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»Mathias Sandorf« von Jules Verne,

Erstes Kapitel: Die Brieftaube

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Triest, die Hauptstadt der Küstenregion, teilt sich in zwei einander kaum ähnliche Teilstädte: in eine neue, wohlhabende, die Theresienstadt, die sich geradlinig am Rande der Bucht erhebt, welcher der Mensch erst den festen Baugrund abringen musste, und in eine armselige Altstadt; die letztere ist verwinkelt gebaut und schmiegt sich zwischen den Corso, der sie von der ersteren trennt, und die Hänge der Karsthöhen, deren Gipfel eine malerische Zitadelle krönt.

In den Hafen von Triest ragt die Mole von San Carlo, an der in erster Linie die Handelsschiffe festmachen. Dort sammeln sich, oft in beunruhigender Menge, Gruppen von umherlungernden Gestalten, die weder Haus noch Herd kennen und deren Anzüge, Hosen, Jacken oder Westen keine Taschen brauchen, weil ihre Eigentümer niemals etwas besessen haben, was sie dort hinein hätten stecken können, und wohl auch nie etwas derartiges besitzen werden.

An jenem Tage aber, dem 18. Mai 1867, fielen dem einen oder anderen vielleicht doch zwei Menschen inmitten dieser Heimatlosen auf, die sich durch bessere Kleidung hervorhoben. Es erschien kaum wahrscheinlich, dass diese jemals wegen Mangel an Gulden oder Kreuzern in Verlegenheit gewesen waren, zumindest sprach ihr Aussehen zu ihren Gunsten. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, waren es Männer, die auf jeden einen vorteilhaften Eindruck machen mussten.

Der eine hieß Sarcany und bezeichnete sich als Tripolitaner, der andere, ein Sizilianer, wurde Zirone genannt. Nachdem die beiden die Mole wenigstens zehnmal auf und ab gegangen waren, blieben sie an ihrem äußersten Ende stehen und blickten zum Meer hinaus, das sich im Westen des Golfes von Triest bis zum Horizont erstreckt, als müsste dort plötzlich das Schiff auftauchen, welches ihnen ihr Glück bringen sollte!

»Wie spät ist es?« fragte Zirone in seiner italienischen Mundart, die sein Gefährte ebenso geläufig beherrschte wie die Sprachen der übrigen Länder rund um das Mittelmeer.

Sarcany antwortete nicht.

»Ach, ich Dummkopf!« rief der Sizilianer aus. »Es ist die Stunde, in der man den Hunger spürt, wenn man versäumt hat, sein Frühstück einzunehmen.«

In diesem Teile des österreichisch-ungarischen Reiches sind die deutschen, italienischen und slawischen Elemente so miteinander vermischt, dass das Zusammensein unserer beiden Akteure in keiner Weise auffallen konnte, obwohl sie sich offensichtlich als Fremde in jener Stadt aufhielten. Außerdem konnte man nicht ahnen, dass ihre Taschen leer waren, denn sie hielten sich ziemlich stolz in ihren Kapuzenmänteln, die ihnen bis zu den Stiefeln hinabreichten.

Sarcany war der Jüngere von ihnen, mittelgroß und gut gewachsen, mit eleganten Manieren und Bewegungen; er stand im fünfundzwanzigsten Lebensjahre. Er hieß einfach Sarcany, ohne einen weiteren Zusatz. Einen Taufnamen hatte er nicht. Und er war auch tatsächlich nicht getauft, da er gebürtiger Afrikaner war und aus Tripolis oder Tunis stammte. Obwohl seine Gesichtsfarbe von einem dunklen Braun war, glich er dennoch in der Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge eher einem Weißen als einem Neger.

Wenn jemals ein Gesicht täuschen konnte, so war dies bestimmt bei Sarcany der Fall. Nur ein sehr scharfer Beobachter hätte vielleicht aus diesem ebenmäßig geformten Gesichte, den schönen schwarzen Augen, der edlen Nase, dem harmonisch geformten, von einem Oberlippenbärtchen beschatteten Munde seine grenzenlose Verschlagenheit herauslesen können. [...] Er hatte sich allerdings als Jüngling eine gewisse praktische Bildung anzueignen oder vielmehr abzugucken gewusst. Wahrscheinlich dankte er sie dem Umstande, dass er in seinem bisherigen Leben gezwungen war, die Welt zu durchstreifen, mit Leuten jeden Standes zu verkehren und immer wieder einen Ausweg zu finden, und sei es auch nur, um sich einen weiteren Tag über Wasser zu halten. So hatte er auch, durch verschiedene Umstände bedingt, bereits vor einigen Jahren mit einem der reichsten Häuser Triests zu tun gehabt, dem Hause des Bankiers Silas Toronthal, dessen Name mit dem Verlaufe dieser Gechichte eng verbunden ist.

