Ein regelbasierter Ansatz zur Berechnung temporaler Zusammenhänge in der protokollgesteuerten Therapie

M. Sergl, K. Pommerening
Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation
der Johannes-Gutenberg-Universität
55101 Mainz


Im Rahmen der Entwicklung des wissensbasierten Systems TheMPO (Therapieplanung und Management in der Pädiatrischen Onkologie), das die protokollgesteuerte Krebstherapie bei Kindern unterstützt, entsteht zur Zeit ein Modul zur Ermittlung und Auswertung komplexer zeitlicher Zusammenhänge (TIM: Temporales Inferenz-Modul). Dies wird vor allem für die temporale Konsistenzprüfung bei der Wissensakquisition und für die Berechnung von - möglicherweise langen - temporalen Referenzketten benötigt. Es wurde ein regelbasierter Problemlösungsansatz gewählt und in einer logischen Sprache mit rückwärtsverkettendem Inferenzmechanismus implementiert. Im Vordergrund steht dabei der Versuch, eine Problemlösungsmethode unabhängig von Domain-Spezifika und unter dem Anspruch der leichten Erweiterbarkeit und der Wiederverwendbarkeit mit anderen Bereichs-Ontologien und Applikationen zu entwickeln.

1. Einleitung

1.1 Protokollgesteuerte Therapie

In immer mehr Bereichen der Medizin erfolgt die Therapie nach genauen Anleitungen, die in Therapieprotokollen niedergelegt sind. Besonders in der Pädiatrischen Onkologie (Kinderkrebsbehandlung) existieren für alle wichtigen Erkrankungsarten umfangreiche Protokolle mit hochkomplexen Therapieplänen. Jeder Therapieplan setzt sich aus einer Folge von Therapieblöcken zusammen, die zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholt werden können; Therapieblöcke sind (in der Regel mehrtägige) Sequenzen zusammengehöriger therapeutischer Maßnahmen, wie z. B. Infusionsgaben. Das Softwaresystem TheMPO besteht aus einer Reihe von Werkzeugen, die die strukturierte Erstellung solcher Protokolle (Wissensakquisition) und deren Verwendung bei der patientenindividuellen Therapieplanung und -dokumentation unterstützen. Als Wissensakquisitionswerkzeuge stehen ein Konzept-Editor, ein grafischer Therapieplan-Editor (Abbildung 3-2), ein Therapieblock-Editor (Abbildung 3-1) und ein Regel-Editor zur Verfügung.

Therapieprotokolle enthalten strukturiertes, abstraktes Wissen über Therapieabläufe (Therapie- und Diagnose-Aktionen gesteuert durch Patientenreaktionen) mit teilweise unscharfen Beschreibungen von Zeitpunkten, Zeiträumen und zeitlichen Abhängigkeiten (z. B. Abfolge, Gleichzeitigkeit, Wiederholung). In der allgemeineren bereichsspezifischen Wissensbasis liegen abstrakte Zeitbeschreibungen z.B. für Aktualitäts- und Gültigkeitszeiträume von Messungen und Befunden vor. Protokollgesteuerte Therapie verwendet also temporales Wissen verschiedener Abstraktionsgrade in unterschiedlichen Formen (z.B. absolute oder relative Zeitbeschreibung eines Ereignisses) und mit unterschiedlicher Bedeutung (z. B. "Anzahl der Leukozyten am Tag n" als zeitgestempelter Meßwert in der Patientenakte oder als abstrakter Parameter in Regeln zur Therapieplanung). Die Patientenakte enthält vor allem konkrete Zeitbeschreibungen (Dokumentation von Beobachtungen, Befunden, Therapie-Aktionen und Therapie-Ergebnissen) in Form von Kalender- und Uhrzeitdaten.

1.2 Aufgaben der temporalen Inferenz

Eine Aufgabe der temporalen Inferenz ist die semantische Konsistenzanalyse bei der Wissensakquisition. Typische Konsistenzbedingungen sind beispielsweise:

(1) Übereinstimmung von im Ablaufplan dargestellten zeitlichen Zusammenhängen und den für die einzelnen Therapieaktionen definierten Zeitangaben: Die Chemotherapieblöcke N1 und N2 sind im Ablauf aufeinanderfolgende Therapiesequenzen (ohne Überschneidung). Es muß daher sichergestellt sein, daß die erfaßten Zeitintervalle für beide Blöcke keine Überschneidung zulassen.

