Dann sind Sie zweifelsohne für einen normalen Kreta-Urlaub nicht die geeignete Person. Aber Sie würden so gerne einmal auf diese Insel fahren, die irgendwann - noch in unserem Jahrhundert - schön und unverfälscht gewesen sein soll, die als Inbegriff jener besonderen Gastfreundschaft galt, die wie der Ölbaum aus jahrhundertealten, tiefen Wurzeln genährt wird. Sie träumten noch von einem Land, in dem unsere alte europäische Kultur mit den Schönheiten der Natur eine vollendete Synthese einging und das dennoch und vor allem ganz anders war? Und Sie hoffen noch immer, auch im Urlaub Ihr Verlangen nach geistig-körperlicher Bewegung stillen zu können und dazu noch so richtig etwas zu erleben?
Dann sollten Sie niemals zu Beratungszwecken ein Reisebüro betreten und einen großen Bogen um alle Ständer mit Vierfarbprospekten machen. Wir empfehlen Ihnen, - entgegen unserem eigenen publizistischen Interesse - geflissentlich den Reiseteil Ihrer Tages- oder Wochenzeitung zu überblättern und alle geschriebenen oder lebendigen, eingebildeten und ausgebildeten Reiseführer zu vergessen. Das andere Kreta zu finden, ist viel einfacher und hat außerdem den Vorteil, daß wer es nicht finden soll, auch nicht finden wird. Machen Sie's halt einfach so wie (dereinst) Fräulein Beate H. aus Mz., deren Aventüre wir Ihnen als Beispiel für eine erfolgreiche Initiation in die Kunst des alternativen Urlaubs ans Herz legen.
Die Art, wie sie es angegangen ist, zeigt, daß Menschen, denen es schicksalhaft gegeben ist, selbst dann das wahre Kreta entdecken können, wenn sie eigentlich nur vorhatten, ihre Eltern auf einem relativ normalen Ausflug - der freilich nicht von der oben skizzierten Standardkategorie war - in den Frühling des östlichen Mittelmeers zu begleiten. Daß ihr Vater Jahrzehnte seines Berufslebens als Pädagoge (im altsprachlichen Sinne) dem Geist und den Göttern des alten Hellas geopfert hatte, dürfte sich günstig ausgewirkt haben auf die Entscheidung der Olympier, gerade seiner Tochter die geheime Pforte zu öffnen, wenn auch zunächst nur einen spaltbreit.
Sie besteigen also einfach ein Flugzeug - es wäre schon günstig, wenn es einen der gängigen kretischen Zivilflughäfen ansteuerte, aber die Chancen stehen nicht ganz schlecht, daß Sie auch mit einem nach Rhodos oder auf den Peloponnes gebuchten Flug auf Kreta zumindest zwischenlanden, z.B. aufgrund saisonal auftretender Arbeitskämpfe der Fluglotsengewerkschaft oder wegen Verständigungsschwierigkeiten des englisch sprechenden Flugkapitäns mit dem auch sprachlich eher bodenständigen Bodenpersonal.
Nun sehen Sie sich einmal im Flieger um: sitzt da nicht zufällig
vier Reihen weiter hinten, kamufliert hinter einer schon etwas älteren
Ausgabe der ZEIT, wie üblich die Nase rümpfend ob gewisser Behauptungen
im Reiseteil, Ihr Spanischlehrer vom Romanischen Seminar der Uni? Ja, dann
fragen Sie ihn doch ganz einfach einmal, welcher Zufall ihn in dieses Flugzeug
getrieben hat, und er wird Ihnen - vielleicht nicht besonders freundlich,
aber halt doch - sagen, daß er sich, wie üblich zu dieser Jahreszeit,
nach Kreta begibt, natürlich nicht zum Ferien machen, sondern zum
Arbeiten. Bald brauchen Sie gar nicht mehr so viel zu bohren, und er erzählt
Ihnen von einem verlassenen Dorf im Südwesten der Insel, in dem er
seit einigen Jahren zusammen mit einer illustren Schar ein paar alte Häuser
restauriert. Sie finden das nicht uninteressant (außerdem haben Sie
vielleicht schon insgeheim überlegt, wie Sie Ihre alten Herrschaften
im Urlaub für 1-2 Tage vom Joch ihrer hyperaktiven Tochter entbinden
könnten), und als Athen überquert ist und Sie zum Sinkflug ansetzen,
haben Sie schon eine Einladung zum Kurzbesuch in Agios Georgios nebst Lageskizze
im Handtäschchen.