Auch Sarcanys Gefährte, der Italiener Zirone, war nur einer von jenen Menschen, die weder Glauben noch Gesetz kennen, ein Abenteurer, der zu allen Schandtaten bereit war und dem ersten besten, der gut zahlte, oder dem nächsten, der noch besser zahlte, zu Diensten stand, egal zu welchem Geschäfte. [...] Allerdings verbarg er seine Verschlagenheit unter einer übermäßigen Beredsamkeit. Er war dabei im übrigen eher fröhlich als traurig und ließ sich in demselben Maße gehen, wie sich sein Kumpan verschlossen zeigte.

An diesem Tage aber redete auch Zirone nur ungewöhnlich gedämpft. Das Essensproblem ließ ihm ersichtlich keine Ruhe. Am Abend vorher hatte Sarcany anlässlich eines Spielchens in einer wenig vornehmen Spelunke, bei dem das Glück sich allzu stiefmütterlich gezeigt hatte, seine Mittel völlig erschöpft. Nun wussten die beiden nicht, wie es weitergehen sollte. Sie konnten nur auf einen Zufall hoffen, und da die Vorsehung sich nicht anschickte, den beiden Lumpen auf dem Wege entlang der Mole zu begegnen, so entschlossen sie sich, ihr durch die Straßen der Neustadt entgegen zu wandern.

[...]

Sarcany und Zirone verließen also die Mole nachdem sie noch einen letzten Blick über den Golf bis zu dem Leuchtturme hatten schweifen lassen, der sich auf dem Vorgebirge von Santa Teresa erhebt; sie nahmen ihren Weg am Teatro Comunale vorbei am Park entlang und gelangten auf die Piazza Grande, wo sie eine Viertelstunde lang um das aus Steinen der benachbarten Karstberge gebaute Wasserbecken zu Füßen der Statue Karls VI. herumschlenderten.

Dann wendeten sich beide wieder nach links [...] Sie durchschritten das riesige Quadrat des Tergesteums genau zu der Zeit, als die Börse geschlossen wurde. [...] Dann gingen sie über den dreieckigen Platz, auf dem die Bronzestatue des Kaisers Leopold I. steht. [...] Nicht weit davon erstreckt sich der Corso, der das alte vom neuen Triest trennt. [...] Sie bogen in die erste Straße auf der linken Seite ein, gelangten zum Ufer des Kanals und überquerten diesen auf dem Ponto Rosso [...] Auf der Höhe der Kirche San Antonio wendete sich Sarcany unvermittelt nach rechts. Sein Kumpan folgte ihm ohne Widerspruch. Sie gelangten wieder auf den Corso und streiften von dort abenteuerlustig durch die Altstadt [...]

[...] Da auch hier in diesen kaum belebten Straßen der Zufall offensichtlich zögerte, sich zu ihnen zu gesellen, begannen sie, hintereinander die steilen Fußsteige hinaufzuklimmen, die fast bis zum Gipfel der Karstberge zur Terrasse der Kathedrale aufsteigen.

[...]

Am äußersten Ende der Treppen, die zur Terrasse führen, lag nahe der byzantinischen Kathedrale von San Giusto ein eingezäunter Platz, der einst ein Friedhof gewesen, jetzt aber zum Altertumsmuseum geworden war. Dort befanden sich keine Gräber mehr, nur noch Bruchstücke von Grabsteinen; unter den tief herabhängenden Zweigen schöner Bäume lagen römische Obelisken, mittelalterliche Gedenksäulen, Reste von Triglyphen und Metopen aus verschiedenen Abschnitten der Renaissance, verglaste Kuben, in denen noch Aschenreste erkennbar waren, durcheinander im Gras.

