen Verhaltens sind die Verteidigungsmaßnahmen von Bienen und Ameisen bei Angriffen auf das Nest. Dabei opfern sie oft das eigene Leben.

Bereits Darwin hat sich gefragt, wie die von den Geschlechtstieren abweichenden Verhaltensweisen der sterilen Kasten durch natürliche Selektion zu erklären sind und hat dieser Frage besonderes Gewicht verliehen, indem er sie als Prüfstein seiner Theorie bezeichnete. Er hat auch schon eine moderne Antwort gegeben, indem er (in Analogie zum Verfahren der Tierzüchter) die Merkmale als Familieneigenschaft ansah, die über die Familienmitglieder der natürlichen Selektion unterliegen. (Darwin, C. On the origin of species, Kapitel 8, Reclam Ausgabe S. 375).

Für die klassische Verhaltensforschung war die Erklärung altruistischen Verhaltens kein Problem, da dieses Verhalten der Arterhaltung dient und somit adaptiv ist. Diese Auffassung übersieht jedoch, daß die Selektion nach Darwin am Individuum angreift und somit erklärt werden muß, welchen Selektionsvorteil das (sterile) Individuum hat, das eine altruistische Verhaltensweise zeigt. Worin besteht dieser Selektionsvorteil und wie wird dieses Verhalten an die nächste Generation weitergegeben?
 

In theoretischen Arbeiten über die Evolution altruistischen Verhaltens bei sozialen Hymenopteren formulierte W.D. Hamilton (1964) die Hypothese, daß altruistisches Verhalten nur gegenüber solchen Individuen einer Gruppe gezeigt wird, die genetisch verwandt sind. Der Verlust des eigenen Fortpflanzungserfolgs wird kompensiert durch die Förderung des Fortpflanzungserfolgs verwandter Individuen.

Allgemein dient die Fortpflanzung der Weitergabe der eigenen Gene in die nächste Generation und erhöht die direkte Fitness.
Altruistisches Verhalten, das gegenüber Verwandten gezeigt wird, erhöht die Fitness eines Individuums ebenfalls, allerdings auf indirektem Wege.
Die Fitness f ist das Produkt aus der Anzahl der Nachkommen N und dem Verwandtschaftsgrad r:

        f = N x r

Der Verwandtschaftsgrad r gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit dem verwandte Individuen ein bestimmtes Allel gemeinsam haben.

Bei direkten Verwandten (Nachkommen) ist r:

    Eltern/Kind: r = 0,5
    Großeltern/Enkel: r = 0,25
    Urgroßeltern/Urenkel: r = 0,125

Bei indirekten Verwandten:

    Vollgeschwister: r = 0,5
    Halbgeschwister: r = 0,25
    Onkel/Neffe: r = 0,25
    Cousins: r = 0,125
    Eineiige Zwillinge: r = 1,0
 

Ein Individuum kann somit die eigene Fitness sowohl auf direktem Wege, als auch auf indirektem Wege erhöhen. Angenommen es hat 2 eigene Nachkommen, dann ist die direkte Fitness f1 = N1 x r = 2 x 0,5 = 1.
Hilft dieses Individuum z.B. seiner Schwester, 3 Nachkommen mehr aufzuziehen, als sie dies ohne seine Hilfe könnte, so ist
die indirekte Fitness f2 = N2 x r = 3 x 0,25 = 0,75.

Die Gesamtfitness dieses Individuums ist f1 + f2 = 1,75.

Bei sterilen Kasten ist nur indirekte Fitness möglich.

Die Gene, die zu altruistischem Verhalten führen, unterliegen der Verwandtenselektion.
 

Bei Bienen und Ameisen führt die haplo-diploide Geschlechtsbestimmung zu einem höheren Verwandtschaftsgrad zwischen den Arbeiterinnen (r = 0,75) als zwischen Arbeiterin und Königin (r = 0,5). Arbeiterinnen und Drohnen haben nur einen Verwandtschaftgrad von 0,25.
Da allerdings die Königinnen in der Regel von mehreren Männchen begattet werden,liegt der mittlere Verwandtschaftsgrad zwischen den Arbeiterinnen nur bei ca. 0,35. Arbeiterinnen scheinen sich jedoch bevorzugt um die Brut zu kümmern, die denselben Vater besitzt.

Für die Evolution der Eusozialität scheint der haplo-diploide Erbgang nicht entscheidend zu sein, da auch die diploiden Termiten eusozial sind.
Insgesamt sind alle Mitglieder der Ameisen-, Bienen- und Termitenstaaten miteinander verwandt.

Literatur:
Hamilton, W.D. (1964) The genetical evolution of social behaviour. I + II. J. Theor. Biol. 7, 1-52
 

Eusozialität kommt auch bei Säugetieren vor:

Extremes Beispiel: Afrikanische Nacktmulle (Heterocephalus glaber)
Nur 1 Paar hat Nachkommen; Kolonien bestehend aus bis zu 80 Tieren

Literatur:
Sherman, P.W., Jarvis, J.U.M. & Braude, S.H. (1992) Naked mole rats. Sci. Amer. 267 (2), 72-78.
 

