4.1 Der Supremo Dictador als zentrales Moment im Gesamtwerk von Roa Bastos
Die Figur des ersten paraguayischen Diktators nimmt im Werk von Roa Bastos unbestritten eine zentrale Rolle ein. Dies entspricht der Bedeutung, die der Autor der historischen wie mythischen Figur des Doktor Francia als padre fundador innerhalb der paraguayischen Entwicklung zuordnet:
"La figura histórica del doctor José Gaspar Rodríguez de Francia, director civil de la emancipación del Paraguay, fundador político de la nación y del Estado que le dio origen era por el contrario, y lo sigue siendo, una presencia importante, la más importante y capital- debería agregar- puesto que incarna la figura del Padre en el seno de la sociedad paraguaya. Esta figura histórica de Gaspar de Francia, unida y confundida con su figura mítica, forma un personaje que domina inescrutable y severo el trasfondo de la sensibilidad de la nación paraguaya que tiene en él su prócer fundacional."
Für den Schriftsteller Roa Bastos, der sich in starkem Maße mit seinem Volk und dessen Geschichte identifiziert und beides zum Gegenstand seiner literarischen Auseinandersetzung macht, ist es daher unumgänglich, jener Schlüsselfigur eine zentrale Position innerhalb seines Werkes einzuräumen. Eine besondere Bedeutung erhält die mythische Figur des Herrschers bereits in der Kindheit von Roa Bastos, entpuppt sie sich als erzieherisches Druckmittel seiner Eltern: "Mi vida de niño, como la de la mayoría de los niños del Paraguay, sufrió en carne viva esta influencia en un hogar donde la memoria de José Gaspar de Francia, el maldito y infernal Karaí Guasú [...] había sustituido con ventaja al cuco, dueño del miedo, de la infancia." Von seinem Vater mit den Worten, "!Ahí lo tienen al futuro tirano!", "!Cachorro del Karaí Guasú!" zurechtgewiesen, verbindet sich die kindliche Furcht Roa Bastos` gegenüber dem Padre fundador mit der gegenüber seinem strengen leiblichen Vater. Die alltägliche Präsenz des Supremo als hombre de miedo in der kindlichen Mythologie mag ihn dreizehnjährig zu der Erzählung Lucha hasta el alba veranlaßt haben. Sie hat eine erste Auseinandersetzung mit der mythischen Figur des Diktators in Verbindung mit der strengen väterlichen Erziehung zum Inhalt. In einer sehr viel später überarbeiteten Fassung wurde die Erzählung 1979 erstmals publiziert und vom Autor selbst als frühester Vorgänger seines zweiten Romans, Yo el Supremo, definiert: "El cuento primerizo, inédito y olvidado durante más que cuarenta años- [...] podría ser considerado tal vez como el más lejano antecedente generador o suscitador de la novela Yo el Supremo." Verschiedene strukturelle wie inhaltliche Elemente, die in präzisierter Form im Roman auftauchen, sind in diesem kindlichen Cuento bereits angelegt, worauf an dieser Stelle nur ansatzweise eingegangen werden kann. Der Dictador Perpetuo steht in der Erzählung repräsentativ für die unterdrückende Vaterfigur als solche und spaltet sich auf in die Person des leiblichen Vaters und die des Dios-Padre. Die Romanfigur erfährt eine grundsätzliche Aufspaltung in ein Yo und ein Él. Im Cuento bedient sich bereits der kindliche Roa Bastos, wenn auch unbewußt, der Intertextualidad, indem er von seiner Mutter in Guaraní kommentierte bib-lische Verse - und damit Texte mündlicher Tradition - in die Erzählung einfließen läßt; im Roman werden unterschiedlichste schriftliche Quellen und mündliche Traditionen zu einem neuen Text vereint.
In Hijo de hombre , Roa Bastos` erstem Roman, zieht sich die mythisch-historische Figur des Doktor Francia ebenfalls wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel: "la memoria viva del Padre Fundador, reencarnación del Padre Último-Primero de la cosmografía guaraní, une los diferentes eslabones de la inacabable cadena de personajes rebeldes, defensores de la dignidad humana: Macario Francia, Gaspar Mora, Casiano y Cristóbal Jara." Setzt sich die Francia-Figur in Hijo de Hombre aus mythischer, historischer und in der Person des Erzählers, Miguel Vera, "lebendiger" Gestalt zusammen, so lassen sich auch hier eindeutige Parallelen zur Präsentation des Diktators in Yo el Supremo erkennen. Die Darstellung des Doktor Francia aus der Sicht des Macario in Hijo de hombre wird darüberhinaus im zweiten Roman von Augusto Roa Bastos intertextuell eingeflochten. In Yo el Supremo - schließlich - widmet sich der Autor erneut dem zentralen Gegenstand seiner Literatur, indem er die Handlung des Romans um die mythische Gestalt des Dictador Perpetuo entwickelt. Er selbst bemerkt zu seiner literarischen Auseinandersetzung mit der Person des Diktators in seinem zweiten Roman:
"Sólo sé decirle que la figura del Doctor Francia, como ´núcleo generador` de una narración, me rondó y tentó siempre desde los comienzos de mi actividad literaria. Recordará usted que su figura aparece ya en algunas de mis obras anteriores; especialmente en la primera parte de mi novela Hijo de hombre, en el relato de Maca- rio, el anciano centenario que representa la memoria viviente del pueblo."
Zum zentralen Moment des roabastianischen Werkes wird folglich nicht die "reale", historische Figur, die sich zeitlich auf eine Epoche festlegen läßt, sondern die mythische, im Geiste des paraguayischen Volkes bis in heutige Zeit präsente.
4.2. Die literarische Präsentation des Diktators in Yo el Supremo
Die Komplexität des zweiten Romans von Augusto Roa Bastos - auf struktureller und inhaltlicher Ebene - stößt seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1974 auf ein breites Interesse bei der internationalen Kritik. Sie führte zu einer Vielzahl von Publikationen, in denen der Versuch unternommen wird, die verworren anmutende Konzeption des Werkes aufzudecken. Eine umfassende strukturelle Analyse des Romans würde im begrenzten Rahmen der vorliegenden Arbeit zu weit führen. Einige grundsätzliche Konzeptionsmerkmale bedürfen jedoch einer näheren Erläuterung, da sie das Francia-Bild in Yo el Supremo entscheidend prägen.
