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Kryptologie

Geheimschriften bei Karl May

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Eine bedeutende Rolle spielen Geheimschriften bei den beiden großen Meistern der Trivialliteratur im dritten Drittel des 19. Jahrhunderts -- Jules Verne und Karl May. So unterschiedlich diese beiden Schriftsteller waren, so unterschiedlich behandelten sie auch kryptographische Themen. Vernes Helden oder Schurken verwenden raffinierte Chiffren nach dem Stand der Wissenschaft, mit dem Verne offensichtlich zumindest ungefähr vertraut war. Er erklärt sie ausführlich und lässt die Kryptogramme von seinen Helden unter sehr spannend geschilderten geistigen Qualen lösen [Die Reise zum Mittelpunkt der Erde, Die Jangada, Mathias Sandorf]. Die hauptsächlichen Schwächen dieser Episoden sind einmal die Absurdität der Anwendung -- würde ein brasilianischer Waldschrat wirklich eine polyalphabetische Chiffre verwenden, noch dazu mit französischem Klartext? -- sowie zum Zweiten Unstimmigkeiten bei der Auflösung -- kann man etwa die Buchstaben eines Geheimtextes auf der Rückseite des Papiers, wo sie allenfalls in Spiegelschrift durchscheinen, wirklich bei flüchtigem Hinsehen flüssig lesen?

Karl May ist da viel bescheidener, aber auch realistischer. Die verwendeten Chiffren sind der Situation und dem geistigen Niveau ihrer Anwender völlig angemessen, die Auflösung beruht auf genauem Hinsehen und gesundem Menschenverstand und setzt keine übernatürlichen Fähigkeiten voraus -- im Gegensatz zu dem, was wir von Karl May aus anderen Zusammenhängen gewöhnt sind. Kryptogramme und oft auch Schlüssel werden allerdings in der typischen Weise gewonnen: durch Anschleichen, Belauschen, Durchsuchen von Gefangenen ...

Geheimschriften kommen bei Karl May in zwei typischen Situationen vor:

Zusammenfassend kann man sagen, dass bei Karl May explizite Beschreibungen von Geheimschriften nur für ganz einfache Fälle gegeben werden, schwierigere Chiffren werden ohne Einzelheiten angedeutet. Für die Kryptologie geben seine Romane, im Gegensatz zu Jules Verne folglich wenig her, eine echte Kryptoanalyse kommt nicht vor. Die Faszination, die von Geheimschriften und deren Entzifferung ausgeht, vermag Karl May aber durchaus zu vermitteln. Wenn man will, kann man auch das von Karl May häufig beschriebene Spurenlesen als kryptoanalytische Tätigkeit auffassen.

In folgenden Werken von Karl May kommen Geheimschriften vor -- die Liste ist sicher noch unvollständig. Die Verweise zu den Volltexten sind Links zum Server der Karl-May-Gesellschaft; die kryptologisch relevanten Auszüge habe ich in der Rechtschreibung modernisiert und offensichtliche Druckfehler berichtigt.

In Scepter und Hammer haben wir es mit einer Verschwörung zu tun, die offenbar einen diplomatischen Code verwendet; wir erfahren nur, dass im Schlüssel »Ziffer um Ziffer, Buchstaben um Buchstaben und Zeichen um Zeichen« vorkommt. Der Held des Romans, Max Brandauer, entdeckt den Schlüssel zufällig in der Bibliothek des Hauptverschwörers, des Herzogs von Raumburg, schreibt ihn ab und verwendet ihn später, um entsprechende geheime Dokumente zu lesen. Außerdem verwenden die Verschwörer eine weitere Chiffre, die als »U-Sprache in Charakteren« bezeichnet, aber auch nur ungenau beschrieben wird. Diese wird von Max Brandauer gebrochen.

Auch in Der verlorene Sohn kommen zwei Geheimschriften vor. Die eine, die von den Schmugglern verwendet wird, ist eine einfache Substitution, bei der die Buchstaben A bis Z in umgekehrter Reihenfolge durch die Zahlen 1 bis 25 ersetzt werden; sie wird vom Helden des Romans, der an dieser Stelle unter dem Pseudonym Arndt auftritt, gebrochen. Die andere Geheimschrift wird nur erwähnt und nicht näher beschrieben.