(2) Berechenbarkeit relativer Zeitangaben: Der Beginn eines Therapieblocks X ist relativ zur Zeit eines Blocks Y definiert. Es ist zu überprüfen, daß für jeden konkreten Therapieablauf, in dem Block X zur Anwendung kommt, Block Y eine zuvor durchlaufene Therapiesequenz ist.

Aufgabe der temporalen Inferenz bei der patientenindividuellen Therapieplanung ist die Folgerung konkreter Kalender- und Uhrzeitdaten für Therapie-Aktionen unter Referenzierung des abstrakten Protokollwissens und der Fakten aus der Patientenakte sowie die Ermittlung größerer Zusammenhänge (z.B. Trends, zeitlich-kausale Zusammenhänge) aus zeitbezogenen Patientendaten. Beispiele für typische Fragestellungen im erstgenannten Zusammenhang sind:

(3) In der abstrakten Therapieplandefinition beginnt Block X 14 Tage nach Beginn von Block Y. An Tag 3 von Block X wird Medikament Z verabreicht. Außerdem muß während Block X alle zwei Tage die Zahl der Leukozyten erhoben werden. Der erste Therapietag des Patienten A ist der 25. Mai 1997. Wann muß mit Block X begonnen werden? Welche diagnostischen Maßnahmen sind am 30. Mai 1997 notwendig? An welchen Tagen ist der Patient für spezielle diagnostische oder therapeutische Verfahren voranzumelden?

Mit einer einheitlichen temporalen Ontologie für alle Bereiche des TheMPO-Systems (Patientenakte, Wissensbasis, Inferenz) wurde die Voraussetzung geschaffen, die verschiedenen oben genannten Aufgaben mit dem gleichen Problemlösungs-Modul zu erfüllen.


2. Wissensrepräsentation

2.1 Allgemeine temporale Ontologie

Zur Repräsentation der aufgeführten zeitlichen Strukturen wurde der Bereichsontologie eine temporale Ontologie nach E. Keravnou [6] zugrundegelegt. Sie beschreibt die zeitliche Existenz von Wissensentitäten (Therapie-Aktionen, Befunden etc.) durch Abbildung auf Intervalle von Zeitachsen, wobei diese Zeitachsen temporale Kontexte innerhalb der "Welt" (z.B. "Jahr 1997", "Lebensdauer des Patienten") repräsentieren. Insbesondere induziert jedes Objekt mit zeitlicher Relevanz einen zeitlichen Kontext, im Fall der protokollgesteuerten Therapie z.B. den Zeitkontext "Therapie", Zeitkontexte für die verschiedenen Therapieblöcke im Therapieschema oder einen Zeitkontext "Beobachtung eines bestimmten Symptoms". Jedem Zeitkontext wird eine geeignete zeitliche Granularität zugeordnet (z.B. Stunden, Tage, Monate). Die zeitliche Existenz eines Objekts wird durch ein Intervall sowie den referenzierten Kontext bestimmt. Die Intervalle können dabei mit den Status offen, halboffen oder abgeschlossen gekennzeichnet werden, was die Abbildung von ungenauen oder unsicheren Zeitangaben in der Form erlaubt, daß eine obere bzw. untere Schranke des Zeitintervalls definiert wird, innerhalb deren die wirklichen (unbekannten) Intervallgrenzen liegen (Abbildung 3-3). Dabei ist die Definition der zeitlichen Existenz nicht auf jeweils einen temporalen Kontext beschränkt; durch Zeitpunktszuordnungen zwischen Kontexten (z. B. Tag 1 von Block X wird Tag 10 der Therapie zugeordnet) können beliebig viele verschiedene Kontexte referenziert werden. Insbesondere enthält die Ontologie einen universellen Zeitkontext "reale Kalender-/Uhrzeit" und ein universelles Objekt "Jetzt". Zeitliche Zusammenhänge zwischen Objekten können durch Objektrelationen dargestellt werden (z. B. die Relationen "zeitliche Folge", "zeitliche Überschneidung").

