Die Episode aus Mathias Sandorf, in der das Kryptogramm behandelt wird, ist zweifellos spannend geschrieben und zeigt, dass Jules Verne mit neuesten Entwicklungen vertraut war. Der österreichische Oberst Eduard Fleißner von Wostrowitz hatte 1881 sein Handbuch der Kryptographie veröffentlicht, in dem das Drehraster beschrieben ist; dieses Buch wird übrigens auch im »Schwejk« von Hašek erwähnt. Drehraster wurden allerdings auch schon im 18. Jahrhundert verwendet (nach F. L. Bauer); die Erfindung wird Cardano (1501-1576) zugeschrieben.
Wie es bei Jules Verne allerdings oft vorkommt, schert er sich auch hier nicht viel um Plausibilitäten oder wissenschaftliche Korrektheit. Wozu dieser Aufwand für die Zustellung einer Nachricht, deren Inhalt sich auf »Wir sind bereit« reduzieren läßt? - ein einziges Bit an Information! Wie schafft Sandorf in drei Tagen die Reise von Triest nach Siebenbürgen und zurück? Dass ungarische Verschwörer ihre Nachrichten vor der Verschlüsselung ins Französische übersetzen, ist eine ziemlich unglaubhafte Annahme. Allerdings wäre die Entschlüsselung eines ungarischen Kryptogramms für französische Leser kaum so spannend darstellbar gewesen, ganz abgesehen davon, dass Sarcany und Toronthal daran wohl auch mangels Sprachkenntnissen gescheitert wären. (Auch bei der Wahl fremdländischer Namen hatte Verne, ähnlich wie Karl May, nicht immer eine glückliche Hand - »Sandor« würde gleich viel ungarischer aussehen als »Sandorf«.) Wie einfach es ist, ein Drehraster zu konstruieren, wenn man den Trick kennt, erwähnt Verne mit keinem Wort; er bezeichnet statt dessen die Anordnung der Ausschnitte als »genial ausgetüftelt«.
Jules Verne irrt aber auch mit der Behauptung, die Drehraster-Chiffre sei unbrechbar. Sie ist, wie andere Transpositionschiffren auch, durch multiples Anagrammieren vergleichsweise leicht zu brechen. Das wird im folgenden vorgeführt.
Was Sarcany aus dem Billett abgeschrieben hatte, war der Geheimtext
IHNALZ ARNURO ODXHNP AEEEIL SPESDR EEDGNC ZAEMEN TRVREE ESTLEV ENNIOS ERSSUR TOEEDT RUIOPN MTQSSL EEUART NOUPVG OUITSE ERTUEE
Der Koinzidenzindex = 0.080 spricht für eine Transpostition, die Sprache könnte eine romanische sein, da für diese recht hohe Koinzidenzindezes um 0.08 durchaus üblich sind (französisch 0.0778, italienisch 0.738, spanisch 0.0775, portugiesisch 0.0791).
Weitere Klarheit bringt die Auszählung der Buchstaben:
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z 5 0 1 4 22 0 2 2 5 0 0 4 2 9 7 4 1 10 9 8 7 3 0 1 0 2
Die herausragende Häufigkeit des E gegenüber den anderen Vokalen spricht für Französisch; auch sonst passt die Verteilung hierfür vorzüglich. Auf keinen Fall ist der Klartext in Ungarisch verfasst.
Die Anordnung des Geheimtextes lässt eine Transposition mit einem 6-mal-6-Raster vermuten, wie es ja Sarcany auch glaubte.
Als Arbeitshypothese kann man also getrost davon ausgehen, dass das Kryptogramm durch Rastertransposition aus einem französischen Text entstanden ist.
Die dritte Zeile enthält ein Q als neunten Buchstaben. Diesem folgt mit großer - wenn im Französischen auch nicht hundertprozentiger - Wahrscheinlichkeit ein U. Davon gibt es im Kryptogramm in der letzten Zeile genau fünf.
Da die drei Kryptogrammzeilen durch die gleiche Permutation entstanden sind, erhalten wir für die beiden Nachbarspalten die folgenden fünf Möglichkeiten:
NH NX NE NP NG VA VT VN VR VE QU QU QU QU QU
Als Fortsetzung des QU ist E oder I am wahrscheinlichsten. Hier gibt es acht Möglichkeiten:
NGN NGO NGD NGE NGR NGE NGN NGC VEE VEE VES VES VER VET VED VET QUI QUE QUE QUI QUE QUE QUE QUE
Nun legt der Kontext des Kryptogramms das wahrscheinliche Wort »Ungarn«, auf französisch »HONGRIE« nahe. Da würde ja das Tripel NGR passen ...