Die Einordnung des Romans unter eine bestimmte Gattung ist in der Sekundärliteratur umstritten. Es handelt sich weder um eine romanhafte Biographie des Allerhöchsten Diktators, noch um einen historischen Roman. Folgendes Zitat verdeutlicht die Schwierigkeit einer Kategorisierung des Werkes, das demnach als Mischform verschiedener Textgattungen anzusehen ist :
"La novela tal como puede ser entendida en Yo el supremo es una visión, mítica y crítica, de múltiples perspectivas, biografía, historia, ficción, verdadera realidad recreada. La biografía se ocupa del hombre; la historia de la personalidad; la no- vela, de la mitificación ennoblecedora y de la desmitificación que abajo el gran hombre hasta su caricatura."
Damit wird bereits offensichtlich, daß die Präsentation des Diktators aus verschiedenen Perspektiven erfolgt, Francia nicht als singuläre historische Person auftritt. Oberflächlich erscheint die Persönlichkeit des Protagonisten auf das Diktieren seiner Gedanken reduziert. So erweist sich der Roman auf den ersten Blick als ununterbrochener Monolog des Supremo. Die traditionelle Einteilung in Kapitel oder durchnumerierte Abschnitte weicht einer Aneinanderreihung von Textpassagen unterschiedlichen Umfangs, die, teilweise durch Titel gekenn-zeichnet, einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden können und sich zu einem mehr oder weniger kompakten Text zusammenfügen. Es lassen sich vier grundsätzliche Kategorien unterscheiden: das Circular perpetua, der Cuaderno privado, los apuntes und die notas. Das Circular perpetua hat historisch-politische Aspekte zum Inhalt, die der Diktator seinem Sekretär diktiert, und richtet sich mit Ratschlägen und Anordnungen an alle Funktionäre des Staates. Nach Ano Ring stellt es die chronologisch- historische Achse der Romanhandlung dar. Im Cuaderno privado werden Gedanken zu unterschiedlichen Themen, Reflexionen und Betrachtungen des Supremo festgehalten. Die dort verzeichneten Notizen haben als alleinigen Adressaten den Diktator selbst. Unter den apuntes sind Textpassagen zu verstehen, in denen ein Dialog/ Monolog zwischen Sekretär und Diktator stattfindet. Die Kategorie der notas umfaßt alle innerhalb oder außerhalb des Textflusses angeordneten Anmerkungen oder Zitate und repräsentiert die Arbeit eines imaginären Kompilators, der in einer nota final über seine Tätigkeit Aufschluß gibt. So werden Bemerkungen des Verfassers, Zitate aus anderen Texten, echte und imaginäre Dokumente oder Quellen unmittelbar in die Handlung des Romans integriert. Die historischen Quellen wie die Texte von Rengger, Carlyle und den Gebrüder Robertson sind nur eine von diversen Textgattungen, auf die sich der Roman bezieht. Ebenso werden Anleihen aus der Weltliteratur (Sade, Cervantes, William Blake u.a.), von Klassikern der römischen und griechischen An-tike sowie der mündlichen Tradition oder Mythologie, speziell der Guaraní, bei näherer Betrachtung sichtbar. Die verzweigte Struktur des Romans ergibt sich aus dem ständigen Wechsel der einzelnen Textsequenzen, die dadurch quasi unter-brochen und doch miteinander verflochten werden. Da sämtliche aufgeführte Komponenten zur Charakterisierung des Protagonisten beitragen, bedeutet dies hinsichtlich des Francia-Bildes in Yo el Supremo, daß es sich nicht auf die eine oder andere Variante der Darstellung seiner Person festlegen läßt. Es ist vielmehr als vielschichtige Komposition der in den einzelnen textlichen Einheiten entworfenen Bilder zu verstehen. Die literarische Präsentation des Diktators ist somit in starkem Maße pluralistisch. Die Aufspaltung des Protagonisten in Yo und Él stellt sich als tragendes Konzept der Darstellung des Supremo heraus. Er tritt als gespaltene Persönlichkeit auf, die sich aus einer irdischen oder sterblichen, "historischen" Person (Yo) und einer in der Vorstellung existierenden (mythischen), überzeitlichen Person (Él) zusammensetzt. Oliver C. Gliech stellt dazu fest:
"Die beiden Personen, in die der Diktator periodisch zerfällt, ein "Ich" und ein "Er", bilden den zentralen Binarismus des Romans. Darin drückt sich der Konflikt zwischen der Zeitlichkeit des Individuums und der Überzeitlichkeit des personifi- zierten Mythos aus. Die gespaltene Persönlichkeit hat also nichts mit einer mögli- chen Schizophrenie des Protagonisten zu tun."
Yo und Él fließen zu einer Doppelgestalt zusammen. Eine eindeutige Trennung beider Dimensionen der Diktatorfigur läßt sich nur in soweit vornehmen, daß sie an eine bestimmte textliche Einheit gebunden sind: Yo "spricht" im Cuaderno Privado, Él kommt im Circular perpetua zu Wort. Dabei findet jedoch immer wieder eine Konfrontation der einen mit der anderen Dimension statt.
Aus der Aufspaltung der Figur resultiert die unbestimmte zeitliche Ebene des Romans. Da es sich bei der Person des Diktators sowohl um ein reales als auch ein mythisches Individuum handelt, läßt sich die Frage nach der Romanzeit nicht eindeutig beantworten. "Die Grundzeit des Romans ist eine mythische. Sie wird von ungeordneten Sequenzen der Realzeit unterbrochen. Das scheinbar chaotische Durcheinander der Zeitebenen entspricht der synkretistischen Natur des Romans."
Wird in Yo el Supremo die Chronologie weitestgehend aufgehoben, so hat dies zur Folge, daß Ereignisse unterschiedlicher Zeiten miteinander verschwimmen. Außerdem wird die Darstellung des Diktators aus seiner eigenen Perspektive - die im Roman überwiegt - seine Selbstbeurteilung als reale wie magische Gestalt, erst durch die Aufhebung zeitlicher Grenzen möglich. Im Hinblick auf das Verhältnis Historie/ Fiktion wird die Zeitlichkeit des Romans nochmals zur Sprache kommen.