2.2 Bereichsspezifische temporale Ontologie

Das Bereichswissen für die protokollgesteuerte Therapie läßt sich in allgemeines konzeptuelles Begriffswissen für die Pädiatrische Onkologie, in Therapieprotokoll-Wissen und in Patientenwissen unterteilen. Jeder der Bereiche enthält temporales Wissen unterschiedlichen Abstraktionsgrades. Allgemeine Begriffe wie z. B. "Therapieblock MR 1" induzieren einen abstrakten zeitlichen Kontext, d. h. eine Zeitachse, deren Nullpunkt durch den Beginn des Blocks definiert sein soll. Die so definierte Zeitachse wird bei der Definition der zeitlichen Existenz für die Verabreichung einer Infusion innerhalb eines Blocks referenziert. Durch die Definition der zeitlichen Existenz eines Therapieblocks im Ablaufplan erhält der Block-Zeitkontext konkretere Bedeutung (der erste N1-Block im 2. Therapiezweig des NB90-Protokolls beginnt im Anschluß an die Tumorresektion und dauert 5 Tage). Hiermit wird eine Kontext-Relation definiert, die implizit auch die Anwendungen der Einzelinfusionen Therapietagen zuordnet. Durch die Anwendung von Therapieaktionen im Patientenkontext werden schließlich die abstrakten Therapietage mit konkreten Kalendertagen (oder patientenspezifischen Zeitkontexten wie "Alter des Patienten") identifiziert. Laborwerte und Befunde induzieren abstrakte und patientenbezogene Zeitkontexte "Erhebungszeit" und "Gültigkeitszeit". Hauptsächlich auftretende Objektrelationen sind in den Therapieplänen "vor"/"nach", "vorangehend"/"folgend", "überschneidend" oder "gleichzeitig" sowie "wiederholt" als zeitliche Zusammenhänge zwischen Therapieblöcken oder diagnostischen Maßnahmen und die Relation "enthält"/"ist enthalten" zwischen einem Therapieblock und den darin definierten Therapietagen. In der Patientenakte gibt es Objektrelationen "vor"/"nach" und "vorangehend"/"folgend" zwischen Therapietagen, Therapie-Aktionen, Patientenreaktionen und anderen medizinisch relevanten Ereignissen im Lebenslauf des Patienten. Insbesondere die Zuordnung einer Beobachtung bzw. eines Befundes zu einer Therapie-Aktion mit der zeitlich-kausalen Objektrelation "folgt als Reaktion auf" ist für die Therapieunterstützung von Bedeutung (z. B. zur Etablierung patientenindividueller Regeln über Zusatzbehandlungen oder Modifikationen der Therapievorschriften) [7, 8].


3. Wissensakquisition - Erfassung der Kontexte und Relationen

Bei der Definition der abstrakten Begriffe (Laborwerte, Befunde, allgemeine therapeutische und diagnostische Maßnahmen) im Konzept-Editor werden automatisch die dadurch induzierten abstrakten Zeitkontexte erfaßt. Die abstrakte Blockdefinition sowie Erfassung von Applikationstagen und -uhrzeiten der einzelnen Infusionen, Medikamente oder Bestrahlungsanwendungen eines Therapieblocks geschieht mit dem Therapieblock-Editor (Abbildung 3-1).

[Bild]
Abbildung 3-1: Ausschnitt aus der Erfassungsmaske des Therapieblock-Editors. Für jeden Tag und jedes Medikament wird der zu verabreichende Anteil (in %) eingetragen.
[Bild]
Abbildung 3-2: Ausschnitt aus einem Ablaufplan: Der Editor stellt Symbole für Operationen, Chemotherapie, Radiotherapie etc. sowie für Stratifizierung (Ú), Randomisierung (R) und parallele Verläufe (Ù) sowie gerichtete Verbindungen zur Darstellung der Reihenfolge zur Verfügung.

Zur Erfassung der abstrakten Therapieabläufe wurde für TheMPO ein grafischer Therapieplan-Editor entwickelt. Er ermöglicht die Anordnung der vordefinierten Therapieblöcke zu komplexen regelgesteuerten Ablaufplänen sowie die Erfassung von expliziten Zeitpunkten/-intervallen und zeitlichen Abhängigkeiten. Durch die grafische Anordnung werden insbesondere die temporalen Objektrelationen erfaßt (Abbildung 3-2).

