Wolf Lustig Mba'éichapa oiko la guarani? Ein Portrait des guaraní paraguayo ------------------------------------------------------------------ Paraguay ist das einzige amerikanische Land, in dem eine indigene Sprache, nämlich das Guarani, sich bis heute als allgemeine Umgangssprache fast der gesamten Bevölkerung erhalten hat. Ein trauriges Paradoxon ist dabei, daß die ursprünglichen Träger dieser Sprache - die eingeborenen Völker der Tupi-Guarani- Sprachfamilie, die vor der Ankunft der Spanier im Bereich des heutigen Staates lebten - ihre Sprache nicht überlebt haben. Sie wurden ausgerottet oder marginalisiert. Wenn heute über 90% der Paraguayer das Guarani beherrschen und verwenden, hat das nichts mit der "Indianität" dieser im allgemeinen als "mestizisch" klassifizierten Bevölkerung zu tun, es weist auch noch nicht einmal auf eine Sympathie oder bewußte Affinität der Sprecher mit den Resten autochthoner Guarani-Kultur im eigenen Lande hin. An dererseits steht außer Zweifel, daß das strukturell vom Spanischen doch grundverschiedene guaraní paraguayo auch im Munde der Weißen seinen indianischen Charakter nicht gänzlich ablegt und sein Fortbestehen ein Grund dafür ist, daß die paraguayische Kultur "unter der Oberfläche" viel Indianisches bewahrt hat. Für den Europäer, der sich mit Paraguay beschäftigt, bedeutet das zweierlei: zum einen bleiben ihm wesentliche Aspekte des ñande reko ("unserer Art zu sein") verborgen, wenn er sich nicht zumindest ansatzweise mit dem sprachlich-kulturellen Faktor Guarani befaßt. Zum anderen bietet sich ihm die Chance, über das guaraní paraguayo, das uns als idioma conquistado y reducido nach 500 Jahren näher und viel leichter zugänglich ist als eine "echte" Indianersprache, wie auf einer befestigten Brücke in die faszinie rende Welt der indigenen Sprachen und Weltbilder vorzudringen. Bedeutung und Verbreitung des Tupi-Guarani Das Guarani gehört zur Familie der Tupi-Guarani-Sprachen: es ist zwar nur eine von weit über 100 in Südamerika beheimateten Sprachfamilien, wohl aber im ostsüdamerikanischen Tiefland etwa zwischen den Guayanas und dem Rio de la Plata die geographisch am weitesten verbreitete Sprachgruppe, was bei der geringen indianischen Bevölkerungsdichte freilich nichts über die tatsächliche Sprecherzahl besagt. Dennoch ist - eben aufgrund der besonderen Gegebenheiten in Paraguay und den angrenzenden Gebieten - das Guarani mit wohl über 4 Mio. Sprechern nach dem dialektal stark fragmentierten Quechua die wichtigste indigene Sprache Amerikas. Bei der Ankunft der Europäer war praktisch die gesamte heutige brasilianische Küste von Tupi-Guarani-Völkern besiedelt, was sich einerseits bis heute in der Toponymie niederschlägt - z. B. sind ita ("Stein") oder para ("Meer") Bestandteil vieler Ortsnamen - und zum anderen darin, daß viele Pflanzen- und Tierbezeichnungen, die damals in Südamerika "entdeckt" wurden, aus dem Tupi-Guarani in die europäischen Sprachen und den wissenschaftlichen Sprachgebrauch eingegangen sind: nach dem Griechischen und dem Latein steht es in dieser Hinsicht als "Lieferant" an dritter Stelle (Ananas, Maracuja, Jaguar, Tapir, Piraña ["Teufelsfisch"], Petunie, Maniok/manihot esculenta etc.). Einem Mythos zufolge waren Tupi und Guarani zwei Brüder, die in Streit gerieten (das Wort guarani wird unter anderem als "Krieger" gedeutet) und sich schon in Urzeiten voneinander trennten. Guarani wanderte in die Gegend des heutigen Paraguay und sorgte dort für reiche, auch sprachliche Nachkommenschaft. Mit seinen Tupi- Verwandten, etwa in Guayana würde er sich auch heute sicher nicht mehr verstehen, wenngleich die für den Linguisten durchaus offensichtliche Ähnlichkeit räumlich so weit voneinander entfernter Sprachen verblüffend ist - umso mehr als die Gebiete, in denen sie liegen, doch nie politisch vereint waren wie etwa das Quechua-Sprachgebiet. Zur Geschichte des guaraní paraguayo In und um Paraguay werden heute noch mehrere Varianten des Guarani gesprochen: zum einen das guarani tribal einiger zahlenmäßig stark reduzierter Indígena-Gruppen wie insbesondere der Mbya, die in Ost- Paraguay und zum großen Teil in der nordargentinischen Provinz Misiones leben. In dieser Region hat traditionell auch die nicht indigene Bevölkerung Guarani gesprochen: heute ist die Sprache jedoch sowohl lexikalisch als auch phonetisch stark hispanisiert und im Rückzug begriffen. Sehr vital ist hingegen das Guarani der Chiriguano in Ostbolivien. Die folgenden Ausführungen beziehen sich also auf das heutige guaraní paraguayo, die in Paraguay von der Mehrzahl der mestizischen oder weißen Bevölkerung teilweise parallel zum Spanischen gesprochene Umgangssprache, die innerhalb der Grenzen des Staatsgebietes von einer erstaunlichen Homogenität ist. Die erste Frage, die sich stellt, ist wohl die nach den historischen Ursachen der eingangs umrissenen einzigartigen Situation. Zunächst ist festzuhalten, daß die frühe und begrenzte Kolonisierung im 16. Jahrhundert durch eine relativ geringe Anzahl von (männlichen) Spaniern keine