Rezension im Hessischen Jahrbuch für Landesgeschichte 51 (2001), S. 362-363.

Helmut Schmahl: Verpflanzt, aber nicht entwurzelt. Die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin im 19. Jahrhundert. (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 1). Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 2000, 448 S., 44 Abb.

Die deutsche Auswanderung nach Nordamerika ist zwar Thema einer umfangreichen Forschungsliteratur, doch der Horizont der Betrachtung endet meist an den Gestaden des Ozeans. Die deutsche Forschung beschränkt sich auf die Ursachen, Hintergründe, zeitliche und räumliche Verteilung der Auswanderung; das amerikanische Interesse beginnt erst bei der Ansiedlung in Amerika. In noch stärkerem Maße gilt dies für die familiengeschichtlich orientierte Forschung.

Die vorliegende Mainzer Dissertation wagt nun den Sprung über den Ozean und beschreibt auf der Grundlage umfangreicher sowohl in Deutschland als auch in den USA betriebener Archivstudien die Auswanderung aus der hessen-darmstädtischen Provinz Rheinhessen nach Wisconsin im 19. Jh. Es handelt sich vor allem um eine sozialhistorische Studie, die versucht, die Strukturen dieser Bevölkerungsgruppe - der Rheinhessen in Wisconsin - auch quantitativ herauszuarbeiten. Dies geschieht u. a. auf der Grundlage einer detaillierten statistischen Erfassung der deutschen und amerikanischen Serienquellen wie Ediktalladungen auf der deutschen und dem Zensus auf der amerikanischen Seite.

Wisconsin wurde zwar, wie die übrigen Staaten des Mittleren Westens, stark von Deutschen besiedelt, aber nicht in erster Linie von Hessen, sondern von Deutschen aus anderen Regionen, vor allem aus Mecklenburg. Andersherum siedelten die Hessen bevorzugt in anderen Staaten, vor allem an der Ostküste. Die in der Dissertation untersuchte Bevölkerungsgruppe stellt also auf beiden Seiten eine Minderheit dar, deren Eigenarten dadurch aber um so klarer herausgearbeitet werden können.

Obwohl die Nordamerikaauswanderung ein Massenphänomen ist, zeigen sich im Detail sehr unterschiedliche Strukturen. Jede Region in Deutschland hat ihre eigenen zeitlichen Höhepunkte und bevorzugt bestimmte Ziele in den USA. Die Vielfältigkeit setzt sich, und dies ist bemerkenswert, auch in der kleinräumigen Untersuchung fort. Es ist ein besonderes Verdienst der Arbeit, die Bedeutung der Kettenwanderung hervorgehoben zu haben, die ein wichtiger Erklärungsansatz für diese Vielfältigkeit ist. Auch im Fall der Hessen in Wisconsin waren es einzelne Personen, die mit ihrer Ansiedlung in Amerika ab etwa 1840 zum Vorbild wurden und in den folgenden Jahren die Auswanderung vieler Familienmitglieder und Nachbarn aus dem Heimatort und seiner näheren Umgebung nach sich zogen. Weiterbestehende Kontakte zwischen Familienmitgliedern in der Alten und der Neuen Welt, etwa durch Briefe oder auch durch Heimatbesuche, waren daher wichtiger als die Werbung durch Auswanderungsagenten und Veröffentlichungen. Nachziehende Auswanderer siedelten sich dann auch in Amerika in der gleichen Gegend an wie ihre Verwandten oder Bekannten, so daß sich Kerne kleiner Siedlungsgruppen bildeten. Daher hat auch innerhalb des stark deutsch geprägten Wisconsin jedes Township seine eigene, von der Herkunft seiner Bewohner geprägte Struktur.

Beruflich waren die meisten in der Landwirtschaft tätig, auch diejenigen, die ursprünglich einen anderen Beruf erlernt hatten. In den Anbauprodukten folgten sie dabei eher deutschen Gewohnheiten, so etwa in der Verwendung von Roggen statt Weizen als Brotgetreide. Hinzu kamen "typisch deutsche" Gewerbe wie die Bierbrauereien, die 1890 in Wisconsin immerhin den drittgrößten Industriezweig stellten und in erster Linie auf rheinhessischer Initiative beruhten. Die Arbeit erläutert auch dies anhand der Beispiele einzelner rheinhessischer Familien.

Von Interesse ist darüber hinaus, daß vor allem die Einwanderergeneration im Heiratsverhalten unter sich blieb und untereinander heiratete, ebenso wie es durchaus auch kulturelle und soziale Konflikte zwischen den Angloamerikanern und den verschiedenen Einwanderergruppen gab. Von jenem Schmelztiegel der Kulturen und Nationen, als der die amerikanische Gesellschaft so oft gerühmt wurde, kan also allenfalls für die zweite oder dritte Generation die Rede sein. Die Amerikanisierung der Lebensweise - in sozialer, kultureller und ökonomischer Hinsicht - zog sich über Jahrzehnte hin.

Insgesamt handelt es sich bei dieser Dissertation um eine ausgezeichnete sozialgeschichtliche Arbeit, die dazu beiträgt, die Hintergründe der Auswanderung nach Amerika ebenso zu beleuchten wie die Lebenswirklichkeit der Auswanderer in der alten Heimat. Was ein familiengeschichtlich orientierter Forscher nicht finden wird, das sind Namenslisten rheinhessischer Auswanderer nach Wisconsin. Doch könnte dies vielleicht in einer weiteren Veröffentlichung noch nochgereicht werden? Es wäre doch schade, all die gesammelten Daten nicht nutzbar zu machen.

Sabine Schleicher, München