[Bild]
Abbildung 3-3: Erfassung eines Zeitpunkts (in Tagen) mit unscharfen Grenzen (Intervallstatus "offen") relativ zu einem anderen Block-Zeitkontext.
[Bild]
Abbildung 3-4: Erfassung einer Kontextrelation. Hier wird Tag 1 eines neu hinzugefügten Blocks (Typ N2) Tag 6 eines ausgewählten Blocks (Typ N1) zugeordnet.

Durch die explizite Eingabe von relativen und absoluten Zeitpunkten und -intervallen (Abbildung 3-3) werden die zeitliche Existenz der abstrakten Therapieblock-Objekte sowie Kontext-Relationen (hier Zeitpunkts-Zuordnungen) zwischen den zugehörigen Zeitkontexten definiert (Abbildung 3-4).

In der Patientenakte kann durch den behandelnden Arzt insbesondere der Therapiebeginn angegeben werden. Alle anderen Daten werden durch den Inferenzalgorithmus aus den Therapieplänen und Therapieblockdaten unter Berücksichtigung der Patientenreaktionen ermittelt. Es besteht jedoch während der Therapie die Möglichkeit zur Modifikation der Zeitdaten durch den Arzt.


4. Realisierung der Problemlösungsmethode

Zwei Aspekte sind wesentlich für die Anforderung an die Problemlösungmethode im oben beschriebenen Bereich der protokollgesteuerten Therapie und wurden bei der Wahl der Methode in den Vordergrund gestellt.

4.1 Verwandte Ansätze

Es gibt bereits verschiedene Ansätze zu Retrieval und Abstraktion unscharfer zeitlicher Zusammenhänge unter Verwendung von Constraint-Propagations-Mechanismen in Zeitdatenbanken. Das Problem ist der unter Umständen große Aufwand bei der Berechnung von Referenzketten zur Propagation neuer Relationen. Allen [1] verminderte den Aufwand durch Bildung von vollständig berechneten Clustern, die über ausgezeichnete Intervalle in Beziehung gesetzt werden. Van Beek [2] schränkte die Intervallalgebra von Allen auf eine Teilmenge von Relationen ein, die die Implementierung effizienter Algorithmen zur Abfrage von Zusammenhängen erlaubt, insbesondere die Beantwortung der Frage, ob eine Regel zur Etablierung einer Relation zwischen Intervallen notwendigerweise oder möglicherweise wahr ist.

Ein Ansatz unter Verwendung objektorientierter Methoden ist TNET/ETNET von Kahn [4, 11], der in dem onkologischen Expertensystem ONCOCIN realisiert wurde. TNET ist ein temporales Netz, dessen Knoten Zeitintervalle repräsentieren, die klinisch relevante Ereignisse beinhalten. Mit der Abfragesprache TQUERY kann eine definierte Menge von Informationen aus dem temporalen Netz ermittelt werden, wobei auch hier zur Verringerung des Berechnungsaufwands die Abfrage auf interessante und relevante Fragestellungen eingeschränkt wird.

Aus der jüngeren Vergangenheit ist vor allem der Ansatz von Shahar [3, 9, 10] hervorzuheben, der in RÉSUMÉ realisiert wurde. Shahar et al. entwickelten ein Framework zur Ermittlung abstrakter intervallbasierter Konzepte aus zeitbezogenen klinischen Daten. Die abstrahierten Daten liegen in Form einer dynamischen temporalen Faktenbasis vor. Der Constraint-Propagations-Mechanismus ist mit CLIPS implementiert, einer regelbasierten Sprache mit vorwärtsverkettendem Inferenzmechanismus. Die Konsistenz der temporalen Daten (insbesondere in Bezug auf die relationale Datenbank, in der die zeitbezogenen Patientendaten gespeichert werden) wird durch ein sogenanntes "truth maintenance"-System gewährleistet, das nach Hinzufügen neuer temporaler Daten oder bei Feststellung von Inkonsistenzen während eines Inferenzlaufs ermittelt, welche Fakten gelöscht und welche neu propagiert werden sollen. Dieser Mechanismus erlaubt insbesondere die Eingabe der Daten außerhalb der chronologischen Reihenfolge.