Hispanisierung mit sich brachte: die sehr zahlreich aus spanisch-indigenen Verbindungen hervorgehenden Kinder lernten von ihren Müttern Guarani. - Eine entscheidende Rolle spielten dann die Aktivitäten der Jesuiten im 17. u. 18. Jahrhundert. In ihren Missionsdörfern erfolgte die Evangelisierung ausschließlich auf Guarani. Bewußt bemühte man sich um "Aussperrung" des Spanischen und Portugiesischen, um den encomenderos und Sklavenjägern Kontakt und Zugriff zu erschweren. Die Verwendung einer "heidnischen" Sprache bei der Christianisierung erforderte nicht nur ein intensives Studium des damaligen Guarani, sondern auch seine Umformung und "Eroberung" in dem Sinne, daß zahlreiche Begriffe und Strukturen neu geprägt wurden, ohne die eine Vermittlung des Christentum unmöglich schien. Als weiteres Ergebnis der jesuitischen "Linguistik" blei ben bis heute bedeutsam das Wörterbuch und die Grammatik von Antonio Ruiz de Montoya (1585-1652), die zugleich ein erstes Dokument der systematischen Verschriftlichung einer amerikanischen Sprache sind. Nach Vertreibung der Jesuiten zerfielen zwar die Reduktionen mitsamt der von ihnen gestützten wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur; bestehen blieb jedoch ein im europäischen Sinne "grammatisiertes" und in gewissem Maße genormtes und vereinheit lichtes Guarani, das darüber hinaus für viele soweit schreibbar war, daß indigene Gemeinschaften auf Guarani verfaßte Beschwerdebriefe an die Kolonialverwaltung richten konnten. Eine weitere wichtige Etappe in der Konsolidierung des guaraní paraguayo auf Kosten des Spanischen ist die Frühzeit der paraguayischen Republik, insbesondere die 30jährige Diktatur des Dr. Francia. Diese Periode riguroser Abschottung und Ent- Hispanisierung des Landes ist freilich nur eine Art historischer Verdichtung der politischen und geographischen Isolation eines Landes, das zu Recht als isla en la tierra charakterisiert wurde. In den beiden letztlich katastrophalen, für die meisten Paraguayer aber dennoch "großen" Kriegen, der Guerra de la Triple Alianza und dem Chaco-Krieg, spielte das Guarani eine wichtige Rolle: nicht nur als Symbol der nationalen Einheit, sondern auch als eine für den Feind unverständliche Geheimsprache. Der von Paraguay "gewonnene" Chaco-Krieg hat bis heute den Rang einer epopeya nacional und ist als solche einer der beliebtesten Stoffe unzähliger volkstümlicher polcas, die - natürlich - auf Guarani gesungen werden. Das Guarani und die aktuelle Sprachsituation in Paraguay Erst im 20.Jahrhundert beginnt das Spanische zu einer wirklichen Bedrohung für das Guarani zu werden, nicht zuletzt aufgrund mehrerer Einwanderungswellen und einer rapide fortschreitenden Mo dernisierung sowie durch den Ausbau eines das Spanische favorisie renden Schulsystems und den Siegeszug der Massenmedien. So ist es zu einer Diglossie-Situation gekommen, bei der das Guarani auf eine für den familiär-informellen Bereich zuständige Zweitsprache mit geringem gesellschaftlichen Prestige reduziert wurde. An schaulich zum Ausdruck gebracht wird die Funktionsverteilung durch das Begriffspaar, mit dem man mitunter die beiden Sprachen be nennt: ava ñe'ê - die "Menschensprache" - ist das Guarani, und karai ñe'ê - "die Herrensprache" - das Spanische. Freilich sind die beiden Sprachen in der Performanz keineswegs strikt voneinander getrennt, wie es auch nur wenig Paraguayer gibt, die wirklich zweisprachig wären, sich also in beliebigen Situationen in beiden Sprachen korrekt ausdrücken könnten. Kennzeichnend für die heutige Sprachsituation ist vielmehr die gegenseitige Durchdringung der beiden Sprachen, wie sie sich in der jopara genannten Mischsprache niederschlägt. Für Roa Bastos ist dieses ein "horrendo dialecto [...] que parece el habla idiota de la senilidad colectiva, el ñe'ê tavy del débil mental"1; nicht wenige "Realisten" sehen im jopara hingegen eine dritte pa raguayische Sprache, die dem guaraniete, dem "echten" Guarani, längst den Rang abgelaufen hat. Ein Beispiel aus einem ganz in jopara abgefaßten Roman2: Tereho Paraguaýpe emba'apo, che memby (Geh nach Asunción arbeiten, mein Kind). Che apytáta kokuépe (Ich bleibe auf der chacra). Mientra tengo salú, via atender por tu criatura, dame nomá sapy'a py'a (hin und wieder) un poco de pirapire (Geld). [...] Tené que ir, campaña ndovaléi (ist nichts wert), todo tu prima etá todo en ciudá, otrabaja porã ("sie arbeiten schön"). In diesem Oralität nachahmenden Text wechseln zum einen Sätze in reinem Guarani mit solchen in paraguayischem Spanisch ab. Dann fließen Guarani-Ausdrücke in strukturell spanische Sätze ein. Weiterhin zeigt er, wie spanische Verbstämme (valer, trabajar) in Guarani-Strukturen - etwa die Verneinungs-Klammer nd-...