Das Tor, das zu dem besagten Platze führte, stand offen. Sarcany brauchte es nur zurückzustoßen. Er trat, gefolgt von Zirone, ein [...]

Sarcany ließ den Kopf sinken.

»Denk doch mal nach! So kann das doch nicht weitergehen! Wir sind am Ende«, sagte Zirone. [...]

In diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit von einem Vogel abgelenkt, der außerhalb des eingezäunten Platzes ängstlich umherflatterte. Es war eine Taube, deren ermüdete Flügel kaum noch zuckten und die immer weiter zu Boden sank.

Zirone fragte sich bestimmt nicht, zu welcher der 177 Gattungen von Tauben, die das ornithologische Verzeichnis heute kennt, dieser Vogel gehörte; er sah nur eines: dass es etwas Essbares war. Er verschlang ihn bereits mit seinen Blicken, nachdem er seinem Gefährten ein Handzeichen gegeben hatte.

Das Tier war offensichtlich am Ende seiner Kräfte angelangt. Es blieb schon an den Mauervorsprüngen der Kathedrale hängen, deren Fassade von einem hohen, viereckigen älteren Turme flankiert wird. Es konnte nicht mehr weiter und landete im Fallen auf dem Dach einer kleinen Nische, die das Bildnis des heiligen Justus schützt; die ermüdeten Füße gaben ihm dort aber keinen Halt, und so ließ es sich zum Kapitell einer antiken Säule hinuntergleiten, die in die Ecke zwischen dem Turm und der Fassade des Bauwerkes eingefügt war.

Während Sarcany, immer noch unbeweglich und schweigsam, die Taube kaum beachtete, ließ Zirone sie nicht aus dem Blick. Sie kam von Norden. Ein weiter Flug hatte diesen völlig erschöpften Zustand bewirkt. Offensichtlich führte sie ihr Instinkt zu einem noch weiter entfernten Ziele. Sie versuchte auch sogleich, weiter zu fliegen; aber der Bogen, den sie wie eine Flintenkugel beschrieb, zwang sie zu einer abermaligen Rast auf den niedrig hängenden Zweigen eines der Bäume des alten Friedhofes ...

Zirone war entschlossen, sich des Tieres zu bemächtigen, und fast schleichend näherte er sich vorsichtig dem Baume. Bald hatte er einen knorrigen Baumstumpf erreicht, von dem aus er mühelos zu einer Astgabel gelangen konnte. Hier kauerte er unbeweglich und stumm in der Haltung eines Hundes nieder, der einem über seinem Kopfe versteckten Wild auflauert.

Die Taube, die ihn nicht bemerkt hatte, wollte von neuem auffliegen; aber wieder ließen sie die Kräfte im Stich, und nur wenige Schritte vom Baum entfernt fiel sie zu Boden.

Mit einem Satz vorzuspringen, den Arm auszustrecken und den Vogel mit der Hand zu greifen, war für den Sizilianer das Werk eines Augenblicks. Es war nur folgerichtig, dass er sich sofort anschickte, dem armen Tiere das Lebenslicht auszublasen. Plötzlich aber hielt er inne; er stieß einen Ruf der Überraschung aus und kam dann eilig zu Sarcany gelaufen.

»Eine Brieftaube!« rief er.

»Na und? Eine, die ihre letzte Reise schon gemacht hat«, meinte Sarcany.

»Zweifellos«, entgegnete Zirone. »Umso schlimmer für diejenigen, für die das Billett, welches unter dem Flügel steckt, bestimmt war.«

»Ein Billett?« fuhr Sarcany auf. »Halt, Zirone, halt! Das ist einen Aufschub wert.«

Und er ergriff die Hand, die bereits um den Hals des Tieres gelegt war. Dann nahm er den kleinen Beutel, den Zirone bereits losgemacht hatte, öffnete ihn und zog ein chiffriertes Billett heraus.

Es enthielt nur achtzehn Wörter, die wie folgt auf drei senkrechte Kolonnen verteilt worden waren:

ihnalz  zaemen  ruiopn
arnuro  trvree  mtqssl
odxhnp  estlev  eeuart
aeeeil  ennios  noupvg
spesdr  erssur  ouitse
eedgnc  toeedt  ertuee

Von einem Ursprungs- und einem Bestimmungsort stand auf dem Zettel nichts. Würde es möglich sein, den Sinn dieser achtzehn, aus je einer gleichen Zahl von Buchstaben bestehenden Wörter ohne Kenntnis des dazugehörigen Schlüssels zu enträtseln? Das war sehr unwahrscheinlich, jedenfalls brauchte man dazu einen geschickten Dechiffrierer; es sah also gerade so aus, als ob das Billett sich als nicht entzifferbar erwies.