4.2 Wahl der Problemlösungsmethode

In TheMPO sind zeitliche Relationen bislang als Kanten in die attributierten Graphen integriert, die abstrakte Therapiepläne und Patientenakte repräsentieren. Das temporale Modell in TheMPO kann mit dem temporalen Netz von Kahn et al. [4] verglichen werden. Es beinhaltet die Darstellung von Zeitpunkten und -intervallen, absoluten und relativen sowie scharfen und unscharfen Zeitangaben. Fragestellungen wie die Abbildung der Zeitachse, die im abstrakten Therapieplan der Gesamttherapie zugeordnet ist, auf konkrete Kalenderdaten führen auf einfache Berechnungen und Leseoperationen im Graph. Konsistenzprüfung, Berechnung zeitlicher Relationen, die Umrechnung verschiedener Kontexte, die Ermittlung eines Kalenderdatums aus verketteten relativen Zeitangaben sowie die Folgerung von Zusammenhängen zwischen zeitbezogenen Patientendaten erfordern allerdings aufwendig zu programmierende und schwierig zu erweiternde rekursive Leseoperationen, die nicht wechselseitig zwischen Therapieplan-Graph und Patientenakte austauschbar sind. Das Etablieren zusätzlicher Graphkanten für jeden interessanten Zusammenhang im Sinne einer Constraint-Propagation wird schnell unübersichtlich, aufwendig und schwer handhabbar. Beispiel: Bei relativen Zeitangaben existieren eine oder mehrere Zuordnungen zwischen Kontexten (z. B. Therapieblöcken); der Aufwand, die möglichen Zuordnungen bezüglich aller vorhandenen Kontexte zu berechnen, ist zu groß, eine Einschränkung auf relevante Kontexte u. U. nicht möglich, da bei der Therapieplandefinition nicht alle "interessanten" Fragestellungen bezüglich der Therapie eines konkreten Patienten vorauszusehen sind. Hinzu kommt der erhebliche Aufwand zur Erhaltung von Konsistenz und Aktualität der Kanten.

Deshalb wird derzeit ein regelbasierter Problemlösungs-Ansatz in die graphbasierte Repräsentation integriert. In diesem Modell sind Zeitkontexte als Atome und Kontextrelationen sowie Objektrelationen als strukturierte Fakten der temporalen Wissensbasis dargestellt. Durch Regeln wird definiert, wie unter Berücksichtigung der vorhandenen Kontextrelationen die Umrechnung von einem Kontext in einen anderen geschehen muß und welche neuen Objektrelationen als Folgerung aus den vorhandenen möglich sind, womit wiederum Abfragen bezüglich der definierten Relationen und Kontexte formuliert werden können. Im Vergleich mit der bisherigen Implementation der Problemlösungsmethode als Graphoperationen ist die Realisierung des Problemlösungsalgorithmus mit temporaler Logik wesentlich anschaulicher und kürzer. Ein Vorteil des Ansatzes ist auch die einfache Berücksichtigung von Zyklen in den Relationen (z. B. in der Vorgänger/Nachfolger-Relation der Therapiepläne) durch entsprechend aufgebaute Prädikate, was bislang bei Leseoperationen auf den Graphen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war; dadurch können etwa Endlosschleifen in den Lesealgorithmen viel eleganter vermieden werden. Periodische Abläufe (z. B. regelmäßig wiederkehrende Verlaufsdiagnostik mit Angaben wie etwa "jede Woche" oder "jeden zweiten Tag eines jeden N1-Therapieblocks"), die schwer in die Graphdarstellung integrierbar sind, können auch bei einer externen Repräsentationsform unabhängig von den Therapiegraphen für Auswertung und Konsistenzprüfung leicht mit den Therapie-Abläufen in Beziehung gesetzt werden.

Für die Implementation der Problemlösungsmethode wird eine logische Sprache mit rückwärtsverkettendem Inferenzmechanismus verwendet, die einen großen Teil der Inferenz (insbesondere z. B. bei der rekursiven Berechnung von verketteten relativen Zeitangaben) automatisch erledigt. Eine prototypische Realisierung mit PROLOG befindet sich derzeit in der Erprobung.