Eine Sozialstruktur, bei der nur ein dominantes Paar in einer größeren Gruppe Nachkommen besitzt, gibt es bei Säugetieren häufiger. Sehr gut untersuchtes Beispiel: Zwergmungos.

Literatur:

Rasa, A.E. (1984) Die perfekte Familie. Leben und Sozialverhalten der afrikanischen Zwergmungos. DVA.
 

Kooperative Brutpflege ist ein weiteres Beispiel altruistischen Verhaltens. Gut untersucht sind die "Helfer" bei manchen Vogelarten.

Beim afrikanischen Graufischer zieht ein Brutpaar seine 4-5 Jungen entweder alleine oder mit Hilfe junger Männchen auf. Man unterscheiden "primäre" Helfer, die Nachkommen des Brutpaares sind, von "sekundären" Helfern, die mit dem Brutpaar nicht verwandt sind.
Die primären Helfer verfüttern fast ebensoviel Fische wie die Männchen des Brutpaares, die sekundären deutlich weniger.
Auswertungen der Anzahl der Nachkommen über mehrere Jahre hin zeigten, daß die primären Helfer im ersten Jahr eine indirekte Fitness von ca. 0,6 erreichen. Die sekundären Helfer haben keinen Fitnessgewinn. Im zweiten Jahr brüten die Helfer selbst. Hier sind die sekundären Helfer erfolgreicher als Männchen, die im ersten Jahr gar nicht geholfen haben. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß die Weibchen, deren Männchen im zweiten Jahr nicht mehr leben, solche Männchen auswählen, die sie bereits als Helfer kennengelernt haben.
Interessant ist auch, daß die Graufischer am Naivashasee deutlich weniger Helfer haben als am Victoriasee. Dies hängt vermutlich damit zusammen, daß der Fischfang am Victoriasee deutlich schwieriger ist als am Naivashasee.

Literatur:
Reyer, U. (1984) Investment and relatedness: a cost/benefit analysis of breeding and helping in the pied kingfisher (Ceryle rudis). Anim. Behav. 32, 1163-1178.
 

Gibt es gegenseitige Hilfe, die nicht gleichzeitig, sondern zeitlich nacheinander erfolgt, auch bei Tieren, die nicht eng miteinander verwandt sind?

Eines der wenigen Beispiele wird von der Vampir Fledermaus berichtet.
Erwachsene Vampire, die in zwei aufeinanderfolgenden Nächten keine Blutnahrung bekommen haben, verhungern. Weibchen einer Kolonie, die tagsüber mit dem dominanten und wenigen subdominanten Männchen in einer Baumhöhle sitzen, geben erfolglosen Weibchen einen Teil ihrer Blutnahrung ab. Nach einem spezifischen Bettelverhalten würgen sie einen Teil des Blutes hervor. Gefüttert werden die eigenen Nachkommen, aber auch nicht verwandte, aber immer dieselben, Weibchen ("Freundinnen"). In einer der folgenden Nächte kann der umgekehrte Fall eintreten.

Wichtig bei diesem System ist, daß es auf Gegenseitigkeit beruhen muß. Diese Art von Kooperation ist sehr anfällig ausgenützt zu werden. Axelrod und Hamilton haben Überlegungen und Modellrechnungen angestellt, um zu zeigen, ob diese Art von Kooperation eine evolutionsstabile Strategie darstellen kann. In Analogie zum "Prisoner's dilemma", das im Rahmen der mathematischen Spieltheorie behandelt wird, haben sie dieses Problem untersucht. Sie finden, daß sich Kooperation in der Evolution durchsetzen kann, wenn Individuen sehr häufig in Kontakt kommen. Die mathematisch erfolgreichste Strategie, um Ausnützung langfristig zu verhindern und kooperatives Verhalten günstiger werden zu lassen stellt "tit for tat" ("wie du mir, so ich dir") dar. Der erste Schritte besteht in Kooperation. Beim zweiten Durchgang reagiert der "Spieler" so wie sein Gegenspieler zuvor usw. Diese Strategie hat zwei Eigenschaften. Sie "vergilt" und "vergibt". Das Gedächtnis reicht nur einen Durchgang zurück.

Kooperation und Altruismus können auch beim Menschen als eine im Laufe der Evolution entstandene Grunddisposition des Verhaltens angesehen werden.

Literatur:
Axelrod, R. (1984) The evolution of co-operation. Penguin Books

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch:
Kropotkin, P. (1914) Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Ullstein 1975
Kropotkin weist in diesem 1902 in London erschienen Buch (Mutual aid. A factor of evolution) auf die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe hin und setzt damit ein Gegengewicht zur Betonung des "Kampfs um's Dasein" als alleinigem Faktor der Evolution. 

Das gesamte Gebiet wird in:
Krebs, J.R. & Davies, N.B. (1996) Einführung in die Verhaltensökologie. Blackwell Wissenschaft, Kap. 11,
behandelt.