Darüber hinaus bestimmt die Verschmelzung von indianischer und spanisch-europäischer Weltsicht auf linguistischer wie konnotativer Ebene die literarische Präsentation des Diktators mit. Als Verkörperung der absoluten Macht nimmt die Figur z.B. vorübergehend die Gestalt eines gottähnlichen Wesens an, das sich an verschiedenen Textstellen als Ur-Gott der Guaraní entpuppt. Entscheidend für die vielfältige Darstellung des Diktators ist vor allem auch die bereits erwähnte Tätigkeit des imaginären Kompilators, die den Roman schließlich als Komposition unterschiedlicher mündlicher wie schriftlicher Quellen definiert:
" Esta compilación ha sido entresacada - más honrado sería decir sonsacada - de unos veinte mil legajos, éditos e inéditos; de otros tantos volúmenes, folletos, periódicos,[...] Hay que agregar a esto las versiones recogidas en las fuentes de la tradición oral, y unas quince mil horas de entrevistas grabadas en magnetó- fono [...]Ya habría advertido al lector que, al revés de los textos usuales, éste ha sido leído primero y escrito después. En lugar de decir y escribir cosa nueva, no ha hecho más que copiar fielmente lo ya dicho y compuesto por otros. No hay pues en la compilación una sola página, una sola frase, una sola palabra, desde el título hasta esta nota final, que no haya sido escrita de esa manera."
Durch die Intertextualität des Werkes entstehen diverse Facetten des Prota-gonisten, die es hinsichtlich der Charakterisierung des Francia-Bildes zu unter-suchen gilt.
4.3 Charakterisierung der Person des Doktor Francia im Roman
Die durch Pluralismen/ Dualismen gekennzeichnete äußere und innere Struktur des Romans schließt vorab aus, daß die Romanfigur auf eine konkrete historische Person fixierbar ist, zumal sie in Yo el Supremo nicht einmal einen Namen trägt. Augusto Roa Bastos antwortet auf die Frage nach der Identität seiner Romanfigur: "Con su pregunta de si el Doctor Francia es el protagonista de la novela, no cabe duda de que lo es, al menos como figura mítica central inspirada en el personaje histórico. Mi proyecto de trabajo fue éste; no sé si ha sido logrado. Esto lo juz-garan los lectores." Damit weigert sich der Autor, den Protagonisten in Yo el Supremo auf eine singuläre Persönlichkeit festzulegen. Es wird deutlich, daß es sich um die (Re-) Kreation einer ehemals real existierenden Person und somit um eine fiktive Gestalt handelt, die unterschiedliche Dimensionen in sich vereinigt. "Es decir que la polémica esencial no es entre Francia y los otros personajes en el aparente diálogo: es la de Francia con sus distintas personalidades en las distintas versiones que de él da." Für die Untersuchung des Francia-Bildes im Roman resultiert daraus die Schwierigkeit, die Figur in der Komplexität ihrer Interpretation zu erfassen. Ohne Berücksichtigung der strukturellen Aspekte des Werkes scheint dies kaum möglich. Daher müssen sie in der folgenden Analyse zumindest partiell miteinbezogen werden.
4.3.1 Yo/ El: zwei "Gesichter" des Diktators im Roman
4.3.1.1 Vergleichende Aspekte
Die bereits erwähnte Aufspaltung der Diktator-Figur in ein Yo und ein Él innerhalb des Textes deckt nicht alle im Roman entworfenen Facetten des Diktators ab. Als zentraler Binarismus des Romans soll sie dennoch gesondert betrachtet werden. Der Zerfall des Diktators in zwei "Personen" kündigt sich bereits im Titel des Werkes, Yo el Supremo, an. Trennt in der deutschen Übersetzung ein Querstrich die beiden Bestandteile des Titels, Ich und der Allmächtige, so wird damit die Gespaltenheit der Romanfigur nachempfunden. Sicher ist der Romantitel jedoch nur im übergeordneten Kontext des Werkes als Schlüssel für die Interpretation anzusehen. Das bestätigt Roa Bastos:
"La relación que el título de la novela establece entre el personaje histórico y el personaje novelesco es justamente este nexo entre el yo individual y el él colectivo. Yo-Supremo es El Supremo porque está investido del Dictador Perpetuo. El título de la novela sólo revela su significado profundo con relación a la totalidad del texto. Las reflexiones del Supremo acerca de esta relación YO/EL son las que dan este sentido del título y lo convierten en clave significativa."
Eine definitive Trennung beider "Personen" ist nicht möglich, da sie sich - wie der Autor selbst darlegt - in der Figur des Dictador Perpetuo zu einer Doppelgestalt vereinigen. Dennoch lassen sich zwei grundsätzliche "Gesichter" des Diktators unterscheiden. Die Reflektionen des Protagonisten über die Relation YO/ EL im Roman geben einen konkreten Hinweis zum Verständnis der Doppelgestalt:
"Todos se calman pensando que son un solo individuo. Difícil ser constantemente el mismo hombre. Lo mismo no es siempre lo mismo. YO no soy siempre YO. El único que no cambia es Él. Se sostiene en lo invariable. Está ahí en el estado de los seres superlunares. Si cierro los ojos, continúo viéndolo repetido al infinito en los anillos del espejo cóncavo. [...]Si a veces Él me mira sucede entonces que mi cama se levanta y boga al capricho de los remolinos, y YO acostado en ella viéndolo todo desde muy alto o desde muy bajo, hasta que todo desaparece en el punto, en el lugar de la ausencia. Sólo Él permanece sin perder un ápice de su forma, de su dimensión; más vale creciendo- acreciéndose de sí propio." (YES, S. 143)
Das Yo ist folglich als Gestalt zu verstehen, die empfindet, fühlt und sich der Zweiheit ihrer Person sowie der Begrenztheit ihres Daseins bewußt ist, während das Él als unpersönliche, überzeitliche Gestalt des Diktators auftritt. Carlos Pacheco übernimmt bezüglich der Wesensart der beiden Komponenten die Unter-scheidung zwischen persona corpórea (YO) und figura impersonal (EL) aus dem Roman: "[...] atacaban a El Supremo como una sola persona, sin tomarse el trabajo de distinguir entre Persona-corpórea/ Figura impersonal. La una puede envejecer, finar. La otra es incesante, sin término." (YES, S. 212) Veränderlichkeit, Vergänglichkeit und Fehlbarkeit charakterisieren das Yo dieser Differenzierung zufolge als "reale" menschliche Figur. Unveränderlichkeit, Unfehlbarkeit und Ewigkeit weisen das Él als abstraktes Bild der Diktator-Figur und somit als mythisches, überhistorisches Wesen aus:
"En terminos más generales puede decirse que el YO aparece como un ser humano concreto, histórico y cambiante. Es una "Persona Corpórea", que duda, sufre, se equivoca, envejece y enfrenta la muerte. Entre tanto EL aparece como una imagen una apariencia del poder absoluto, caracterizable como abstracta, eterna, invaria- ble, infalible y omnipotente. Es una "Figura Impersonal" de carácter mítico, divi- no,[...].