Probieren wir's einfach aus! Die erste Kryptogrammzeile enthält jeweils genau zwei H und zwei O. Das führt auf die vier möglichen Anordnungen
HONGR HONGR HONGR HONGR AEVER AEVER LEVER LEVER ULQUE UEQUE ALQUE AEQUE
Probieren wir die Fortsetzung durch eins der beiden I:
HONGRI HONGRI LEVERZ LEVERO ALQUER ALQUEV
HONGRIE HONGRIE HONGRIE HONGRIE HONGRIE HONGRIE LEVERON LEVERON LEVEROI LEVEROS LEVEROT LEVEROO ALQUEVO ALQUEVU ALQUEVP ALQUEVI ALQUEVA ALQUEVR
In der zweiten Zeile könnte, unter der Annahme, dass von einem Aufstand die Rede ist, das wahrscheinliche Wort »se leveront« stehen. Die Spur wird langsam heiss, auch wenn man immer bedenken muss, dass Anagramme sehr viele falsche Fährten bieten.
Zunächst gibt es vier Auswahlen für das T:
HONGRIEA HONGRIEX HONGRIEE HONGRIEC LEVERONT LEVERONT LEVERONT LEVERONT ALQUEVOM ALQUEVOU ALQUEVOE ALQUEVOE HONGRIEA HONGRIEX HONGRIEE HONGRIEC LEVERONT LEVERONT LEVERONT LEVERONT ALQUEVUM ALQUEVUU ALQUEVUE ALQUEVUE
Probieren wir zunächst das VOUS; für das S haben wir drei mögliche Spalten:
HONGRIEXU HONGRIEXR HONGRIEXD LEVERONTR LEVERONTE LEVERONTU ALQUEVOUS ALQUEVOUS ALQUEVOUS
Von den zehn E in der zweiten Zeile sind zwei bereits verbraucht, acht noch übrig. Außerdem gibt es vier S. Ein Haufen Arbeit liegt vor uns. Probieren wir erst die acht E:
NHONGRIEX LHONGRIEX RHONGRIEX OHONGRIEX ELEVERONT ELEVERONT ELEVERONT ELEVERONT IALQUEVOU PALQUEVOU SALQUEVOU EALQUEVOU NHONGRIEX AHONGRIEX SHONGRIEX DHONGRIEX ELEVERONT ELEVERONT ELEVERONT ELEVERONT RALQUEVOU NALQUEVOU OALQUEVOU TALQUEVOU
Die Möglichkeiten 1, 3, 5 und 6 müssen als erste weiter verfolgt werden.
DNHONGRIEX LNHONGRIEX ENHONGRIEX ENHONGRIEX SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT EIALQUEVOU GIALQUEVOU IIALQUEVOU TIALQUEVOU DRHONGRIEX LRHONGRIEX ERHONGRIEX ERHONGRIEX SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT ESALQUEVOU GSALQUEVOU ISALQUEVOU TSALQUEVOU DNHONGRIEX LNHONGRIEX ENHONGRIEX ENHONGRIEX SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT ERALQUEVOU GRALQUEVOU IRALQUEVOU TRALQUEVOU DAHONGRIEX LAHONGRIEX EAHONGRIEX EAHONGRIEX SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT SELEVERONT ENALQUEVOU GNALQUEVOU INALQUEVOU TNALQUEVOU
LAHONGRIEX SELEVERONT GNALQUEVOU
Um mögliche Fortsetzungen zu finden, ist nur die dritte Zeile geeignet. Sie ist fast zwangsläufig zu SIGNAL QUE VOUS zu ergänzen.
Es gibt zwei Möglichkeiten für das I:
NLAHONGRIEX ELAHONGRIEX ESELEVERONT SSELEVERONT IGNALQUEVOU IGNALQUEVOU
UNLAHONGRIEX RNLAHONGRIEX DNLAHONGRIEX RESELEVERONT EESELEVERONT UESELEVERONT SIGNALQUEVOU SIGNALQUEVOU SIGNALQUEVOU UELAHONGRIEX RELAHONGRIEX DELAHONGRIEX RSSELEVERONT ESSELEVERONT USSELEVERONT SIGNALQUEVOU SIGNALQUEVOU SIGNALQUEVOU
DELAHONGRIEXU DELAHONGRIEXR USSELEVERONTR USSELEVERONTE SIGNALQUEVOUS SIGNALQUEVOUS
Probieren wir's; ein O und drei T stehen noch zur Verfügung:
AEDELAHONGRIEXU EEDELAHONGRIEXU CEDELAHONGRIEXU TOUSSELEVERONTR TOUSSELEVERONTR TOUSSELEVERONTR MRSIGNALQUEVOUS ARSIGNALQUEVOUS ERSIGNALQUEVOUS AEDELAHONGRIEXR EEDELAHONGRIEXR CEDELAHONGRIEXR TOUSSELEVERONTE TOUSSELEVERONTE TOUSSELEVERONTE MRSIGNALQUEVOUS ARSIGNALQUEVOUS ERSIGNALQUEVOUS
Was ist denn von den ursprünglichen Spalten noch übrig, wenn wir uns zunächst für die beiden Fälle ganz rechts entscheiden? Dies:
IHNALZ AR(UR) ODNP EE SPS EDN ZAEMEN TR(RE) ESEV NI ERS TED RUIOPN MT(SS) EERT UP OUT ATE
Beim Streichen der verbrauchten Spalten fällt auf, dass die ersten neun in der Reihenfolge von rechts nach links aufgetreten waren. Dann geht es wieder rechts los, und von da an wieder stets nach links für die übrigen sechs Spalten.
