Rezension in der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 64 (2001), S. 285-286

HELMUT SCHMAHL, Verpflanzt, aber nicht entwurzelt. Die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin im 19. Jahrhundert (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte l), Frankfurt am Main 2000, Verlag Peter Lang, 448 Seiten.

Mit seiner Dissertation zur rheinhessischen Amerikaauswanderung schließt Helmut Schmahl eine Forschungslücke der - im regionalen Vergleich ohnehin dünnen - rheinhessischen Geschichtsschreibung. Bislang gab es, trotz der Attraktivität des Themas, außer kleineren Beiträgen keine wissenschaftliche Darstellung der rheinhessischen Auswanderung. Im Rahmen der deutschen Historiographie insgesamt muß die Arbeit als im Ansatz neuartig bewertet werden, da sie, im Gegensatz zu den allermeisten Annäherungen an das Thema Auswanderung, sowohl die deutsche als auch die amerikanische Quellenüberlieferung heranzieht und so das zu untersuchende Phänomen von beiden Seiten des Atlantiks beleuchten kann. Ein solcher Zugang muß, zumal wenn regionalgeschichtliche Vorarbeiten fehlen, zu einer Reduktion des Forschungsobjektes führen. Mit seiner Konzentration auf den Bundesstaat Wisconsin kommt Helmut Schmahl im zweiten, "amerikanischen" Teil seiner Arbeit dieser Notwendigkeit nach.

Zur Strukturierung seines immensen Materials bedient sich der Autor dreier theoretischer Vorgaben aus der Migrationsforschung: l. der Offenlegung der „Push- und Pull-Faktoren", also jener Kräfte, die die Menschen von ihrem Heimatland wegtrieben oder sie in ihrem Zielland anzogen, 2. das Modell der Kettenwanderung, das sukzessive Gruppenansiedlungen erklären hilft und 3. das Forschungskonzept der Akkulturation, das den Assimilationsprozeß der Einwanderer gliedert. Nach einem einleitenden Kapitel zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage in Rheinhessen im 19. Jahrhundert geht Schmahl auf die seinem eigentlichen Untersuchungszeitraum vorausgehenden Jahrhunderte, auf die Haltung der Staaten zur Auswanderung und auf die Auswanderung in nicht-nordamerikanische Zielländer ein. Basierend auf einer von ihm aus Ediktalladungen erstellten Auswanderungsstatistik für den Zeitraum zwischen 1832 und 1870, die durch Informationen aus Schiffslisten noch angereichert wurde, kann der Autor den strukturellen Merkmalen der Emigrationswilligen nachgehen und somit die Gründe für ihren Weggang aus der Heimat erschließen. Wanderten in der ersten Jahrhunderthälfte vorwiegend Familien aus, verschob sich der Schwerpunkt der Auswanderung nach 1850 zunehmend auf Einzelauswanderer, was auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und das somit breitere Arbeitsplatzangebot zurückzuführen ist. Daß Auswanderung kein Unterschichtenphänomen war, zeigt die soziostrukturelle Untersuchung der Datenbank. In der ersten Jahrhunderthälfte entsprach der Anteil der auswandernden klein- und mittelbäuerlichen Familien ihrem Anteil in der rheinhessischen ländlichen Gesellschaft. Eher aus Angst vor der Proletarisierung durch weitere Erbteilungen als aus Armut suchten diese Familien ihr Glück in der neuen Welt. Demgegenüber waren Angehörige des Handwerkerstandes, mit Ausnahme des Nahrungsmittelgewerbes, überrepräsentiert. Erst die Pauperismuskrise um 1845 führte zu einem deutlichen Anstieg der Unterschichtemigration. Nach 1860 ging der Anteil dieser Gruppe wieder zurück. Zahlenmäßig nur wenig ins Gewicht fallen die politischen Emigranten nach 1848. Abgesehen von den wenigen bekannten Beispielen der als Wortführer der Demokraten hervorgetretenen Personen findet Schmahl auch von den Freischärlern von 1849 nur ganz wenige als Auswanderer wieder. Größer dürfte die Gruppe derjenigen gewesen sein, die sich aufgrund ihres Engagements ihre berufliche Zukunft in der Reaktionszeit nach 1849 zerstört hatten und deswegen nach Amerika, aufbrachen. Ein abschließendes Urteil hierzu fällt auch Schmahl aufgrund von Quellenproblemen schwer. So könnten seiner Meinung nach auch die Abschiebeaktionen in den frühen 1850er Jahren auf als rebellisch geltende Unterschichtangehörige abgezielt haben. Nur im Ausnahmefall dürften religiöse Motive beim Auswanderungswunsch Pate gestanden haben. Die individuellen, vom Autor als individualpsychologisch bezeichneten Gründe können auf dieser Quellengrundlage kaum erschlossen werden.

Der zweite große Teil der Arbeit widmet sich dem Modell der Kettenwanderung. Der Autor wählte als Zielgebiet den Staat Wisconsin aus, weil er hier für die 1850er und 1860er Jahre eine verstärkte Zuwanderung aus dem östlichen Rheinhessen nachweisen konnte. Mit mikroskopischer Genauigkeit gelingt Schmahl die Rekonstruktion einer von einem 1839 in der Nähe von Milwaukee siedelnden Pionier ausgelösten Wanderungskette.

Den Akkulturationsprozeß zwischen 1840 und 1880 beschreibt Schmahl anhand der Beobachtungen des Verhältnisses der deutschen Einwanderer zu anderen ethnischen Gruppen, ihrer Vermögensverhältnisse, ihren wirtschaftlichen Aktivitäten, ihrem Heiratsverhalten, ihrer politischen Partizipation, ihrer Haltung im Bürger krieg, ihrem kulturellen Leben. Vor allem unterschiedliche religiös vermittelte Ausprägungen von Arbeits-, Freizeit- und Konsumverhalten konnten auch zu Spannungen zwischen den puritanisch geprägten angloamerikanischen und rheinhessischen Gruppen führen. Politisch engagierten sich die rheinhessischen Immigranten, von AusnahmefäUen abgesehen, nur auf lokaler Ebene. Mit deutschsprachigen Zeitungen, die auch detailliert aus der Heimat berichteten, Vereinen, Festen seit den späten 1860er Jahren auch schulischem Deutschunterricht konnten die amerikanischen Rheinhessen ein kulturelles Leben etablieren, das sich bis heute in Kenntnissen des rheinhessischen Dialektes bei einzelnen ihrer Nachfahren niederschlägt.

Eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis und die interne Kohäsion der Wisconsinrheinhessen spielte die Kirche. Mehrheitlich protestantisch, bildeten die Einwanderer häufig unierte Kirchengemeinden. Daneben engagierten sich viele Gläubige auch m Glaubensrichtungen, die in ihrer alten Welt weitgehend unbekannt waren: Methodisten und Presbyterianer. Die freien Gemeinden, die in etlichen Townships in den frühen 1850er Jahren gebildet wurden, gehen auf die deutschkatholische Bewegung zurück, die in Rheinhessen seit den 1840er Jahren aufblühte.
Mit seiner Untersuchung ist Helmut Schmahl eine fundierte, gut lesbare Arbeit zum Thema Auswanderung gelungen, deren doppelte Blickweise genau den Anforderungen gerecht wird, wie sie u.a. von Natalie Zemon Davis bei ihrem Vortrag auf dem Aachener Historikertag über „Global History, many Stories" an die Geschichtswissenschaften herangetragen wurden.

Gimbsheim GUNTER MAHLERWEIN