-i eingebunden werden. Beim Fehlen der Genus- und Numerus-Markierung (todo tu prima etá) sowie des Artikels handelt es sich eindeutig um Guarani-Interferenzen, ebenso wie bei der Allround-Funktion der Präposition por in Anlehnung an die Verwendung der Postposition - rehe. Interferenzen solcher Art prägen das español paraguayo häufig auch dann, wenn an der lexikalischen Oberfläche keine Spuren des Guarani erkennbar sind und machen es nicht selten für den Uneingeweihten unverständlich: so bedeutet se va a casar por Eladia nichts anderes als con Eladia, und in voy a comprar para mi camisa ist das befremdende para die "Übersetzung" eines dem Guarani eigenen "nominalen Futurs" che kamisarã ist "mein zukünftiges Hemd". Diese sprachliche Wirklichkeit, in der die Abweichung von der Norm die Norm zu sein scheint, ist also weit entfernt von jenem Bilinguismus, der sogar in der Verfassung von 1992 postuliert wird. Während das Guarani unter Stroessner auch konstitutionell den Rang einer lengua nacional besaß (was freilich nur die Beschreibung eines unumstößlichen Faktums war und wenig Konsequenzen für die Förderung der Volkssprache im Erziehungswesen hatte) wird es nunmehr durch Art. 140 zu einer der beiden Amts sprachen erklärt: El Paraguay es un país pluricultural y bilingüe. Son idiomas oficiales el castellano y el guaraní. La ley establecerá las modalidades de utilización de uno y otro. Gleichzeitig wird in der neuen Verfassung festgehalten, daß der Anfangsschulunterricht dort in Guarani zu erfolgen hat, wo dieses die Muttersprache der Schüler ist (VII, Art. 77). Weiter wird eine wirkliche Zweisprachigkeit aller Paraguayer als Unterrichtsziel postuliert: Se instruirá [el educando] en el conocimiento y en el empleo de ambos idiomas oficiales de la República. Tatsächlich ist die entsprechende Infrastruktur im Aufbau. Das Guarani-Studium ist Pflichtbestandteil der Lehrerausbildung, ein Studiengang an der Universidad Nacional kann mit einer Lizentiatur in Guarani abgeschlossen werden (77 Absolventen im Jahr 1993), und das Angebot an Lehrmaterialien ist im Wachsen begriffen. Offizialität wird freilich nicht nur über Gesetze und verbesserten Schulunterricht hergestellt: Wünschenswert wäre eine größere Präsenz der Sprache in den Medien, vor allem im Fernsehen. Regelmäßig auf Guarani ausgestrahlt wurde bisher nur ein täglicher Wetterbericht - für die meisten Zuschauer eher ein Anlaß zum Schmunzeln, wie immer, wenn die "Familiensprache" Bereiche zu usurpieren scheint, die ihr bisher verschlossen waren. Vor den Wahlen kann man hingegen regelmäßig die Politiker verschiedenster Couleur bewundern, die in zumeist schlechtem Guarani oder jopara unter der einsprachigen Landbevölkerung um Sympathien kämpfen. In den zahllosen lokalen Radiosendern ist das Guarani hingegen wesent lich präsenter: je weiter man sich von Asunción entfernt, desto seltener hört man spanische Ansagen. Auch die Werbung für viele Produkte und Dienstleistungen - etwa auch der Ärzte und Rechtsanwälte - wird in der Vernakularsprache ausgestrahlt, und dies sicher nicht aus sprachpflegerischem Idealismus, sondern aus rein praktischen Erwägungen: nach einer Erhebung von 1982 sprechen 60% der Landbevölkerung ausschließlich Guarani.3 Auch die in Paraguay sehr volksnahe, sozial engagierte und fortschrittliche katholische Kirche hat, gleichsam an jesuitische Traditionen anknüpfend, seit dem 2. Vatikanischen Konzil alle Möglichkeiten der Guaranisierung von Liturgie und Seelsorge ausge schöpft. Durch zahlreiche Publikationen bemüht sie sich vor allem auch um die Förderung einer Lesekultur auf Guarani. Wohl der zur Zeit bedeutendste und aktivste Guaranologe, u. a. Herausgeber des Standard-Lehrwerks El guaraní a su alcance, ist ist der Jesui tenpater Bartomeu Melià. Ansonsten ist das Guarani im Bereich der Printmedien deutlich unterrepräsentiert. Das hängt zweifelsohne mit seinem traditionell oralen Charakter zusammen: die Sprache des Lesens und Schreibens ist das Spanische. Da diese Kulturpraktiken in der Schule bislang kaum gelehrt wurden, ist es auch nicht verwunderlich, wenn nur sehr wenige Paraguayer Guarani lesen und noch sehr viel weniger es schreiben können. Das Problem ist dabei heute nicht mehr die einheitliche Transkription, denn nach jahrzehntelangem Hin und Her wird nun eine den Eigenheiten der Sprache entsprechende Orthographie (sie geht auf eine 1950 in Montevideo beschlossene Norm zurück) weitgehend akzeptiert. Während in Asunción mehrere deutschsprachige Wochenzeitungen erscheinen, sucht man entsprechende Publikationen auf Guarani vergebens. In den Tageszeitungen war die zweite lengua oficial bis vor kurzem lediglich in Form einer Zweizeilenrubrik mit einem ñe'enga, dem "Sprichwort des Tages", präsent. Ein absolutes Novum stellt die seit Beginn dieses Jahres in der Wochenendbeilage der großen Zeitung ABC zu findende Guarani-Seite dar. Ihr Titel Jai kuaamive ha§ua (Para que aprendamos un poco) verleugnet nicht das pädagogische Anliegen. Hier werden gar aktuelle Themen wie Aids und Raumfahrt angesprochen, was nicht zuletzt jenen den Wind aus den Segeln nehmen soll, die behaupten, das Guarani sei den An forderungen der heutigen Zeit nicht gewachsen und stelle ein Hemmnis bei der notwendigen Modernisierung des Landes dar. In den einschlägigen Buchhandlungen von Asunción findet man trotz des