Sollte dahinter eine Systematik stecken? Dann würde man für die weitere Fortsetzung am vorderen Ende die übrigen Spalten von vorne her durchprobieren. Die erste, die passt, ist die dritte; das ergibt in den beiden zur Zeit betrachteten Fällen:
NCEDELAHONGRIEXU NCEDELAHONGRIEXR ETOUSSELEVERONTR ETOUSSELEVERONTE IERSIGNALQUEVOUS IERSIGNALQUEVOUS
Passt das mit der Theorie zusammen, dass die Spalten am vorderen Ende aus den noch freien Spalten von links nach rechts auszuwählen sind? Ja!
ENDANCEDELAHONGRIEXU ENDANCEDELAHONGRIEXR IESTETOUSSELEVERONTR IESTETOUSSELEVERONTE PREMIERSIGNALQUEVOUS PREMIERSIGNALQUEVOUS
Weitere Assoziationen drängen sich jetzt auf: TRIESTE und (IN)DEPENDANCE. Das passt vorzüglich:
DEPENDANCEDELAHONGRIEXU DEPENDANCEDELAHONGRIEXR ETRIESTETOUSSELEVERONTR ETRIESTETOUSSELEVERONTE TAUPREMIERSIGNALQUEVOUS TAUPREMIERSIGNALQUEVOUS
Da wir jetzt acht Spalten von links her ausgewählt haben und rechts davon nur noch eine übrig ist, nehmen wir diese - sie passt:
NDEPENDANCEDELAHONGRIEXU NDEPENDANCEDELAHONGRIEXR DETRIESTETOUSSELEVERONTR DETRIESTETOUSSELEVERONTE ETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS ETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS
Nun geht es wieder links los, und frei sind noch die Spalten
IHALZ R(UR) OP E SS ZAMEN R(RE) EV N ES RUOPN T(SS) ET U OT
INDEPENDANCEDELAHONGRIEXU INDEPENDANCEDELAHONGRIEXR ZDETRIESTETOUSSELEVERONTR ZDETRIESTETOUSSELEVERONTE RETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS RETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS
Die nächste die passt, ergibt
LINDEPENDANCEDELAHONGRIEXU LINDEPENDANCEDELAHONGRIEXR EZDETRIESTETOUSSELEVERONTR EZDETRIESTETOUSSELEVERONTE PRETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS PRETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS
Dann passt als nächstes:
RLINDEPENDANCEDELAHONGRIEXU RLINDEPENDANCEDELAHONGRIEXR REZDETRIESTETOUSSELEVERONTR REZDETRIESTETOUSSELEVERONTE TPRETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS TPRETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS
URLINDEPENDANCEDELAHONGRIEXR RREZDETRIESTETOUSSELEVERONTE STPRETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS
Aber das X, das X!? Na gut, weiter geht's nach vorn:
SSEPOURLINDEPENDANCEDELAHONGRIEXR SENVERREZDETRIESTETOUSSELEVERONTE TOUTESTPRETAUPREMIERSIGNALQUEVOUS
Nun sind noch übrig:
HAZ AMN UON
Links passen sie nicht in der umgekehrten Reihenfolge, wohl aber am rechten Ende, von rechts nach links aufgebraucht:
SSEPOURLINDEPENDANCEDELAHONGRIEXRZAH SENVERREZDETRIESTETOUSSELEVERONTENMA TOUTESTPRETAUPREMIERSIGNALQUEVOUSNOU
Nach einigem Hinstarren sieht man, dass man die Zeilen von unten nach oben lesen muss, und dass am Ende die unverständliche Buchstabengruppe XRZAH steht - vielleicht zufällige Füllbuchstaben oder, wie auch Toronthal vermutete, ein Pseudonym des Verfassers.
Dass die Spalten des Kryptogramms stets von hinten nach vorne in der Lösung verbraucht wurden, hätte uns übrigens auch schon recht bald verraten, dass der Klartext von hinten nach vorne verschlüsselt wurde.
Die Lösung heisst also:
TOUTESTPR ETAUPREMI ERSIGNALQ UEVOUSNOU SENVERREZ DETRIESTE TOUSSELEV ERONTENMA SSEPOURLI NDEPENDAN CEDELAHON GRIEXRZAH
Aus der fertigen Lösung lässt sich übrigens auch das zugehörige Raster gewinnen.
Die folgenden Ingredienzien haben unsere Lösung ausgemacht:
Die letzte Bemerkung berührt einen wesentlichen Punkt der Kryptoanalyse überhaupt: Oft führen die Beobachtungen des Kryptoanalytikers nicht zu zwingenden Schlüssen, sondern nur zu verschiedener Gewichtung im Sinne der Wahrscheinlichkeit für mehrere mögliche Fortsetzungen. Dann ist es sinnvoll, zunächst die plausibelste Möglichkeit weiter zu verfolgen. Führt sie in die Irre, geht man zurück und versucht die nächstbeste Möglichkeit. Auf diese Weise erhält man eine Strategie, den Entscheidungsbaum mit durchschnittlich bestem Erfolg zu durchlaufen.