Nun geben Sie sich halt den Schubs, der noch fällig war, und mieten
sich am dritten Tag zu einem zweifellos überhöhten Preis eines
dieser überall herumknatternden japanischen Mopeds, lassen Appartment-Anlagen
und Nordküstenautobahn hinter sich und biegen bei Vrises ab in Richtung
Süden: der erste Schreck ist fällig, als Sie sich bewußt
werden, daß das Dutzend Löcher, das den ohnehin halb verrosteten
Wegweiser Hora Sfakion 43 km relativ unlesbar macht, eigentlich
nur von Pistoleneinschüssen stammen kann. Das Sträßchen
wird immer enger und kurviger, Sie fahren mitten in die 2500 m hohen Weißen
Berge hinein, der Asphaltbelag wechselt sich ab mit Schotter, seit 15 km
kein Dorf, keiner kommt Ihnen entgegen... da sind Sie doch richtig beruhigt,
als Sie endlich in einer der grundsätzlich unübersichtlichen
Kurven von gleich zwei (leeren) Luxusbussen überholt werden. Wenn
Sie aus der Staubwolke herausgezuckelt sind und die Paßhöhe
überwunden haben, sehen Sie die Chauffeure von Zeus-Tours und Leda-Travel
einträchtig in einem Kafenion am Straßenrand sitzen, vor sich
schon eine größere Batterie leerer kleiner Gläschen, inmitten
einer Runde düster-abenteuerlicher Gestalten im Military-Look, die
sich auf ihre Hirtenstäbe stützen. Irgend etwas scheinen sie
gerade zu inspizieren, das wie ein Maschinengewehr aussieht.
Aber wahrscheinlich haben Sie sich getäuscht. Trotz allem entschließen Sie sich nun am besten zu einer noch etwas defensiveren Fahrweise. In wohl über 50 Haarnadelkurven sinken Sie hinab zur Küste des Libyschen Meers. Wenn Sie im Rückspiegel wieder die beiden flotten Busse sehen, sollten Sie diese Gelegenheit zu einem kurzen Halt am Straßenrand und einem Blick in die Landschaft nutzen. Kein Zweifel, diese weitgehend entwaldeten Berghänge und die nicht minder karge Küstenebene, auf der sich Ginster und anderes Stachelkraut behauptet, sind vielleicht ein Paradies für Ziegen und Schafe - daß jemand auf die Idee verfallen könnte, hier Urlaub zu machen, ist tatsächlich unwahrscheinlich. Zwar ist da hinten das Meer; aber es brandet unter einer schroffen Steilküste, zu der kein Weg hinführt und an dem offenbar keine Strandbar lockt. Etwa 10 km weiter im Osten scheint sich die wilde Landschaft etwas zu beruhigen: dort liegt in einer Ebene an einem etwas sanfteren Gestade das Frankenkastell aus dem 13. Jahrhundert und eine hingewürfelte Ansammlung von Gebäuden, unter denen sich auch einige Pensionen und Tavernen befinden sollen, das einzige, was dieser Landstrich an touristischer Infrastruktur aufzuweisen hat. Auf dem Weg dorthin sollten Sie sich gut am Lenker festhalten, denn an vier von sieben Tagen bläst ein orkanartiger Fallwind von den weißen Bergen herunter, und an den restlichen drei bringt der Scirocco Gluthitze und Wüstensand aus Libyen und färbt den Himmel gelblich (das idyllische Dörfchen, in das man sie eingeladen hat, soll aber wunderbar in einem Windschatten liegen).