begrenzten Lesepublikums recht viele Zeitschriften und Bücher auf Guarani. Unter den Periodika ist vor allem die vom Instituto de Lingüística Guaraní del Paraguay herausgegebene zweisprachige Kulturzeitschrift Ñemitü zu nennen, in der sich sowohl literarische Beiträge finden als auch programmatische Aufsätze zur Sprachenpolitik und Didaktik. Die literarischen Buchveröffentlichungen spiegeln zum großen Teil den Reichtum der mündlichen Überlieferung wider und sind, wenn nicht ausgesprochene Sammlungen von Sprichwörtern, Legenden, Kurz erzählungen und Liedern, so doch meist von der volkstümlichen Literatur oder besser "Oratur" inspiriert. Dementsprechend stehen auch bei den individuellen Neuschöpfungen zeitgenössischer Autoren Lyrik und Theater im Vordergrund. Bei all dem darf nicht vergessen werden, daß die literarische Buchproduktion auf Spanisch und Guarani unter der Stroessner-Diktatur praktisch brachlag und sich erst langsam zu erholen beginnt. Eine zum Teil durchaus literarisch zu nennende Gattung extremer Popularität ist das tradi tionell zu Gitarre und Harfe gesungene Volkslied, insbesondere die polca mit ihren oft sehr lyrischen Texten angesehener Autoren. Wie funktioniert Guarani? Klassifikatorisch gesehen ist das Guarani eine agglutinierende und inkorporierende Sprache4 und hat insofern wenig gemein mit den (flektierenden) indoeuropäischen Sprachen. Die Wortwurzeln werden nicht durch Beugung verändert, sondern mit Präfixen und Suffixen versehen und untereinander kombiniert (eben "verklebt", wie es dem Wesen der Agglutination entspricht). Die Sprache hat dadurch eine große Flexibilität, und lädt geradezu ein zur Neubildung von Be griffen. In dem Ausdruck ojetavy'o ("er lernt") finden wir z. B. das Personalpräfix der 3. Person o-, ein Reflexivmorphem -je-, den eigentlichen Bedeutungsträger tavy ("dumm", "Dummheit") und ein Privativsuffix -o; interlinear übersetzt also etwa: er-sich-Dumm heit-entfernen. Das inkorporierende Element wird deutlich an dem "Wort" ndahepyme'êsei ("ich will seinen Preis nicht geben" bzw. "ich will das nicht bezahlen"): nd- und -i sind Elemente einer um klammernden Verbverneinung, -a- ist Personalpronomen der 1. Pers. Sg., tepy/repy/hepy bedeutet als selbständiges Nomen "Preis", und das Verb (a)me'ê "geben"; -se- schließlich ist eine Voli tivpartikel, die an das Verb gehängt wird, also: "nicht-ich-seinen- Preis-geben-will(-nicht)". Nach dieser Methode entstehen Ungetüme, mit denen sich recht komplexe Inhalte "an einem Stück" ausdrücken lassen, wie z. B.: n|o|mbo|guata|se|ve|i|ta|pa|hína. Der verbale Kern ist hier guata: die sich um ihn gruppierenden Elemente drücken nacheinander folgende Aspekte aus: Verneinung I|3. Pers. Sg.|"Koaktion"|STAMM|"wollen"|"mehr"|Verneinung II|Fu tur|Frage|imperfektiv. Auf Deutsch müßte man sagen: "Wird er [es, z. B. ein Schwein] nun nicht mehr antreiben wollen?", und auf Spanisch: ¿no querrá más hacerlo caminar? Aussprache und Schreibung Der für europäisches Sprachgefühl exotische Charakter des Guarani und somit die Schwierigkeiten für den Lernenden hängen im wesentlichen mit seiner agglutinierenden Struktur zusammen, weniger mit Phonetik und Morphologie. Der fremdartigste Laut, den das guaraní paraguayo aufzuweisen hat, ist das y. Auch das Türkische (i ohne Punkt) und das Russische kennen diesen Laut, der nicht schwer zu bilden ist, indem man mit der Mundstellung des i ein u artikuliert. Y ist auch eines der wichtigsten Wörter des Guarani und bedeutet "Wasser": y guasu (Iguaçu) ist "das große Wasser". - Einen Eindruck vom Phoneminventar des Guarani vermittelt das heute im Unterricht und von den meisten Autoren verwendete, weitgehend phonetische Alphabet: a, ch, g, e, §, h, i, j, k, l, m, mb, n, nd, ng, ñ, o, p, r, s, t, u, v, y. Die Vokale liegen in einer oralen und einer nasalen Reihe vor: a/ã - e/ê - i/î - o/õ - u/û - y/ü. Der Konsonantismus unterscheidet sich eher vom Spanischen als vom Deutschen: das Guarani verfügt über das uns vertraute h, den glottal stop (') und den sch-Laut (ch). Der v-Laut ist labiodental und j wird als palataler Verschlußlaut, etwa wie im Englischen, realisiert. Obwohl das spanische Alphabet der Phonologie des Guarani kaum gewachsen ist, findet man noch häufig eine ältere, an der Aussprache des castellano orientierte Schreibweise. Der Satz ha che rajy iñakãhatã ("und meine Tochter hat einen Dickschädel") würde geschrieben: jha che rayý iñacähatä. Auch die Schreibung der Ortsnamen folgt bislang zumeist nicht den Regeln des offiziellen Alphabets. So erscheint das paraguayisch-argentinische Staudamm- Projekt am Paraná in der Presse und auf Landkarten meist als Yacy retá und nicht als Jasyretã ("Mond-Land"). Unabhängig von Problemen der (Recht-)Schreibung, die die meisten Guarani-Sprecher herzlich wenig interessieren, wurden im Laufe von fast 500 Jahren natürlich zahlreiche Begriffe und Namen aus dem Spanischen übernommen und der eigenen Lautstruktur angepaßt. Voll integriert, zumal wenn nach den Regeln des Guarani-Alphabets geschrieben, erscheinen heute