Sarcany stand vor dieser Geheimschrift, die ihm nichts sagte, zunächst sehr enttäuscht, dann sehr betroffen. Enthielt das Briefchen irgendeine wichtige Botschaft, vielleicht von kompromittierender Art? Man konnte, ja man musste es schon aus den Vorsichtsmaßnahmen schließen, die für den Fall getroffen waren, dass es in andere Hände als die des Empfängers geraten könnte und dann nicht gelesen werden sollte. Ferner zeigte die Zuhilfenahme des außergewöhnlichen Instinkts einer Brieftaube anstelle der Post oder des Telegraphen, dass es sich um eine Angelegenheit handelte, in der ein zuverlässiges Schweigen Bedingung war ...

»Vielleicht steckt in diesen Zeilen ein Geheimnis,« sagte Sarcany, »das uns Glück bringt.«

»Dann wäre also«, antwortete Zirone, »diese Taube die Inkarnation des Zufalls, dem wir heute vormittag lange genug nachgelaufen sind. Heiliges Blut! Und ich wollte sie erwürgen! ... Wie die Sache aber steht, ist es das wichtigste, den Boten zu haben, und nichts soll uns hindern, uns diesen Boten schmecken zu lassen.«

»Nur nichts übereilen, Zirone!« rief Sarcany und rettete so noch einmal dem Vogel das Leben. »Vielleicht besitzen wir mit dieser Taube ein Mittel, um Bekanntschaft mit dem Adressaten des Billetts zu machen, vorausgesetzt natürlich, dass er in Triest wohnt.«

»Und was dann? Jener wird dir doch nicht zu lesen gestatten, was in diesem Brief steht, Sarcany?«

»Nein, Zirone.«

»Und wir wissen ja auch nicht, woher er kommt.«

»Allerdings nicht. Wenn ich aber von zwei Leuten, die Briefe miteinander wechseln, einen kenne, so kann mir dies unter Umständen helfen, den zweiten herauszufinden. Daher glaube ich, dass wir dieses Tier nicht töten sollten, sondern im Gegenteil ihm seine Kräfte wiedergeben, damit es an sein Ziel gelangen kann.«

»Mit dem Billett?« fragte Zirone.

»Mit dem Billett, das ich aber zuvor genau abschreiben werde; die Abschrift werde ich so lange behalten, bis die Gelegenheit kommt, sie zu nutzen.«

Sarcany zog ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb den Text mit einem Bleistift ab. Da er wohl wusste, dass in den meisten Fällen die sichtbare Anordnung der Buchstaben von Kryptogrammen sorgfältig beachtet werden muss, so gab er sich Mühe, die Wortstellung genau zu kopieren. Als er fertig war, steckte er sein Notizbuch mit der Abschrift wieder ein; das Billett selber legte er wieder in das Säckchen und dieses befestigte er unter den Flügeln der Taube.

Zirone sah ihm zu; er konnte allerdings die Hoffnung auf das Glück nicht teilen, welches dieser Vorfall mit sich bringen sollte.

»Und was nun?« fragte er.

»Jetzt«, entgegnete Sarcany, »kümmere dich um den Boten.«

Die Taube war eher durch Hunger als durch Ermüdung erschöpft. Auch waren die Flügel unverletzt und weder gebrochen noch beschädigt; das bewies also, dass ihre augenblickliche Schwäche nicht durch die Kugel eines Jägers oder den Steinwurf eines nichtsnutzigen Jungen verursacht war. Sie hatte Hunger und Durst, sonst fehlte ihr nichts.

Daher suchte Zirone, bis er auf der Erde einige Körner fand, die das Tier gierig verschlang; mit fünf oder sechs Tropfen aus einer kleinen Pfütze, welche der letzte Regenschauer in einer Scherbe antiker Töpferarbeit zurückgelassen hatte, stillte es seinen Durst. Eine halbe Stunde nach ihrer Ergreifung war die gestärkte und erholte Taube somit imstande, ihren unterbrochenen Flug fortzusetzen.