Es wurde bereits erwähnt, daß beiden Komponenten eine eigene Textkategorie zugeordnet werden kann, wenngleich sie in anderen Textsequenzen ebenfalls auftreten. Im Cuaderno privado reflektiert das Yo über psychologische, meta-physische, ästhetische, linguistische und ethische Themen. Seine Haltung ist autokritisch, hinterfragend und durch Pessimismus und Selbstzweifel gekenn-zeichnet. Die Darstellung bezieht sich auf den privaten oder intimen Bereich des Diktators und tendiert zum Autobiographischen. Dagegen präsentiert sich das Él im Circular perpetua als über der Realität und der Historie stehende, quasi handelnde Persönlichkeit. Sie spricht über historische und politische Themen, aber nie ausdrücklich über sich selbst. Él ist Träger der Attribute und Symbole von Macht. Seine Rede ist durch eine imperative Haltung und selbstrechtfertigende Äußerungen gekennzeichnet und richtet sich als Lektion an die Öffentlichkeit, während die Autoreflektion im Cuaderno privado ausschließlich an die private Diktator-Figur adressiert ist. Die Präsentation der jeweiligen Person erfolgt in beiden Texteinheiten aus der Perspektive des Sprechers oder Diktierenden. Somit ist sie vor allem als differenzierte Selbstbeurteilung des Protagonisten anzusehen, die sich allerdings aus verschiedenen mündlichen wie schriftlichen Traditionen zusammenfügt: "[...]cierto es que la figura que quedará en pie, sombría y delirante, es la pergeñada por la erudición y fantasía de este "Yo el supremo", donde la floresciencia épico mítica de un pueblo y el riguroso tratamiento de un escritor se aúnan para superar la caótica e inasible personalidad del doctor Francia."
Das Verhältnis Yo/Él ist durch die Disharmonie zwischen beiden Komponenten gekennzeichnet. Das Yo beobachtet, fürchtet, beschreibt und kritisiert das Él, während das Él das Yo ignoriert, verachtet, unterdrückt, isoliert und zum Schweigen bringt.
Es muß nochmals betont werden, daß es sich bei der Aufspaltung der Figur in Yo und Él nicht wirklich um zwei Personen, sondern um zwei verschiedene Versionen des Supremo handelt: "YO es Él, definitivamente. YO-Él SUPREMO." (YES, S. 589), stellt das Yo fest. Wie läßt sich die gespaltene Romanfigur erklären? Oliver C. Gliech sieht eine mögliche Grund- oder Vorlage der Doppelgestalt bei Roa Bastos in der indianischen Religion: "In der Religion der Guaraní/ Matako hat jedes Wesen eine Doppelnatur, in jedem Individuum wohnen mehrere Seelen. Francia wird durch seine Mythifikation zum Zwillingswesen. Es gibt eine Person, die tatsächlich gelebt hat ("Ich"), und eine die allein in der Vorstellung existiert ("Er")." Die Selbstdefinition der Romanfigur als quimera in der Bedeutung eines aus heterogenen Teilen zusammengesetzten Wesens, läßt zudem eine Parallele zu den aus der griechisch-lateinischen Mythologie stammenden Doppelwesen (Minotaurus/ Sphingen) erkennen.
Ebenso heterogen präsentieren sich die beiden Komponenten der Diktator-Figur im Roman. Da der Supremo sich als menschliche Gestalt in jeder Hinsicht von der abstrakten, mythischen Gestalt seiner selbst unterscheidet, ist es im Hinblick auf das im Roman entworfene Francia-Bild sinnvoll, Yo und Él separat zu betrachten.
4.3.1.2 Yo: der Diktator als einsame und autokritische menschliche Figur
Die Reflektionen des Yo im Cuaderno privado vermitteln dem Leser vorrangig einen differenzierten Eindruck von der privaten Diktator-Figur. Sie erfolgen aus einem gegenwärtigen Zeitpunkt und beziehen sich häufig auf Zurückliegendes. Der Gegenwartsbezug besteht darin, daß sich die Figur kurz vor ihrem Lebensende befindet und auf verschiedene Stationen ihres Lebens zurückblickt bzw. auf ihr mythisches Fortleben nach dem Tod vorausblickt: "Cuánto hace que no duermo! Todo se repite a imagen de lo que ha sido y será." (YES, S. 294). Auf den herannahenden Tod des Protagonisten erhält man zahlreiche Hinweise im Roman: "La muerte no nos exige tener un día libre. Aqui la esperaré sentado trabajando. La haré esperar detrás de mi sillón todo el tiempo que sea necesario." (YES, S. 224), stellt der Supremo fest. Zuweilen zweifelt er an seiner noch bestehenden menschlichen Existenz und glaubt sich bereits tot: "Incómodo estar vivo/ muerto al mismo tiempo." (YES, S. 106) Darin drückt sich ein zentraler Konflikt der menschlichen Diktator-Figur aus. Sie ist sich ihrer Dualität bewußt und leidet darunter. Sie fühlt sich eingeschlossen, isoliert durch die abstrakte Gestalt des Dictador Perpetuo. Mithilfe eines Bildes wird diese Problematik verdeutlicht:
"El Yo sólo se manifiesta a través de Él. Yo no me hablo a mí. Me escucho a través de Él. Estoy encerrado en un árbol. El árbol grita de su manera. ¨Quién puede saber que yo grito dentro de él? Te exigo pues el más absoluto silencio, el más absoluto secreto. Por lo mismo que no es posible comunicar nada a quien está fuera del árbol. Oirá el grito del árbol. No escuchará el otro grito. El mío." (YES, S. 159)
Der bevorstehende Tod des Yo ist demnach auch symbolisch zu verstehen. Das abstrakte Diktator-Bild läßt die menschliche Figur verstummen. Das Yo wird nicht gehört und existiert somit nicht. Die Gespaltenheit der Person wird für das Yo zu einer permanenten Bedrohung seiner Existenz. Einerseits ist sie Ursache der Selbstzweifel des Supremo und der Ungewißheit gegenüber seinem Status: "Me encontré en el caso de quien ya no puede decir Yo porque no está solo sintiéndose más solo que nunca en esas dos mitades, sin saber cuál de ellas pertenece." (YES, S. 154) Andererseits bedingt sie die unaufhaltsame Unterdrückung der menschlichen Figur bis hin zu ihrem völligen Verschwinden hinter der übermächtigen Gestalt des Él. Für den Supremo wird sie mehr noch als seine körperlichen Leiden zur unerträglichen Qual:
"Abandono mi cuerpo de muchos sufrimientos.[...] El sufrimiento físico no me atormenta. Puedo dominarlo, sacármelo de encima, más fácilmente que la camisa. me atormenta lo que pasó en aquella tormenta. Dolor de otra especie. Partióme de un mandoblazo; me hizo doble empequññeciéndome a menos de la mitad la que va decreciendo rápidamente. Dentro de poco no quedará más que esta mano tiranosauria, que continuará escribiéndo,[...]." (YES, S. 237)
Daraus resultiert die Notwendigkeit, zu sich selbst zu sprechen. Der Monolog im Cuaderno privado wird zum Kampf gegen das Versiegen der menschlichen Existenz des Supremo:
"Al principio no escribía; únicamente dictaba. Después olvidaba lo que había dictado. [...] Ahora debo dictar/ escribir; anotarlo en alguna parte. Es el único modo que tengo de comprobar que existo aún. Aunque estar enterrado en las letras ¨no es acaso la más completa manera de morir? [...] La vieja vida burbujea pensamientos de viejo. Se escribe cuando ya no se puede obrar." (YES, S. 143)
Versteht man Roa Bastos` Roman zugleich als Angriff auf die Geschichtsschreibung, so läßt die obige Aussage des Supremo eine weitere Deutungsmöglichkeit zu: Die Endgültigkeit der historischen Darstellungen, die den Diktator auf ein bestimmtes Bild festlegt, läßt die menschliche Figur im übertragenen Sinne sterben.
Wenngleich das Schreiben zum einzigen Lebenszeichen des Yo wird, so ist sich der Hombre Supremo dennoch der Bedeutungslosigkeit dessen bewußt. "Decir, escribir algo no tiéne ningún sentido. Obrar sí lo tiene. La más innoble pedorreta del último mulato que trabaja en el astillero[...] tiene más significado que el lenguaje escrituario, literario." (YES, S.337) Dementsprechend geringschätzig fällt die Selbstbeurteilung seiner Person aus: "En tanto ¨qué puedo decir de mí ? Soy menos que el agua que pasa. Menos que el animal que vive y no sabe que vive." (YES, S. 425)
Die zweideutige Isolation der Person führt dazu, daß ihr Leben vor allem von Einsamkeit geprägt ist. Neben dem Gefühl der Eingeschlossenheit des Yo in der abstrakten Diktator-Figur - auf geistiger Ebene - macht sein an Liebe armes Leben auf zwischenmenschlicher Ebene die Einsamkeit des Supremo aus. Beides wird für die Figur zu einer leidvollen Erfahrung, die sie am Ende ihres Lebens schmerzhaft empfindet:
"Por todas estas lejanías he pasado con persona mía a mi lado, sin nadie. Solo. Sin familia. Solo. Sin amor. Sin consuelo. Solo. Sin nadie. Solo en país extraño, el más extraño siendo el más mío. Solo. Mi país acorralado, solo, extraño. Des- ierto. Solo. Lleno de mi desierta persona. Cuando salía de ese desierto, caía en otro aún más desierto. El viento vuela entre los dos con olor de alguna lluvia fuerte.Cuánto querer poder querer!No recibir más que temor, y uno acaba suspirando odio como si fuera amor!(YES, S. 482f)
Traurigkeit und die Klage über sein tristes Leben klingt in dieser Bilanz mit an. Auch an anderer Stelle präsentiert sich der Diktator als schwermütiger Mensch, der unter seiner Abgeschiedenheit und der Leere seines Lebens leidet: "Ah si no fuera por esta horrible desazón que siempre he tenido, habría pasado mi vida encerrado en una gran habitación, llena de ecos.[...] sin nada más que hacer que escuchar el silencio mucho tiempo guardado." (YES, S. 428) Der Supremo muß sich ein-gestehen, daß er echter Zuneigung nie wirklich einen Platz in seinem Leben eingeräumt hat: "Nunca he amado a nadie, lo recordaría. Algún residuo habría quedado de ello en mi memoria. Salvo en sueños, y entonces eran animales. Animales de sueño, de trasmundo." (YES, S. 427) Einzige Ausnahme ist die fürsorgliche Liebe, die er gegenüber seiner Patentochter empfindet. Ansonsten tritt an die Stelle menschlicher Beziehungen des Diktators die platonische Liebe zu der phantastischen Gestalt der Estrella del Norte, auf die er seine Empfindungen projiziert: "Muchos otros amoríos tomaron en mi vida la forma de la Estrella del Norte. Más sólo lo hicieron por un instante. Únicamente ella permaneció sin cambio en mi corazón, en mis pupilas de niño, en mis mudanzas de hombre, en esta segunda triste enfancia de viejo." (YES, S. 431)
Die fehlende menschliche Nähe läßt ihn vor sich selbst erschrecken und an der Menschlichkeit seiner selbst zweifeln. Resigniert stellt er fest: "Monstruoso animal el que de si mismo se horroriza, para quien sus propios placeres son dura carga!" (YES, S. 429) Auch von seiner Umgebung fühlt er sich fehlinterpretiert. Er selbst kann sich in dem Bild, das andere von ihm entwerfen, nicht wiedererkennen:
"Yo aqui hecho un espectro. Entre lo negro y lo blanco. Entre el gris y la nada, viéndome doble en el embudo del espejo. Los que se ocuparon del aspecto exterior de mi persona para denigrarme o ensalzarme, no han logrado coincidir en la des- cripción de mi vestimenta. Menos aún en la de mis rasgos físicos.Qué mucho, si yo mismo no me reconozco en el fantasma mulato que me mira!" (YES, S. 201)
Das in diesem Kontext verwendete Symbol des Spiegels als die Wirklichkeit verzerrendes Moment versinnbildlicht immer wieder die Gespaltenheit der Dikta-tor-Figur.
