Kommentar zu der kryptologischen Episode von

Jules Verne: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde

Klaus Pommerening


Die Reise zum Mittelpunkt der Erde ist der erste Roman nach Poes Goldkäfer, in dem Kryptographie eine wichtige Rolle spielt. Wie von Verne nicht anders zu erwarten, ist die Episode recht spannend, und die Akteure, obwohl Hanseaten, haben ein echt französisches Temperament - sie agieren wie Louis de Funès, schreien, springen herum und fallen ihren Mitmenschen erbarmungslos auf die Nerven. Und - ebenfalls typisch Jules Verne - die Geschichte ist bei näherer Betrachtung voller Unstimmigkeiten: Warum sollte ein Gelehrter einen lateinischen Text in Runen verfassen? Natürlich nur, um die Geschichte geheimnisvoller beginnen zu lassen. (Oder, worauf mich Harald Sewerin hingewiesen hat, weil er wegen Ketzerei verfolgt wurde und den Text daher zusätzlich verschleiern wollte -- ob das nicht eine weitere Ketzerei war?)

Bei der Kryptoanalyse hat sich der berühmte Professor Lidenbrock auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert - die schlichte Auszählung der Buchstaben macht eigentlich schon klar, dass es sich um eine Transpositionschiffre handeln muss, und das erkennt er ja auch richtig. Hier nun fällt doch sofort das Doppel-M am Beginn und das große S auf: ein kaum zu übersehender Hinweis auf den Namen Saknussemm, der als wahrscheinliches Wort einen hervorragenden Ansatz zum Anagrammieren liefert. Bei dem zunächst unverständlichen, scheinbar entzifferten Text fällt unbedingt ins Auge, dass »Arne Saknussemm« umgekehrt geschrieben am Anfang steht.

Sehr mangelhaft im Vergleich zu dieser einfachen Beobachtung ist dagegen die geschilderte Auflösung des Kryptogramms. Saknussemm hat wohl kaum Dünndruckpapier verwendet, das vor dem schwachen Licht des Kaminfeuers durchsichtig ist. Und selbst wenn - Verne übersah vollständig, dass die durchschimmernde Schrift dann eine Spiegelschrift sein müsste, in der Axel wohl kaum bei flüchtigem Hinsehen Wörter erkannt hätte.


29. September 2000. Letzte Änderung: 17. Juli 2001.

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