Wörter wie: kavaju (caballo), kavara (cabra), ovecha (oveja), guéi (buey), Huã (Juan), aramirõ (almidón), kesu (queso), sevói (cebolla). Wie im Guarani üblich, hat sich die Betonung auf die letzte Silbe verlagert. Nach den Orthographieregeln wird der graphische Akzent grundsätzlich nur dann gesetzt, wenn das Wort von dieser Regel abweicht, wobei die Nasal-Tilde im allgemeinen ebenfalls eine Betonung markiert. Interessant ist das phonosyntaktische Phänomen der Nasalharmonie: bestimmte Prä- und Suffixe nehmen eine andere - eben nasale - Form an, wenn die Wortwurzel selbst Nasallaute enthält. "Auf Wiedersehen" wird mit der oralen Wurzel [h]echa gebildet und heißt ja-jo-echa-peve ("wir-uns-sehen-bis"). Ein entsprechender Ausdruck mit einem "Nasalwort" wie rorairõ ("kämpfen") würde lauten: ña-ño- rorairõ-meve: "bis wir uns bekämpfen". Substantive oder Adjektive? Die Übertragung der aus den europäischen Sprachen vertrauten Wortkategorien wie Substantiv, Adjektiv, und Verb auf das Guarani ist nur bedingt vertretbar. Wenn hier trotzdem eine Annäherung auf diesem Wege versucht wird, dann weil gerade die dabei auftau chenden Probleme die Andersartigkeit des Guarani hervortreten lassen. Über Genera, Kasus und Artikel verfügt die Sprache nicht; selbst der Plural muß nicht unbedingt markiert werden, wenngleich dies mittels des Suffixes -kuéra (Nasalform -nguéra) möglich ist. Eine andere Form der Pluralmarkierung ist die Umfunktionierung des spanischen Artikels, der nicht mehr das Genus, sondern nur den Numerus markiert: la steht für den Singular und lo für den Plural. Die Funktionen von Fällen und Präpositionen übernehmen Suffixe oder Postpositionen : aime ógape ich bin im Haus ajeroky Huánandive ich tanze mit Juana aju Concepciónguiich komme aus Concepción amba'apo ndéve §uarã ich arbeite für dich yvágaicha hovy blau wie der Himmel Das Lokalsuffix -pe (Nasal -me) erfüllt auch die Funktion des Dativs bzw. des personalen Akkusativs: ame'ê mitãme kamby ("ich gebe dem Kind Milch"). Eine wichtige, polyfunktionale Struktur ist das aus "Possessiv"- Pronomen und "Substantiv" bestehende Syntagma folgenden Musters: che koty mein Zimmer nde koty dein Zimmer ikoty sein/ihr Zimmer ñande koty unser(+) Zimmer ore koty unser(-) Zimmer pende koty euer Zimmer (ikoty ihr Zimmer) Bemerkenswert ist hierbei die auch die Verbkonjugation betreffende Existenz zweier Formen für die 1. Pers. Pl.: das "inklusive" (+) "unser" oder "wir" bezieht den Angesprochenen mit ein, bezeichnet also in diesem Fall "unser aller Zimmer". Das "exklusive" (-) "unser" oder "wir" schließt den Angesprochenen aus der Gruppe aus und bezeichnet ein Subjekt des Typs "wir ohne dich". Dies ist übrigens eines von mehreren Strukturmerkmalen, die das Guarani mit anderen amerikanischen Sprachen wie dem Quechua gemeinsam hat, ohne daß allerdings eine direkte Verwandtschaft angenommen werden könnte. Weiterhin zeigt das Paradigma, daß die 3. Pers. Singular und die 3. Pers. Plural normalerweise identisch sind. Wenn es im Guarani auch keine Flexion gibt, so verändern manche Wörter doch ihren Stamm und zeigen dadurch syntaktische Relationen an. Ein solches Phänomen ist die "Oszillation" oder Mehrformigkeit, die sich vor allem bei auf t- anlautenden Wörtern findet. So lautet die Grundform des Wortes für "Weg" tape. In Abhängigkeit von einem "possessiven" Pronomen wie che, nde oder einem anderen Substantiv wird das t- zu r-, also: che rape ("mein Weg"). Eine dritte Form, hape, entspricht der 3. Person, bedeutet also "sein Weg". Ein anderes Beispiel: tembiapoche rembiapo hembiapo (die) Arbeit meine Arbeit seine Arbeit Ein unregelmäßigeres mehrformiges Substantiv ist óga ("Haus"): che róga mein Haus nde róga dein Haus hóga sein Haus mburuvicha róga Häuptling(s)-Haus (heute: "der Präsidentenpalast") Che róga kann aber auch den Status eines Satzes haben und bedeutet dann "ich habe ein Haus." Auch Substantive lassen sich in die Vergangenheit oder ins Futur setzen. So wird unterschieden zwischen che rembiaporã, "die Arbeit, die vor mir liegt" und che rembiapokue, "die Arbeit die ich erledigt habe". Che rogarã ist "mein zukünftiges Haus", che rogakue "mein ehemaliges Haus", und che rogarangue wäre ein Haus, das einmal meines werden sollte, dann aber doch nicht wurde. Ndaikuaái che raperã ("ich weiß nicht meinen zukünftigen Weg") bedeutet soviel wie: "ich bin orientierungslos". Nicht nur "haben", auch die Kopula "sein" wird zumeist durch bloße Juxtaposition ausgedrückt: che mbo'ehára ("ich Lehrer") ist je nach Kontext zu verstehen als "ich (bin ein/der) Lehrer". Die gleiche Konstruktion steht anstelle des Genitivs: ko kuñataî ña Leona memby: "dieses Mädchen (ist) Frau Leona(s) Tochter". In kuarahy yvága resa - "(die) Sonne (ist des) Himmel(s) Auge" - ist immerhin resa durch das anlautende r- in seinem Possessiv-Status markiert (die Grundform lautet tesa). Nach dem bereits eingeführten Grundmuster werden auch Prädikativsätze gebildet, die im Deutschen oder Spanischen die Struktur Substantiv od. Pronomen - "sein" - Adjektiv