»Wenn sie noch weit zu fliegen hat«, ließ sich Sarcany vernehmen, »wenn ihre Bestimmung sie noch über Triest hinausführt, so kann es uns egal sein, ob sie unterwegs eingeht; wir würden sie ja doch bald aus den Augen verlieren und könnten ihr nicht folgen. Wenn sie aber zu einem Haus in Triest gehört, dort erwartet wird und sich dort niederlassen muss, so ist sie erholt genug, um es zu erreichen, denn sie hat bis dahin nur ein, zwei Minuten zu fliegen.«

»Du hast völlig recht«, antwortete der Sizilianer. »Aber werden wir auch bis dort, wo sie ihren Schlag hat, sehen können, selbst wenn sie nur bis Triest und nicht weiter fliegt?«

»Wir wollen wenigstens tun, was wir können«, meinte Sarcany gelassen.

Es geschah nun folgendes:

Die aus zwei alten romanischen Kirchen bestehende Kathedrale, von denen die eine der heiligen Jungfrau, die andere dem Schutzpatron von Triest, dem heiligen Justus, geweiht ist, wird von einem hohen Turm gestützt, der sich neben jenem Teil der Fassade mit der großen Rosette erhebt; unterhalb dieser befindet sich das Portal des Bauwerkes. Dieser Turm beherrscht das Plateau des Karstes, und die Stadt breitet sich unter ihm wie eine als Relief gearbeitete Karte aus. Von diesem hochgelegenen Punkte aus überblickt man mit Leichtigkeit alle ihre Dächer, von den Abhängen des Hügels bis zum Ufer des Golfes. Es war also durchaus möglich, den Flug der Taube zu verfolgen, wenn man sie von der Spitze jenes Turmes aus fliegen ließ, und man würde zweifellos das Haus, auf dem sie dann landen würde, gut erkennen, natürlich vorausgesetzt, dass ihr Ziel Triest und nicht irgendein anderer Ort auf der Istrischen Halbinsel war.

Der Versuch musste gelingen. Wenigstens war er eine Probe wert. Vorläufig war nichts weiter zu tun, als dem Tiere wieder die Freiheit zu schenken.

Sarcany und Zirone verließen also den alten Friedhof, überquerten den kleinen Platz vor der Kirche und wendeten sich dem Turme zu. Eine der Spitzbogentüren stand offen - zufällig diejenige, die unter dem senkrecht unterhalb der Nische des heiligen Justus befindlichen antiken Traufdache liegt. Die beiden Männer traten ein und begannen, die rohen Stufen der Wendeltreppe hinaufzusteigen, die zu dem oberen Stockwerke führt.

Sie brauchten zwei bis drei Minuten, ehe sie den Ausguck erreichten, der sich direkt unter dem Dache des Turmes auftut, welcher keine äußere Galerie besitzt. Hier oben sind auf jeder Seite des Turmes zwei Fenster angebracht; sie ermöglichen dem Besucher, den Blick nach allen Seiten schweifen zu lassen, so weit der zweifache Horizont des Meeres und des Gebirges es gestattet.

Sarcany und Zirone stellten sich an demjenigen Fenster auf, welches in Richtung Nordwest, direkt nach Triest gerichtet, gelegen ist.

Die Uhr in dem alten Schlosse aus dem sechzehnten Jahrhundert, das hinter der Kathedrale den Karst krönt, schlug gerade vier Uhr. Es war also noch heller Tag. Umgeben von klarer Luft sank die Sonne langsam zum Adriatischen Meer hinab, und die meisten Häuser der Stadt wurden auf der dem Turm zugekehrten Seite von ihren Strahlen übergossen.

Die Umstände waren also so günstig wie nur möglich.

Sarcany nahm die Taube zwischen seine Hände, liebkoste sie edelmütig noch einmal und warf sie dann in die Luft.

Sie bewegte die Flügel, doch ließ sie sich zuerst pfeilschnell hinabsinken, wohl aus Furcht, ein zu jäher Aufstieg könnte ihrem luftigen Botendienst ein Ende machen.

Dem ziemlich aufgeregten Sizilianer entfuhr ein Ausruf der Enttäuschung.