4.3 Aufbau der temporalen Wissensbasis und des temporalen Inferenzmoduls

Innerhalb der temporalen Wissensbasis wird nicht zwischen dem temporalen Wissen über Therapiepläne, bereichsspezifischem Begriffswissen und zeitgestempeltem Wissen aus der Patientenakte getrennt. Dadurch können Fakten aller einzelnen Bereiche und Abstraktionsebenen gemeinsam in Regeln für Berechnungen und Folgerungen berücksichtigt werden. Die temporale Inferenz untergliedert sich logisch in ein bereichsunabhängiges Kernmodul, z. B. für die unspezifischen Umrechnungen zwischen zeitlichen Relationen, und in bereichsspezifische Teilmodule für Ermittlung von speziellen Zusammenhängen in den verschieden Bereichen (Konsistenzprüfung der Therapiepläne, zeitlich-kausale Aspekte in der Patientenakte usw.), sowie ein Teilmodul mit Regeln für spezielle bereichsübergreifende Fragestellungen (Auswertung der temporalen Relationen in den Therapieplänen zur Anwendung auf einen konkreten Patienten-Kontext, Überprüfung von Gültigkeitszeiten für Laborwerte usw.). Die Verwendung von PROLOG macht den Ansatz beliebig fein skalierbar; sehr unterschiedlich strukturiertes temporales Wissen läßt sich miteinander in Beziehung setzen (wie z. B. lineare Therapieabläufe und periodische Verlaufsdiagnostik).

Die Aktualisierung der temporalen Wissensbasis aus den allgemeinen Wissensbasen der einzelnen Bereiche ist unproblematisch, da aus oben aufgeführten Gründen auf Constraint-Propagation verzichtet wird.

4.4 Beispiele

1. Kontextrelation (Zeitpunkts-Zuordnung) und Objektrelation (zeitliche Abfolge) als Fakten in der temporalen Wissensbasis:

zp_zuord(block_B_tage,1, block_A_tage, 14).
zp_zuord(therapie_tage,1, block_A_tage, 1).
vor(block_A,block_B).

Tag 1 von Block B entspricht Tag 14 des Blocks A und Tag 1 von Block A entspricht Tag 1 der Therapie, wobei Block A auch kürzer als 14 Tage sein kann - gemeint ist der 14. Tag auf der Zeitachse, die am Beginn von Block A ihren Ursprung hat. Ferner liegt Block A im Therapieplan explizit vor Block B.

2. Regeln (in deskriptiver Form) zur Umrechnung von Zeitkontexten (Zuordnung von Zeitpunkten):

(Symmetrie)zp_zuord(Kontext_1, X1, Kontext_2, X2) <==>
zp_zuord(Kontext _2,X2, Kontext_1, X1).
(Translationsinvarianz)zp_zuord(Kontext_1, X1, Kontext_2, X2) <==>
zp_zuord(Kontext_1, (X1- C), Kontext_2, (X2 - C)).
(Transitivität)zp_zuord(Kontext_1, X1, Kontext_2, X2) <==
zp_zuord(Kontext_1, X1, Kontext_3, X3),
zp_zuord(Kontext_3, X3, Kontext_2, X2).

3. Regel zur Konsistenzprüfung bei der Erfassung einer "vor/nach"-Relation:

vor(block_B, block_C) <==
zp_zuord(block_B_tage,XB, block_C_tage, 0),
z_existenz(Ende_block_B,block_B_tage, MinB, MaxB, StatusB),
MaxB < XB.

Block B liegt vor Block C, wenn bezüglich einer Referenzachse - hier die von Block B induzierte Zeitachse - der Beginn von Block C vor dem Ende von Block B liegt (Durch die Zuordnung entspricht hier der Beginn von Block C dem Tag XB auf der Zeitachse "block_B_tage"). Die Zuordnung der Zeitachsen "block_B_tage" und "block_C_tage" muß nicht als Faktum in der Wissensbasis vorliegen. Sie wird durch den Inferenzmechanismus automatisch ermittelt.