Neben Selbstzweifeln beherrscht Mißtrauen das Denken des Supremo: "Siempre alerta contra mí mismo, desconfiando siempre, hasta de lo más confiable." (YES S. 427) Die Frage nach den Verursachern des Pasquills, das den Roman einleitet, beschäftigt ihn unentwegt, vermutet er sie nicht zuletzt in seinem privaten Umfeld:
"¨Es que los pasquinistas han invadido ya mis dominios más secretos?" (YES, S. 167), fragt er sich. So breitet sich sein Argwohn gegenüber den politischen Gegnern auf seine nächsten Untergebenen aus. Auch im häuslichen Bereich fühlt er sich vor Anschlägen auf seine Person nicht sicher : "Mi empleado en el ramo de almas, el más peligroso. Capaz de echar furtivamente arsénico o cualquier otra substancia tóxica en mis naranjados y limonadas. La otorgaré una nueva regalía . Prueba de confianza suma. Lo haré desde hoy el probador oficial de mis beberajes." (YES, S. 166)
Zu dem übertriebenen Mißtrauen des Supremo gesellt sich die Angst vor dem Verlust seiner Machtposition. Drei verschiedene Aspekte empfindet er als Bedrohung seiner Macht. Erstens quält ihn die Gewißheit, daß man gegen ihn opponiert und versucht ihn lächerlich zu machen: "Han limado mis uñas con sus papeladas. Se burlan en sus adentros del viejo loco que se alucinó creyendo poder gobernar el país con nada más que palabras, órdenes, palabras, órdenes, palabras. [...]Celosos de mi autoridad, sólo se empeñan en minarla en beneficio de la suya." (YES, S. 502f) Zweitens gefährdet die Vergänglichkeit seiner Person die Aufrechterhaltung seiner Machtposition. Der Tod beendet die Allmacht der irdischen Gestalt. Drittens wird die menschliche Figur durch die fortschreitende Verselbstständigung ihrer Macht immer mehr in die Bedeutungslosigkeit gedrängt: "Convertido en personaje inútil, mi inutilidad ha dado cien amos a mi pueblo. Lo ha hecho en consecuencia víctima de cien pasiones diferentes en lugar de gobernarlo con la única obsesión de un Jefe Supremo: Proteger el bienestar común, la libertad, la independencia, la soberanía de la Nación." (YES, S. 503) Die Angst des Supremo, seine Macht zu verlieren, vermischt sich demzufolge mit der Furcht vor dem Ende seiner Existenz. Mitverantwortlich für diesen Prozeß macht er vor allem die ignorante Haltung seines Volkes, die er im folgenden kritisiert: "Saben que ese Yo no es El Supremo, a quien temen-aman. Su amor-temor les permite saberlo, obligándoles a la vez a ignorar que lo saben. Su miedo es toda la sabiduría que tienen.[...] volúmenes y volúmenes de ignorancia y saber humean de sus bocas." (YES, S. 196f)
Einsam und von seinem Volk als menschliche Figur ignoriert bleibt die persona córporea hinter der figura impersonal zurück. Dem Leser begegnet im Yo eine über weite Strecken bemitleidenswerte Gestalt des paraguayischen Diktators, deren Leben durch Leiden unterschiedlichster Art zerstört wird: "Estas terribles erupciones que han hecho de mi vida un Infierno. Un tan largo morir para la fatiga de haber nacido dos veces." (YES, S. 427)
4.3.1.3 Él: Der Supremo als Vaterfigur und Verkörperung der absoluten Macht
Das Wesen des Él erschließt sich dem Leser zunächst über die Reflektionen des Yo. Sie weisen es als die übermenschliche und überzeitliche Gestalt der Diktator-Figur aus: "Es Él quien sale de Yo. [...] Ver en una lámpara dos focos de luz. Una negra, otra blanca. En un hombre dos rostros. Uno vivo, otro muerto. Él se desinteresa. Se destiende. Abre la puerta [...]Sale al exterior." (YES, S. 588f), äußert das Yo. Damit wird deutlich, daß die Existenz des Él, obwohl beide Figuren bis zu einem bestimmten Punkt, dem physischen/ symbolischen Tod des Yo, zeitgleich existieren, die der irdischen Gestalt überdauert. "Si no estoy Yo, estará Él [...]." (YES, S. 105), läßt Roa Bastos den Supremo sagen. Daraus ergeben sich zwei Deutungsmöglichkeiten hinsichtlich der Charakterisierung des Él. Zum einen spaltet sich die Diktatorpersönlichkeit zu "Lebzeiten" der irdischen Figur in eine private (Yo) und eine öffentliche Person (Él) auf. Die private existiert quasi nur auf der Bewußtseinsebene des Yo, da sie als solche von ihrer Umgebung nicht wahr-genommen wird, während die öffentliche als allmächtiger Herrscher im Volk gegenwärtig ist. Die über den Tod des Yo hinausgehende Existenz des Él bedingt zum anderen die Aufspaltung des Protagonisten in ein reales (Yo) und ein mythisches Individuum (Él). Augusto Roa Bastos greift folglich mit der Figur des Él die in der Vorstellung seiner Landsleute existierende Gestalt des historischen Doktor Francia auf, die sich in der mündlichen wie schriftlichen Tradition über ihr reales Dasein hinaus fortgesetzt hat.
Als mythisches Individuum nimmt sie im Roman zwei unterschiedliche Charaktere an: Einerseits erscheint sie als Vaterfigur, andererseits verkörpert sie die absolute politische Macht. Die Funktion des Él als väterliche Instanz ist zweidimensional. Das heißt, daß die Figur eine Aufspaltung in padre fundador im Hinblick auf die paraguayische Entwicklung und göttlichen Vater oder Schöpfergestalt erfährt. Steht der Gründervater noch in einem konkreten Bezug zu der realen Francia-Figur, so trifft dies auf die göttliche Gestalt des Protagonisten nicht mehr oder nur bedingt zu. Die Mythifikation der Gestalt vollzieht sich demnach am deutlichsten über ihre Verwandlung in eine Gottheit. In den Urteilen paraguayischer Schulkinder über den Dictador perpetuo, die Augusto Roa Bastos in die Romanhandlung in Form einer vom Supremo angeordneten Befragung, integriert, fließen allerdings beide Dimensionen der Vaterfigur mit dem realen Individuum zusammen:
"El Supremo Dictador tiene mil años como Dios y lleva zapatos con hebillas de oro bordadas y ribeteadas en piel. El Supremo dice cuándo debemos nacer y que todos los que mueren vayamos al cielo,[...]. El Supremo Gobierno tiene 106 años. Nos ayuda a ser buenos y trabaja mucho haciendo crecer el pasto, las flores y las plantas. [...]El Supremo Dictador es el que nos dio la Revolución. Ahora manda porque quiere y para siempre." (YES, S. 571f ).