»Ha, sie steigt wieder höher!« rief Sarcany.

Und in der Tat, die Taube gewann in der unteren Luftschicht langsam ihr Gleichgewicht wieder; sie flog einen Bogen und wandte sich in schräger Richtung dem nordwestlichen Teile der Stadt zu.

Sarcany und Zirone ließen sie nicht aus den Augen.

Der Flug des Tieres, welches seinem wunderbaren Instinkte folgte, zeigte keine Unsicherheit. Man merkte, dass sie dorthin flog, wohin sie fliegen musste, dorthin, wo sie schon vor einer Stunde angekommen wäre, wäre sie nicht unter den Bäumen des alten Friedhofs zu einem Aufenthalt gezwungen gewesen.

Sarcany und sein Kumpan beobachteten die Taube mit einer fast ängstlichen Aufmerksamkeit. Sie fragten sich, ob sie wohl über die Mauern der Stadt hinaus fliegen würde, in welchem Falle ihr Plan zu nichts zerronnen wäre.

Sie hatten Glück.

»Ich sehe sie noch immer!« rief Zirone, der außerordentlich scharfe Augen besaß.

»Wir müssen besonders aufpassen«, antwortete Sarcany, »wo sie sich niederlässt, um danach die Angelegenheit erkunden zu können.«

Nachdem die Taube ein paar Minuten geflogen war, ließ sie sich auf einem Haus nieder, dessen spitzer Giebel die anderen überragte. Es lag inmitten einer Baumgruppe in jenem Teil der Stadt, in dem sich das Krankenhaus und der öffentliche Park befinden. Dort schlüpfte sie, wie man deutlich erkennen konnte, in ein Dachfenster, über dem sich eine schmiedeeiserne Wetterfahne drehte, die gewiss von Quentin Messys geschaffen worden wäre, wenn Triest in Flandern gelegen wäre.

Damit hatte man einen allgemeinen Überblick gewonnen, und wenn man die leicht erkennbare Wetterfahne zum Anhaltspunkt für die Suche nahm, konnte es nicht sehr schwer sein, den Giebel zu finden, zu welchem das besagte Dachfenster gehörte, und somit das Haus, in dem der Empfänger des Billetts wohnte.

Sarcany und Zirone stiegen schnell hinunter; sie gingen über die Abhänge des Karstes und ein paar kurze Straßen entlang, auf denen sie zur Piazza della Legna gelangten. Dort mussten sie sich neu orientieren, um die Häusergruppen auffinden zu können, aus denen der östliche Stadtteil besteht.

Als sie an dem Zusammenflusse der beiden größten Verkehrsadern der Stadt angelangt waren, der Corsa Stadion, die zum öffentlichen Park führt, und dem Acquedotto, einer prachtvollen Allee, durch die man zu der großen Bierschänke des Boschetto gelangt, waren unsere beiden Abenteurer einen Augenblick im Zweifel, welche Richtung sie einschlagen sollten. Mussten sie sich nach links oder rechts wenden? Instinktiv schlugen sie die Richtung nach rechts ein, in der Absicht, die Häuser der Allee der Reihe nach anzuschauen, deren Wipfel, wie sie gesehen hatten, die Wetterfahne überragten.

Sie gingen also den Acquedotto entlang und musterten dabei genau die einzelnen Häuser und Giebel, ohne allerdings das Gesuchte finden zu können. So gelangten sie bis an das Ende der Allee.

»Da ist sie!« rief endlich Zirone.

Dabei zeigte er auf eine Wetterfahne, welche der Seewind um ihre eiserne Stange drehte; unterhalb davon war ein Dachfenster zu sehen, durch das einige Tauben herein- und herausschlüpften.

Nun war also kein Irrtum mehr möglich. Dort war es gewesen, wo die Brieftaube gelandet war.

Das bescheiden wirkende Haus war hinter dem Baumschmucke des Acquedotto verborgen, der dessen Anziehungspunkt bildet.

Sarcany holte in den benachbarten Läden ein paar Erkundigungen ein, und bald hatte er gehört, was er wissen wollte.

Das Haus gehörte dem Grafen Ladislaus Zathmar, der dort schon seit einer Reihe von Jahren wohnte.

[...]


Übersetzung: Klaus Pommerening, 6. April 2000.