Die einzige geteerte Straße bringt Sie ziemlich automatisch in das Herz jener rudimentären und sichtlich - wie alles hier - wild gewachsenen Urbanisation und vor das in Ihrer Lageskizze mit dem enigmatischen Namen "Erdnußkneipe" bezeichnete Gebäude, wo Sie hoffen dürfen, neue Instruktionen für die weitere Anreise nach Agios Georgios zu erhalten. Möglicherweise müssen Sie zuvor noch einen kleinen Schutzwall überwinden, der aus einer Horde putzmunterer deutschsprachiger Kleinkinder besteht, die auf der engen Treppe zur Kneipenterrasse unter lautem Gekreische Nachlaufen und Blindekuh spielen und es auch lustig finden, Normaltouristen (wofür Sie selbstverständlich gehalten werden) mal ein Bein zu stellen. Achtung: es könnte sein, daß mit Suvlakispießen scharf geschossen wird! Aber Sie haben ja zum Glück noch Ihren Motorradhelm auf. Auf dieser Terrasse herrscht dann doch mehr Betrieb als Sie es erwartet hatten: in der einen Ecke sitzen offenbar die diversen Eltern dieser Blagen, und zwar in einem Aufzug, als hätten sie hier seit Beginn der 70er Jahre ihr Dauerferienquartier aufgeschlagen und würden seitdem nichts anderes tun, als Backgammon spielen, Wollpullis stricken und Hermann Hesse lesen (auf jeden Fall nicht ihre Kinder erziehen - obwohl sie andererseits etwas vom Aussehen fortschrittlicher Pädagogen an sich haben).
Wenn
Sie nun vorsichtig den Helm abnehmen, ist es nicht ausgeschlossen, daß
Geräusche an Ihr Ohr dringen, die vage an deutsche Volkslieder erinnern;
wenn Sie einen jugendbewegten Bruder oder Vetter haben, werden Sie es vielleicht
sogar mit Pfadfindergesängen assoziieren. In der Tat sitzt da in der
anderen Ecke der Terrasse eine Gruppe junger Männer, die irgend etwas
vom "roten Wein" singen, der bis zum Rand die Becher füllt, während
sich doch der Tisch offensichtlich unter der Last brauner und grüner
Bierflaschen zweier hier üblicher holländischer Marken biegt
(dazwischen wieder jene Gläschen mit Resten einer glasklaren und zweifellos
leicht entzündlichen Flüssigkeit). Werfen Sie Ihre Vorurteile
über Bord! Warum soll es nicht in Griechenland deutsche Gastarbeiter
- offensichtlich aus dem Baugewerbe - geben, die nach Feierabend mal einen
draufmachen wollen und sich natürlich über die Aufmerksamkeit
einer hübschen jungen Frau aus der Heimat freuen? Diese dynamischen
Burschen werden Ihnen nichts Böses antun, und unter ihnen ist nun
mal auch der, der Ihnen vor ein paar Tagen im Flugzeug versprochen hat,
den ersehnten Einblick in das andere Kreta zu verschaffen.
Läßt es sich etwa ableugnen, daß hier tatsächlich alles ziemlich anders ist, als Sie es erwartet haben? Die kräftig händeschüttelnde und schulterklopfende Begrüßung der ganzen Baumannschaft lassen Sie am besten über sich ergehen, ohne sich etwas anmerken zu lassen, auch wenn Sie den Eindruck haben, daß sich eine Wolke aus Zementstaub und Kalkbröseln über Sie legt. Zur Begrüßung nötigt man Ihnen ein Gläschen der glasklaren Flüssigkeit auf (dazu eine Handvoll Erdnüsse), und noch eins-zwei-dreie-mehr, und Sie ergeben sich darein in der Hoffnung, daß das Getränk, mit dem es hier etwas ganz besonderes auf sich haben muß, den Akklimatisierungsprozeß befördern möge.