In ähnlicher Weise verschwimmen Schöpfergestalt, padre fundador und reale Figur auch in der Selbstbeurteilung des Protagonisten zu einer Person. Anhand eines Vergleichs seiner selbst mit biblischen Gründer-/ Vaterfiguren wird deutlich, daß die Aufspaltung der Figur nicht definitiv nachvollziehbar ist:
"Jefe patriarcano de este oasis de paz del Paraguay, no uso la violencia ni permito que la usan contra mí.[...] sentirme aquí un recatado Abraham empuñado el cuchillo entre estos matorrales del tercer día de la Fundación. Solitario Moisés enarbolando las tablas de mi propio Ley. Sin nubes de fuego alrededor de la testa . Sin becerros sacrificiales." (YES, S. 489)
An anderer Stelle läßt Roa Bastos den Supremo wiederholt zur christlichen Symbolik greifen, um das Verhältnis des Diktators als göttliches Wesen gegenüber seinem Volk zu verbildlichen: "El pelícano ama a sus hijos. Si los encuentra en el nido mordidos por las serpientes, se abre el pecho a picotazos. Los baña con su sangre. Los vuelve a su vida. ¨No soy Yo en el Paraguay el Supremo Pelícano?" (YES, S. 247) Der Pelikan symbolisiert in der christlichen Religion die Liebe, die Opferbereitschaft und Auferstehung Christi. Alle drei Aspekte der verwendeten Symbolik können im übertragenen Sinne auf die Diktator-Figur des Romans bezogen werden. Das Opfer des Supremo liegt in der Aufgabe seiner persönlichen Belange zugunsten seines Mandats und beweist damit die Liebe zu seinem Volk: "En cuanto a mí , en beneficio de todos no tengo parientes ni entenados ni amigos.[...] Aquí el único esclavo sigue siendo el Supremo Dictador puesto al servicio de lo que domina." ( YES, S. 137) Die Identifikation des Diktators mit der christlichen Symbol-Figur gibt darüber hinaus Aufschluß über die Bedeutung, die er seiner Regierung innerhalb der paraguayischen Entwicklung beimißt: Die Assoziation mit der Auferstehung Christi als die Menschheit erlösendes Ereignis verweist auf die Rolle Francias als Erlöser oder Retter seines Volkes.
Die Mythifikation des Diktators erfolgt im Roman jedoch nicht nur über den Vergleich mit dem christlichen Erlöser. Ebenso greift Roa Bastos auf Elemente der indianischen Religion zurück, um die mythische Bedeutung der Diktator-Figur hervorzuheben. Fast unmerklich vollzieht sich eine Verwandlung des allmächtigen Diktators in den Schöpfergott der Guaraní, ¥anderuvusú. Die Übergänge von einer Gestalt zur anderen sind nicht eindeutig auszumachen. Dennoch lassen sich hauptsächlich zwei Anzeichen für diese Metamorphose des Diktators nachweisen. In der Religion der Guaraní erschafft sich der Urgott ¥anderuvusú aus eigener Kraft. Dem stellt Roa Bastos im Roman die Selbstgeburt Francias gegenüber.
"Yo he nacido de mí y Yo solo me he hecho doble." (YES, S. 250), kommentiert der Supremo das auf einem Fluß stattfindende szenische Ereignis. Einen weiteren Hinweis auf die Verschmelzung der Diktatorfigur mit der indianischen Gottheit erhält man durch den Tiger, der an verschiedenen Stellen des Romans in Erschei-nung tritt. In der Apokalypse der Guaraní begleitet der blaue Tiger den Gottvater, bis er von ihm den Befehl erhält, die Menschheit auszurotten.
Die Verwandlung der Romanfigur in ein göttliches Wesen verleiht ihr einen uni-versellen Charakter. Als padre fundador oder geistiger Vater des paraguayischen Volkes wird der politische Machthaber Francia zum nationalen Mythos, den Roa Bastos ebenfalls in der Figur des Él aufgreift.
In der Gestalt des Machthabers und padre fundador tritt die Romanfigur vorrangig im Circular perpetua auf. "Yo sólo obro lo que mucho mando. Yo sólo mando lo que mucho puedo. Mas como Gobernante Supremo tambien soy vuestro padre natural." (YES, S. 127) erläutert sie am Beginn des Rundschreibens. Das Ver-hältnis der politischen Persönlichkeit zu ihrem Volk stellt sich im Roman einerseits als Vater-Kind-Beziehung, andererseits als das eines Überlegenen gegenüber Unterlegenen dar. Beide Relationen erfordern Respekt und Gehorsam gegenüber der väterlichen Instanz. Häufig wird die Furcht der Unterlegenen vor der Macht des Diktators ausschlaggebend für die Respektierung und Einhaltung seiner Anordnungen: "Aqui puedo afirmar yo sí con entera razón: El-Estado-soy-Yo[...], puesto que el pueblo me ha hecho su potestario supremo. Identificado con él, qué miedo podemos sentir, quién puede hacernos perder el juicio ni el seso con estas bufonadas." (YES, S. 292) Auch wenn sich der Protagonist nur widerwillig mit der gefürchteten Diktatorfigur identifizieren mag, muß er feststellen, daß die mit seiner Gestalt assoziierte Angst zum wirksamsten Machtmittel seiner Herrschaft wird:
"También aqui en el luminoso Paraguay lo blanco es el atributo de la redención. Sobre ese fondo de blancura cegadora, lo negro que han revestido mi figura infunde mayor temor aún a nuestros enemigos. Lo negro es para ellos el atributo del Poder Supremo. Es una gran obscuridad dicen de mí temblando en sus cubículos. Cegados por lo blanco temen más, muchísimo más lo negro en lo cual huelen el ala del Arcángel Exterminador."