haben. nde tavy du bist dumm iporã (ko tembi'u) es ist gut (dieses Essen) ñande paraguái wir(+) sind Paraguayer ore pochy wir(-) sind verärgert pende ka'u ihr seid betrunken Zwischen Substantiven und Adjektiven kann hier kaum noch eine Grenze gezogen werden. Heißt che tuja "ich bin alt" oder "ich bin ein Alter"? Verben Ein Blick auf das Verbalsystem verstärkt den Eindruck, daß sich das Guarani mit unseren Kategorien nur unzulänglich begreifen läßt. Eine Gruppe von Verben, der z. B. (a)japo ("machen") angehört, wird offensichtlich mit Hilfe von Personalpräfixen "kon jugiert". (Die in Klammern angeführten Subjektpronomina werden in etwa ebenso sparsam verwendet wie im Spanischen): (che) a-japoich-mache (nde) re-japo du-machst (ha'e) o-japo er/sie/es-macht (ñande) ja-japo wir-machen (inklusiv) (ore) ro-japo wir-machen (exklusiv) (peê) pe-japo ihr-macht (ha'ekuéra) o-japo sie-machen Das obige Paradigma steht für die sogenannten areal-Verben (so benannt nach den Präfixen für die 1. und 2. Pers. Sg.). Ganz ähnlich funktionieren die aireal-Verben: zwischen denselben Präfixen und dem Stamm wird lediglich ein -i- eingefügt; also: aipytyvõ ("ich helfe"), reikuaa ("du weißt"), oipota ("er will"), oiko porã ("es geht ihm gut"). Weniger eindeutig "verbal" ist eine weitere Gruppe, die sogenannten verbos chendales oder "pronominalen Verben". Denn die Wurzeln, mit denen die chendales gebildet werden, unterscheiden sich morphologisch nicht von der eingangs charakterisierten Wortkategorie der Substantiv-Adjektive. So kann das Wort für den frühen Morgen, ko'ê, durch Voranstellung der entsprechenden Pronomina verbalisiert werden und entspricht dann dem spanischen Verb amanecer in personaler Verwendung. In dem folgenden Schema erfordert die Nasalharmonie den Gebrauch entsprechender Varianten der Pronomina (ne statt nde etc.) che ko'êmein Morgenamanezco ne ko'ê dein Morgenamaneces iko'ê sein/ihr-Morgen amanece ñane ko'ê unser(+) Morgenamanecemos ore ko'êunser(-) Morgen amanecemos pene ko'ê euer Morgen amanecéis Mba'éichapa ("wie-?") ne ko'ê mag man demnach verstehen als ¿cómo has amanecido?, "Wie war dein Morgen?" oder einfach "Guten Morgen!", was im übrigen der normalen Funktion dieser Floskel entspricht. Das oszillierende Wort tesarái ("Vergessen") wird als chendal-Verb in folgender Weise konstruiert: che resarái mein Vergessen ich vergesse nde resarái dein Vergessen du vergißt hesarái sein/ihr-Vergessen er/sie/es vergißt ñande resarái unser(+) Vergessen wir(+) vergessen ore resarái unser(-) Vergessen wir(-) vergessen pende resarái euer Vergessen ihr vergeßt Der Ausdruck che rory (von tory - "Glück") erlaubt also eine nominale ("mein Glück"), eine adjektivische ("ich bin glücklich") und eine verbale Interpretation ("ich freue mich"). Suffixe und Partikeln Zeiten, Modi und Aspekte werden mit Suffixen, seltener mit Präfixen zum Ausdruck gebracht, die im allgemeinen sowohl mit den a(i)real- als auch mit den chendal-Verben kombiniert werden können. Dabei ist die ohne Suffix verwendete Grundform nicht eindeutig auf das Präsens festgelegt, sondern kann auch für ver gangenes Geschehen verwendet werden, gerade beim Erzählen. In ajapo va'ekue ("ich machte") wird der Vergangenheitscharakter hervorgehoben; das Futur kann lauten: ajapóta ("ich werde machen"), oder auch che rorýta ("ich werde glücklich sein"). Dabei sind zahlreiche Nuancen möglich: ojapóne ("er wird wahrscheinlich machen"); ojapo va'erã ("er muß notwendigerweise machen"); ojapo mbota ("er wird gleich machen"). Allein für den Imperativ gibt es zahlreiche Suffixe und damit Abstufungen der Intensität und Höflichkeit, die in gewisser Weise das Fehlen eines Worts für "bitte" wettmachen. Die Grundform des Imperativs von (a)guapy ("setzen") lautet eguapy ("setz dich"). Eine affektive Variante wäre eguapymi, noch recht freundlich ist eguapýna, ein strengerer Befehl ist eguapýke. Zwischenstufen entstehen durch Kombination der Suffixe, also etwa eguapýkena, eguapymíke oder eguapymíkena. Auch die Funktion von Hilfsverben wird z. T. von Suffixen wahrgenommen: aguapyse ("ich will mich setzen"), ajapouka ("ich lasse machen" bzw. hago hacer). Rohechanga'u bedeutet "ich sehne mich danach, dich zu sehen", wobei -nga'u das Sehnen ausdrückt; hecha ist die Wurzel "sehen" und das Präfix ro- drückt die Beziehung von der 1. zur 2. Pers. Sg. ("ich ... dich") aus. Einen "fiktionalen" Modus zeigt -gua'u an: omba'apo gua'u ("er tut so, als würde er arbeiten"). Suffixe wie -jevy, -nte, -ma, -pa (-mba mit Nasalen) drücken Aspekte von Handlungen und Sachverhalten aus, die im Deutschen adverbial wiedergegeben werden: ahajevýta ich werde wieder gehen oguapýnte er sitzt nur ro§uahêma wir(-) sind schon angekommen hesakãmba es ist vollkommen klar ndokyvéima es regnet schon nicht mehr Fragen werden nicht durch Anheben der Stimme oder Inversion, sondern ebenfalls durch Partikeln (z. B. pa oder piko) markiert, die dem jeweiligen Verb oder Fragewort folgen: re§uahêma piko Bist du schon angekommen? araka'épa pe§uahêWann seid ihr