5. Diskussion

Die gewählte temporale Ontologie ermöglicht die Abbildung von Zeitpunkten und -intervallen, zusammengesetzten zeitlichen Strukturen (z. B. Einzelanwendungen innerhalb eines Therapieblocks), absoluten und relativen Zeitangaben sowie allgemeiner Objektrelationen ohne Annahmen über Bereichswissen. Aufbauend auf dieser Ontologie kann ein temporales Inferenzmodul realisiert werden, das für alle Teilbereiche des TheMPO-Systems sowie für vergleichbare Fragestellungen anderer Problembereiche einsetzbar ist. Temporales Wissen unterschiedlicher Struktur und unterschiedlichen Abstraktionsgrades kann mit Hilfe der temporalen Logik einheitlich behandelt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Durch die einheitliche Behandlung aller temporalen Aspekte sowie durch die Skalierbarkeit der Implementation mit PROLOG ist das Modul zentral wartbar und erweiterbar. Ferner können temporale Fakten ohne Berücksichtigung ihrer chronologischen Ordnung erfaßt werden, da bei der Erfassung eine inhaltliche Konsistenzprüfung durch geeignete Regeln stattfindet. Zusätzlicher Aufwand zur Konsistenzerhaltung entsteht nicht, da kein Constraint-Propagations-Mechanismus verwendet wird.

Der vorgestellte Ansatz verbindet die Vorteile des graphbasierten Ansatzes bei der Repräsentation des ablauforientierten Protokollwissens, des Kontextwissens der Patientenakte, sowie bei der Implementation der "Episodic-Skeletal-Plan-Refinement"-Problemlösungsmethode für die Therapieplanauswertung mit den Vorteilen der temporalen Logik bei der Ermittlung der temporalen Zusammenhänge wie sie oben beschrieben wurden. Im Gegensatz zu Shahar et al., die eine temporale Faktenbasis mit logikorientiertem Problemlösungs-Ansatz (Verwendung von Constraint-Propagation) zur Zeit-Abstraktion einsetzen, steht hier die temporale Logik als Problemlösungsansatz bezüglich der Aspekte "Konsistenz des Protokollwissens", "Therapieplanung" sowie "Retrieval ausgewählter zeitlicher Kontexte" in der Patientenakte im Vordergrund.


Literatur

[1]J. F. Allen, Maintaining Knowledge about Temporal Intervals, Communications of the ACM 26 (1983), 832-843.
[2]P. van Beek, Temporal query processing with indefinite information, Artificial Intelligence in Medicine 3 (1991), 325-339.
[3]C. Combi, Y. Shahar, Temporal Reasoning and Temporal Data Maintenance in Medicine: Issues and Challenges, Computers in Biology and Medicine (in press) (1997).
[4]M. G. Kahn, S. W. Tu, L. M. Fagan, TQuery: A Context-Sensitive Temporal Query Language, Computers in Biology and Medicine 24 (1991), 401-419.
[5]E. T. Keravnou, J. Washbrook, A temporal reasoning framework used in the diagnosis of skeletal dysplasias, Artificial Intelligence in Medicine 2 (1990), 239-265.
[6]E. T. Keravnou, Temporal diagnostic reasoning based on time-objects, Artificial Intelligence in Medicine 8 (1996), 235-265.
[7]R. Müller, M. Sergl, U. Nauerth, D. Schoppe, K. Pommerening, H.-M. Dittrich, TheMPO: A Knowledge-Based System for Therapy Planning in Pediatric Oncology, Computers in Biology and Medicine (in press) (1997).
[8]R. Müller, O. Thews, C. Rohrbach, M. Sergl, K. Pommerening, A graph-grammar approach to represent causal, temporal and other contexts in an oncological patient record, Methods of Information in Medicine, 35 (1996), 127-141.
[9]Y. Shahar, M. A. Musen, Knowledge-based temporal abstraction in clinical domains, Artificial Intelligence in Medicine 8 (1996), 267-298.
[10]Y. Shahar, A framework for knowledge-based temporal abstraction, Artificial Intelligence 90 (1997), 79-133.
[11]S. W. Tu, M. G. Kahn, M. A. Musen et al., Episodic skeletal-plan refinement based on temporal data, Communications of the ACM 32 (1989), 1439-1455.