Die öffentliche Diktator-Figur wird im Gegensatz zu der Privatperson als befehlende und handelnde Persönlichkeit präsentiert: "Trae algo de beber, oigo que ÉL ordena. Ana me mira con ojos de ciega. YO no he hablado. Oigo que Él dice: Trae al doctor una limonada bien fresca. Voz burlona. Poderosa." (YES, S. 202). Sie definiert sich über ihre Machtposition, die unterschiedliche Dimensionen von Macht in sich vereinigt. Als Verkörperung der absoluten Macht nimmt der Diktator im Roman zunehmend die Gestalt eines abstrakten Wesens an. Einen ersten Hinweis darauf erhält man in dem der Romanhandlung vorangestellten Pasquill, das folgendermaßen beginnt:
"Yo el Supremo Dictador de la República. Ordenó que al acaecer de mi muerte mi cadáver sea decapitado; la cabeza puesta en una pica por tres dias en la Plaza de la República donde Le convocará al pueblo al Son de las campanas echadas a ruelo. Todos mis servidores civiles y militares sufrirán pena de horca. Sus cadáveres serán enterrados[...]." (YES, S. 93)
Obwohl die von Feinden des Diktators verfaßte Schmähschrift ihn in kari-katuristischer und überspitzter Weise darstellt, gibt sie Aufschluß über die Machtposition des Supremo. Sie versinnbildlicht in zweifacher Hinsicht die Unbegrenztheit der diktatorialen Macht: Zum einen wird suggeriert, daß die Macht mit dem Tod des Supremo nicht vollends erlischt, seine Anordnungen sogar nach seinem Ableben Gültigkeit besitzen. Zum anderen scheint sich sein Wille auch über Leben und Tod seiner Untergebenen erstrecken zu können. Daraus resultiert, daß der Diktator nicht nur absolute politische Macht ausübt, sondern als Herrscher über das Schicksal seiner Funktionäre zugleich überirdische Mächte besitzt. Auf symbolischer Ebene wird die "Gefangennahme" des Meteors durch den all-mächtigen Diktator zum Ausdruck seiner metaphysischen Macht. Sie steht als Sinnbild für den Versuch des Supremo, sowohl Schicksal als auch Zufall zu bannen: "O el cautiverio de un solo meteoro ha abolido por medio de representación a la vez real y simbólica la irrealidad del azar. Si esto último, ya no debo temer las emboscadas de la casualidad. [...]El dominio del azar va a permitir a mi raza ser verdaderamente inexpugnable hasta el fin de los tiempos." (YES, S. 213)
In der Unauslöschbarkeit seiner Person über zeitliche Grenzen hinweg liegt die die Grundlage der metaphysischen Macht des Supremo, die seine Projektion in die zukünftige Geschichte ermöglicht und ihn dazu befähigt, sich auf Literatur des 20. Jahrhunderts zu beziehen oder Ereignisse, die erst nach seinem Tod stattfanden, zu beurteilen. Amancio Sabugo Abril stellt in seinem Aufsatz fest: "El Supremo como un dios es el señor del tiempo, maneja la historia a su antojo." Die Präsentation des Supremo als Herrscher über die Geschichte symbolisiert die Tragweite seiner Macht über zeitliche Grenzen hinaus: "Yo no escribo la historia. La hago. Puedo rehacerla según mi voluntad, ajustando, reforzando, enriqueciendo su sentido y verdad. (YES, S. 325), bemerkt der Protagonist.
Roa Bastos, Augusto: Algunos núcleos generadores de un texto narrativo. In: L´Idéologique dans le texte, XVI. Toulouse, Travaux de l´Université, 1978. S. 71 ebd.: S.71 Roa Bastos, Augusto: Algunos núcleos: S.73/74 Roa Bastos, Augusto: Yo el supremo. Edición de Milagros Ezquerro.Catedra, Madrid 1987(2). S. 18 Rodríguez Alcalá de Gonzàlez Oddone, Beatriz: Yo el Supremo visto por su autor y aproxi- maciones. In: Comentarios sobre Yo el Supremo, Club del libro, Asunción 1975. S. 23 Sabugo Abril, Amancio: Historia, biografía y ficción en Yo el Supremo. In: Cuadernos hispanoamericanos (493/ 94), Juli August 1991. S. 275 - 284 Vgl.: Ring, Ano: "Yo el supremo"- die Ästhetik einer Revolution. In: Lateinamerika, 22, Heft 2, Rostock , 1987. S. 66-84 Gliech, Oliver C.: Augusto Roa Bastos` Roman Yo el Supremo als "Anti-Historie": S. 51 Gliech, Oliver C.: Augusto Roa Bastos` Roman Yo el Supremo als "Anti-Historie" . S. 57 Roa Bastos, Augusto: Yo el supremo. Edición de Milagros Ezquerro/ Cátedra. Madrid 1987. S. 608 Rodríguez Alcalá de González Oddone, Beatriz: Yo el Supremo visto por su autor: S. 22 Pla, Josefina: Yo el supremo desde el pasquín pórtico. In: Cuadernos Hispanoamericanos, (493/ 94). Juli-August 1991. S. 251 Rodríguez Alcalá de González Oddone, Beatriz: Yo el Supremo visto por su autor .... S. 22 Die Ausführungen hierzu folgen hauptsächlich der Darstellung von Carlos Pacheco: YO/EL: primeras claves para una lectura de la polifonía en Yo el Supremo. In: Sosnowski, Saúl: Augusto Roa Bastos y la producción cultural americana. Buenos Aires, 1986. S. 153 -178 Dem Roman entnommene Zitate, werden im folgenden mit dem Kürzel YES und der ent- sprechenden Seitenzahl im Text gekennzeichnet. Die Angaben basieren auf der unter Nr. 113 aufgeführten Ausgabe des Werkes. Pacheco, Carlos: YO/ EL: primeras claves. S. 159 Rodrìguez Alcalá de González Oddone, Beatriz: Yo el Supremo visto por su autor. S. 13 Gliech, Oliver C.: Augusto Roa Bastos` Roman Yo el Supremo als "Anti-Historie". S. 51 Vgl. : Gliech, Oliver C.: Augusto Roa Bastos` Roman Yo el Supremo als "Anti-Historie" S. 54f 58 Das Bild des Dr. Francia in zeitgenössischen Darstellungen und im Roman Yo el Supremo von A. Roa Bastos