angekommen? mba'éichapa reikoWie geht's (dir)? Eine ganze Reihe von Suffixen dient dem Ausdruck der subjektiven Haltung des Sprechers gegenüber dem Gesagten. Insbesondere gibt es viele Möglichkeiten, einen Sachverhalt hinsichtlich seiner Faktizität oder Glaubwürdigkeit zu bewerten. O§uahêma nipo ra'e bedeutet in etwa "er ist anscheinend schon angekommen". Kurioserweise würde man diesen Satz im español paraguayo mit había sido que ya llegó wiedergeben, wobei había sido offensichtlich die Umsetzung der Guarani-Partikeln ist und sich aus dem europäischen Spanisch nicht erschließt. Wiederum sehr fremdartig und doch höchst ökonomisch wirkt die Struktur von komplexen Ausdrücken, die im Deutschen Nebensatzkonstruktionen erfordern würden. Die Aufgaben von Konjunktionen und Relativpronomina übernehmen wieder Suffixe, von denen einige auch als Postpositionen an Substantive herantreten können: a§uahê rire akarúta Nachdem ich angekommen bin, werde ich essen (vgl. heta ára rire: "nach langer Zeit") okýramo apytáta ógape Wenn es regnet, bleibe ich zu Hause. mbegue katu he'i kure omboguatáva. "Langsam!", sagte der, welcher ein Schwein antrieb. Aguapymi apytu'u ha§ua Ich setze mich ein wenig, damit ich ausruhe. Wortschatz und Wortbildung Das Guarani ist aus einer Kultur hervorgegangen, die mit der von den Europäern eingeführten abendländisch-technischen Zivilisation nur wenig gemein hatte. Die Diglossie-Situation mußte dazu führen, daß der Wortschatz der traditionellen Kultur verhaftet blieb und in diesem Bereich, also etwa der Bennennung von Pflanzen und Tieren, häuslichen und landwirtschaftlichen Techniken, auch heute noch eine beachtliche Differenzierung aufweist und dabei dem castellano weit voraus ist. In seinem Wörterbuch verzeichnet A. Guasch allein an Bezeichnungen für "Mais" an die 40 Einträge. Wenn es darum geht, gewisse nicht-traditionelle Sachverhalte auszudrücken, scheint das Guarani hingegen vollkommen zu versagen, nicht nur, weil es die Modernisierung des Vokabulars versäumt hätte, sondern auch weil gewisse psychologische Kategorien den Guarani-Sprecher nach wie vor nicht zu interessieren scheinen. So reduziert sich die spanische Vielfalt positiv bewertender Adjektive und Adverbien von bastante über bueno, bien, bello, hermoso und lindo bis zu óptimo im Guarani auf porã, das freilich durch Suffixe noch nuanciert werden kann. Ein weiteres Argument, das oft gegen das Guarani ins Feld geführt wurde, ist, daß es ursprünglich nur über die Zahlen von 1 bis 4 verfügte (inzwischen hat man ein Zählsystem "erfunden", das allerdings weit davon ent fernt ist, sich durchzusetzen, auch wenn die Beschriftung der paraguayischen Geldscheine das suggeriert). Keinesfalls liegt diese scheinbare Armut an Ausdrucksmitteln daran, daß die Sprache Abstraktionen und philosophische Spekulationen generell nicht er lauben würde. Das hohe gedankliche Niveau der mythischen Gesänge etwa der Mbya, zu Recht filósofos de la selva genannt, und überhaupt die am heiligen Wort (ñe'ê) ausgerichtete traditionelle Religion der Guarani, beweisen das Gegenteil. Zwar scheinen und glauben sich paraguayische campesinos weit von den Lebensformen ihrer indianischen Vorväter entfernt zu haben. Wenn sie Guarani sprechen, respektieren sie aber noch immer ein überkommenes System der Verwandtschaftsbeziehungen. Vollkommen andere Wörter werden jeweils verwendet, wenn der Mann von seinem oder die Frau von ihrem Bruder spricht, und je nach dem, ob der ältere oder der jüngere Bruder gemeint ist. Der Mann spricht von seinem Sohn als che ra'y, von seiner Tochter als che rajy; die Frau hingegen verwendet che memby unabhängig von dem Geschlecht ihres Kindes. Der Mann spricht von seiner Ehefrau als che rembi reko, was nicht gerade auf matriarchalische Strukturen schließen läßt, bedeutet es doch "mein Gehabtes". Im Prinzip ist das Guarani bestens für die Herausforderung auch der modernen Zivilisation gerüstet. Als die ersten Flugzeuge auftauchten, hat man sie metaphorisch kurusu veve ("fliegendes Kreuz") getauft. Die meisten Neubildungen nutzen die Effizienz der vielfältig vorhandenen Wortbildungsmechanismen. Das Kollektivsuffix -ty, (-ndy mit Nasalen) macht aus einer Pflanze eine ganze Pflanzung: z. B. avati-ty - "Maisfeld", pety-ndy - "Tabakpflanzung". Nach dem gleichen Prinzip wird aus ñe'ê ("Wort" / "Sprache") ñe'endy ("Wörterbuch"). Das Alphabet ist das Ache gety, gleichsam der Ort, wo die Buchstaben des Guarani-Alphabets (a, ch, e, g etc.) wachsen. Im verbalen Bereich ist das "koaktiv"- Infix -mbo- (Nasalform -mo-) sehr produktiv. So wie aus akaru ("essen") amongaru wird ("jn. essen machen" bzw. "füttern"), so aus añe'ê ("sprechen") amoñe'ê, ("[Papier] sprechen machen") was im modernen Kontext "lesen" bedeutet. Daß das Guarani keine "unterentwickelte" Sprache ist, sondern lediglich seine reichen Ausdrucksmöglichkeiten in der derzeitigen Sprachsituation nicht voll entfaltet, steht außer Frage. Bei allem berechtigten Bemühen um Modernisierung, Verschriftlichung und Normalisierung sollte freilich nicht