In Durch die Wüste versucht ein gefangen genommener Schurke einen Brief zu verschlingen. Die geretteten Fetzen enthalten eine Geheimschrift, die aber nicht erläutert oder dechiffriert wird; sie spielt im weiteren Verlauf des Romans auch keine Rolle mehr.

In Von Bagdad nach Stambul fällt dem Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi ein Brief von Schurken in die Hand. Er ist in arabischer Schrift rückwärts, also von links nach rechts, geschrieben und außerdem in einem Gemisch von Rumänisch, Serbisch und Türkisch verfasst, was dem Helden mit seinen universellen Sprachkenntnissen natürlich keine Probleme bereitet. Allerdings deutet er zunächst einige undeutlich geschriebene Schriftzeichen falsch; der Ort Karanorman-Chan, das Hauptquartier des Schut, wird später, in Durch das Land der Skipetaren, als Karanirwan-Chan richtig entziffert. Auch in Im Lande des Mahdi kommt eine rückwärts geschriebene arabische Nachricht vor.

In Unter der Windhose entziffert der Ich-Erzähler ein sprechendes Leder, das in Form einer Bildergeschichte von einem Raubmord an Indianern handelt. In Old Surehand, in den die Geschichte Unter der Windhose als Episode aufgenommen wurde, kommt noch ein weiteres sprechendes Leder vor. Hier werden Tage durch die Namen von Heiligen verschlüsselt; Old Shatterhand gelingt die Enträtselung. In der ersten Episode von Im Reich des silbernen Löwen, die in Nordamerika spielt, zwingt Old Shatterhand einen gefangenen Indianer mangels Farbe, um das Leder einzufärben, ein ,sprechendes Papier´ anzufertigen.

In Der Sendador spielen zwei Quipus [Karl May schreibt »Kipus«] eine zentrale Rolle, aus denen die Lage eines Inka-Schatzes hervorgehen soll. Der Ich-Erzähler hält die Entzifferung zwar für sehr schwer, traut sie sich letztlich aber doch zu. Aus der Verlegenheit, die dazu nötigen Kenntnisse dem Leser beschreiben zu müssen, rettet sich der Autor, indem er die Quipus rechtzeitig auf Nimmerwiedersehen im Salzsee verschwinden lässt.

In Der Schatz im Silbersee entziffert Winnetou Rauchzeichen feindlicher Indianer, ohne dass wir genaueres erfahren.

In Im Reiche des silbernen Löwen, Teil I, bekommt Kara ben Nemsi ein Pergament in die Hand, auf dem unter anderem Striche zu sehen sind, die sich später als Keilschriftzeichen herausstellen. Der Held verblüfft uns mit einem fotografischen Gedächtnis und der Fähigkeit, die nur vor seinem geistigen Auge sichtbaren, von unkundiger Hand abgekrakelten Keilschriftzeichen zu lesen. Später, in Teil II, dienen sie ihm dazu, den Verschlußstein einer Maueröffnung zu identifizieren.

In Im Reiche des silbernen Löwen, Teil IV, benutzen die Verschwörer, die Sillan, eine Verschiebechiffre à la Caesar, wobei das Alphabet um sieben Zeichen verschoben wird. Auch hier gibt es keine eigentliche Kryptoanalyse, sondern es wird der vorher gefundene Schlüssel verwendet.

In Ardistan und Dschinnistan, Teil II - Der Mir von Dschinnistan, sind die Türen rund um den Maha-Lama-See mit geheimnisvollen arabischen und chinesischen Schriftzeichen gekennzeichnet, aus denen man den jeweils richtigen Schlüssel erkennen kann.


Autor: Klaus Pommerening, 18. Oktober 2000; letzte Änderung: 17. November 2000.

E-Mail an Pommerening@imsd.uni-mainz.de.