Heinrich Heine: Nachgelesene Gedichte 1828 - 1844


Ein ungeheurer Kalkfelsen, gleich einem schönen, weißen Frauenbusen, erhebt sich über dem Meere, das verliebte Meer drängt sich an ihn heran, umspielt und bespritzt ihn neckend, und umschlingt ihn mit seinen gewaltigen Wellenarmen. Auf jenem weißen Felsen steht eine hohe Stadt, und dort, auf hohem Balkone, steht eine schöne Frau und spielt heitere Weisen auf der spanischen Gitarre.

Unter dem Balkone steht ein deutscher Dichter, und wie die holden Melodien zu ihm hinabsteigen, so akkompagniert sie seine Seele unwillkürlich, und es dringen hervor die Worte:

»O, daß ich wär das wilde Meer,
Und du der Felsen drüber her -«
Unser deutscher Dichter hat aber diese Worte nicht gesungen, sondern bloß gedacht. Erstens fehlte es ihm an Stimme, zweitens war er zu blöde. - Als er am selben Abend die schöne Frau längs der Meeresküste spazieren führte, da war er ganz und gar stumm.

Die Wellen drängten sich wilder an die weiße Felsenbrust und über dem Wasser warf der Mond seinen langen Strahl, wie eine goldene Brücke nach dem Lande der Verheißung.