vergessen werden, daß diese Sprache aus einer heute fast ausgelöschten indianischen Kultur hervorgegangen ist, der das lebendige, gesprochene Ur-Wort heilig war. Unter den Europäern konnte es sich aber letztlich kein Gehör verschaffen. In ihrer kulturellen und sprachlichen Nachfolge stehen heute - auch wenn es nur wenigen bewußt ist - die campesinos, Träger einer mestizischen, vor allem aber einer verarmten Kultur, die oft nicht anders kann, als sich leise und oft "nur" mündlich auf Guarani zu artikulieren. Die Sprache dieser Menschen zu stärken, zu bewahren, und zu erforschen, bedeutet, ihnen gut zuzuhören. Textprobe Als authentische Textprobe nun die populäre Legende vom Waldgeist Jasy Jatere in drei Fassungen: auf Guarani, als Interlinearversion und in einer normalen deutschen Übersetzung. Präfixe, Suffixe und Partikel wurden, soweit es möglich schien, lexikalisiert: das Finalsuffix ha§ua erscheint als "-damit", das Relativsuffix -va als ",-was" etc. Der Bindestrich vor einem Wort soll dessen Suffixcharakter andeuten. (Der Text stammt aus der Guarani-Beilage der ABC-Revista vom 16.1.94.) Mombe'u gua'u Jasy Jatere rehegua Erzählung "fingiert" J. J. -über Die Legende von Jasy Jatere Jasy Jatere niko5 peteî mitã'i oikova kañyhápe ka'aguy Jasy Jatere (!) ein Kind-chen lebt-,was Verborgen-in Wald Jasy Jatere ist ein Kind, das verborgen inmitten des Waldes mbytére. Osê asajepyte ogueraha ha§ua mitã Mitte-in. Es-geht-aus mittags-Mitte es-holt -damit Kind(er) lebt. Mittags kommt es hervor, um die Kinder zu holen, iñakãhatáva ha ndokéiva asaje, oñembosarai sein-Kopf-hart-,was und nicht-schläft-,was mittags, es-spielt die nicht gehorchen und mittags nicht schlafen, um mit ha§ua hendive ha omongaru yva ha -damit ihnen-mit und es-macht-essen Obst und ihnen zu spielen, um ihnen Früchte zu essen zu geben und eiretérehe. Oñembosaraipa rire, oñapytî ysypóre Honig-wegen. Es-spielt-fertig -nach es-bindet Liane-mit Wildhonig. Wenn es fertiggespielt hat, fesselt es mit Lianen mitãme, opytáva iñakãtavy téra iñe'engu. Kind-in6, es-bleibt-,was sein-Kopf-dumm oder sein-stumm. die Kinder , die dann betäubt sind oder verstummen. Heta ára rire oî porã jevy pe mitã. Viel Zeit -nach ist gut wieder dieses Kind. Nach einiger Zeit geht es diesen Kindern wieder gut. Jasy Jatere yvágaicha hesa hovy ha kuarahy J.J. Himmel-wie sein-Auge sein-blaugrün7 und Sonne J.J.s Augen sind blau wie der Himmel und golden wie mimbýicha iñakãrague sa'yju. Michî ramo jepe mborayhu Schein-wie sein-Kopf-Haar gelb. Klein-wenn-obwohl Liebe der Sonnenschein ist sein Kopfhaar. Auch wenn er klein ist, añetégui henyhê; ha ipópe ogueraha ka'a rakã wahr-von sein-voll; und sein-Hand-in es-trägt Mate Zweig ist er voll von aufrichtiger Liebe. In der Hand trägt er pehengue ome'êva chupe mba'ekuaa. Okañýramo ipokoka Stück es-gibt-,was ihm Wissen. Es-verliert-wenn sein-Stock, einen Matezweig, der ihm Weisheit verleiht. Wenn er ihn oho chugui imba'ekuaa ha opyta es-geht ihm-von sein-Wissen und es-bleibt verliert, verliert er auch seine Weisheit und wird oikorei. Oje'e avei hese ogueruha es-taugt-nichts. Es-sich-sagt auch ihm-von es-trägt-daß machtlos. Es heißt auch von ihm, er bringe ijapére ka'avo ryakuã, ysapy poty sein-Schulter-auf Kraut duftend, Liane Blüte duftende Kräuter, Lianenblüten ha guyra ñe'ê: Ejehayhuka ha§ua und Vogel Stimme. Dich-lieben-machen -damit und Vogelstimmen mit sich. Um dich beliebt zu machen Jasy Jaterére emoî va'erã petü óga jerere. J.-J.-durch ¡-lege -notwendig Tabak Haus herum. bei J.J. , mußt du dein Haus mit Tabak umgeben. Weiterführende Literatur Guasch, Antonio, S.J. und Diego, S.J. Ortiz: Diccionario Cas tellano-Guaraní/Guaraní Castellano. Sintáctico - fraseológico - ideológico. Grafía actualizada, Asunción: Centro de Estudios Paraguayos, 71991. Krivoshein de Canese, Natalia: Gramática de la lengua guaraní, Asunción: Colección Ñemitü, 1983. Krivoshein de Canese, Natalia und Graziella Corvalan: El Español del Paraguay en contacto con el Guaraní, Asunción 1987. Melià, Bartomeu: La lengua guaraní del Paraguay. Historia, sociedad y literatura, Madrid: MAPFRE, 1992. Melià, Bartomeu, Luis Farré und Alfonso Pérez: El Guarani a su alcance. Un método para aprender la lengua Guarani del Paraguay, Asunción: CEPAG, 1992. Roa Bastos, Augusto: "Una cultura oral", in: Tovar, Paco (Hrsg.): Augusto Roa Bastos. Antología narrativa y poética. Documentación y estudios, Barcelona: Anthropos, 1991, S. 99-111. Romero, Roberto A.: Protagonismo histórico del idioma Guarani, Asunción 1992. Von Gleich, Utta: "Paraguay - Musterland der Zweisprachigkeit", in: Quo vadis Romania, 1 (1993), S. 19-30. _______________________________ 1Augusto Roa Bastos, El fiscal, Buenos Aires 1993, S. 280 2Margot Ayala de Michelagnoli: Ramona Quebranto, Asunción 1989, S. 43. 3v. Gleich, S.21. 4Antonio Tovar: Catálogo de las lenguas de América del Sur. Enumeración, con indicaciones tipológicas, bibliografía y mapas, Buenos Aires 1961. 5"Admirativ"-Partikel 6Akk. der Person 7Zwischen blau und grün wird nicht unterschieden.