Zwar ist von dem, der sich als Ihr Mentor und Gastgeber gebiert, längst
alles Akademische abgefallen, doch legt er seine ganze Beredsamkeit in
das Bemühen, Sie zu einem sofortigen Besuch und zur Übernachtung
in dem besagten alten Dorf zu bewegen. Es soll nur wenige Kilometer von
hier entfernt liegen, von denen zudem die meisten bequem auf der Ladefläche
eines nur für deutsche Verhältnisse klapprigen VW-Pritschenwagens
zurückgelegt werden können. Schließlich ist er mit seiner
Truppe nach getanem Tagwerk nur kurz zum Entspannen und Tanken in die Ebene
herabgestiegen. Aber sicher wird es Ihnen keiner verdenken, wenn Sie zunächst
einmal eine Nacht in diesem gastlichen Beherbergungsbetrieb nehmen und
die pittoreske Schar für heute in ihrer staubigen Aura von dannen
ziehen lassen.
Bald sehen Sie ein, daß dies ein Fehler war. Die modernen Pädagogenkinder intensivieren ihre Spielaktivitäten mit Einbruch der Dunkelheit, nachdem man am Tisch der Erziehenden ebenfalls von eisgekühltem Nescafé zu der glasklaren Flüssigkeit übergegangen ist. Auch Ihre Hoffnung auf eine warme Dusche verläuft sich im Staube, denn es handelt sich um einen ökologisch konzipierten Pensionsbetrieb, der sein Warmwasser mit Solarenergie erzeugt und diesen Service nur bei täglich 16-stündiger Sonneneinstrahlung uneingeschränkt leisten kann. Nehmen Sie diese Erfahrungen als Teil eines notwendigen Entwöhnungsprozesses aus dekadentem mitteleuropäischen Anspruchsdenken, das ökologische Belange - vor allem im Urlaub - letztlich doch hintanstellt, wenn es um scheinbar selbstverständlichen Alltagskomfort geht. Zu diesem Bewußtseinswandel tragen auch die Schwärme von Stechmücken bei, die, kaum daß Morpheus Sie in seine Arme genommen hat, sich zunächst surrend und dann saugend in Ihrer Kammer ein Stelldichein geben. Sie bestätigen zweifelsfrei die Behauptung Ihrer neuen Bekannten, daß der morastige Küstenabschnitt direkt unterhalb der Pension ein einzigartiges Biotop darstellt, eines der letzten Rückzugsgebiete seltenster Schildkröten- und Schlangenarten.
Spätestens
beim Morgengrauen dürfte der Entschluß gereift sein, unverzüglich
diesem Rest Zivilisation Ade zu sagen und den Weg in das geheimnisvolle
Dorf anzutreten. Sie wüßten nicht, was Sie nun noch schrecken
könnte, und fühlen sich stark genug, im Verein mit Ihrem gemieteten
Moped (ein Modell übrigens, das hier nicht umsonst "Entchen" genannt
wird) dem wieder erstarkenden Nordwind die Stirn zu bieten. Noch etwa fünf
Kilometer landeinwärts, und der Schotterweg verliert sich in einer
steinernen Einöde, in der hier und da ein Johannisbrotbaum dem Ziegenfraß
trotzen konnte. Endlich haben Sie Gelegenheit zu der kleinen Gebirgswanderung,
die Ihnen ja auch versprochen worden war. "Bei zügigem Schritt", den
man Ihnen selbstverständlich zutraut, ist es eine Viertelstunde, aber
gehen Sie ruhig etwas langsamer...
Die Zeit müssen Sie hier ohnehin vergessen. Irgendwann stehen Sie
vor dem kleinen Kirchlein, das Ihnen als "Dorfeingang" beschrieben wurde.
Von einem Dorf ist noch nicht viel zu sehen; nicht einmal zerfallene Häuser
vermag das ungeschulte Auge zwischen in dem mit Olivenbäumen dicht
bepflanzten Talkessel zu entdecken. Nur ein Beinhaus liegt zu Ihrer Rechten:
wenn Sie unbedingt hinschauen wollen, erkennen Sie im Halbdunkel einen
Haufen verblichener Schädel. dazwischen auch schon die eine oder andere
leere Cola-Dose. Vor der Kaverne, die aus den hier überall herumliegenden
Feldsteinen gemauert ist, blühen ein paar Orchideen. Irgendein Dante-Vers
kommt Ihnen in den Sinn, von denen, die eintreten und alle Hoffnung fahren
lassen sollen...