jedenfalls trat er, sobald er uns Unberufene seine Kunst ausUEben sah, unwillkUErlich einen Schritt nAEher und warf aus dieser gemessenen Distanz einen prUEfenden Blick auf unser Brett. McConnor war gerade am Zuge. Und schon dieser eine Zug schien ausreichend, um Czentovic zu belehren, wie wenig ein weiteres Verfolgen unserer dilettantischen BemUEhungen seines meisterlichen Interesses wUErdig sei. Mit derselben selbstverstAEndlichen Geste, mit der unsereiner in einer Buchhandlung einen angebotenen schlechten Detektivroman weglegt, ohne ihn auch nur anzublAEttern, trat er von unserem Tische fort und verlieSS den Smoking Room. ›Gewogen und zu leicht befunden‹, dachte ich mir, ein biSSchen verAErgert durch diesen kUEhlen, verAEchtlichen Blick, und um meinem Unmut irgendwie Luft zu machen, AEuSSerte ich zu McConnor: »Ihr Zug scheint den Meister nicht sehr begeistert zu haben.« »Welchen Meister?« Ich erklAErte ihm, jener Herr, der eben an uns vorUEbergegangen und mit miSSbilligendem Blick auf unser Spiel gesehen, sei der Schachmeister Czentovic gewesen. Nun, fUEgte ich hinzu, wir beide wUErden es UEberstehen und ohne Herzeleid uns mit seiner illustren Verachtung abfinden; arme Leute mUESSten eben mit Wasser kochen. Aber zu meiner UEberraschung UEbte auf McConnor meine lAEssige Mitteilung eine vOEllig unerwartete Wirkung. Er wurde sofort erregt, vergaSS unsere Partie, und sein Ehrgeiz begann geradezu hOErbar zu pochen. Er habe keine Ahnung gehabt, daSS Czentovic an Bord sei, und Czentovic mUEsse unbedingt gegen ihn spielen. Er habe noch nie im Leben gegen einen Weltmeister gespielt auSSer einmal bei einer Simultanpartie mit vierzig anderen; schon das sei furchtbar spannend gewesen, und er habe damals beinahe gewonnen. Ob ich den Schachmeister persOEnlich kenne? Ich verneinte. Ob ich ihn nicht ansprechen wolle und zu uns bitten? Ich lehnte ab mit der BegrUEndung, Czentovic sei meines Wissens fUEr neue Bekanntschaften nicht sehr zugAEnglich. AuSSerdem, was fUEr einen Reiz sollte es einem Weltmeister bieten, mit uns drittklassigen Spielern sich abzugeben? Nun, das mit den drittklassigen Spielern hAEtte ich zu einem derart ehrgeizigen Manne wie McConnor lieber nicht AEuSSern sollen. Er lehnte sich verAErgert zurUEck und erklAErte schroff, er fUEr seinen Tell kOEnne nicht glauben, daSS Czentovic die hOEfliche Aufforderung eines Gentlemans ablehnen werde; dafUEr werde er schon sorgen. Auf seinen Wunsch gab ich ihm eine kurze Personenbeschreibung des Weltmeisters, und schon stUErmte er, unser Schachbrett gleichgUEltig im Stich lassend, in unbeherrschter Ungeduld Czentovic auf das Promenadendeck nach. Wieder spUErte ich, daSS der Besitzer dermaSSen breiter Schultern nicht zu halten war, sobald er einmal seinen Willen in eine Sache geworfen. Ich wartete ziemlich gespannt. Nach zehn Minuten kehrte McConnor zurUEck, nicht sehr aufgerAEumt, wie mir schien. »Nun?« fragte ich. »Sie haben recht gehabt«, antwortete er etwas verAErgert. »Kein sehr angenehmer Herr. Ich stellte mich vor, erklAErte ihm, wer ich sei. Er reichte mir nicht einmal die Hand. Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, wie stolz und geehrt wir alle an Bord sein wUErden, wenn er eine Simultanpartie gegen uns spielen wollte. Aber er hielt seinen RUEcken verflucht steif; es tAEte ihm leid, aber er habe kontraktliche Verpflichtungen gegen seinen Agenten, die ihm ausdrUEcklich untersagten, wAEhrend seiner ganzen Tournee ohne Honorar zu spielen. Sein Minimum sei zweihundertfUEnfzig Dollar pro Partie.« Ich lachte. »Auf diesen Gedanken wAEre ich eigentlich nie geraten, daSS Figuren von Schwarz auf WeiSS zu schieben ein derart eintrAEgliches GeschAEft sein kann. Nun, ich hoffe, Sie haben sich ebenso hOEflich empfohlen.« Aber McConnor blieb vollkommen ernst. »Die Partie ist fUEr morgen nachmittags drei Uhr angesetzt. Hier im Rauchsalon. Ich hoffe, wir werden uns nicht so leicht zu Brei schlagen lassen.« »Wie? Sie haben ihm die zweihundertfUEnfzig Dollar bewilligt?« rief ich ganz betroffen aus. »Warum nicht? C' est son mEtier. WAEre ich Zahnarzt an Bord, wUErde ich auch nicht verlangen, daSS er mir den Zahn umsonst ziehen soll. Der Mann hat ganz recht, dicke Preise zu machen; in jedem Fach sind die wirklichen KOEnner auch die besten GeschAEftsleute. Und was mich betrifft: je klarer ein GeschAEft, um so besser. Ich zahle lieber in Cash, als mir von einem Herrn Czentovic Gnaden erweisen zu lassen und mich am Ende noch bei ihm bedanken zu mUEssen. SchlieSSlich habe ich in unserem Klub schon mehr an einem Abend verloren als zweihundertfUEnfzig Dollar und dabei mit keinem Weltmeister gespielt. FUEr ›drittklassige‹ Spieler ist es keine Schande, von einem Czentovic umgelegt zu werden.« Es amUEsierte mich, zu bemerken, wie tief ich McConnors SelbstgefUEhl mit dem einen unschuldigen Wort ›drittklassiger Spieler‹ gekrAEnkt hatte. Aber da er den teuren SpaSS zu bezahlen gesonnen war, hatte ich nichts einzuwenden gegen seinen deplacierten Ehrgeiz, der mir endlich die Bekanntschaft meines Kuriosums vermitteln sollte. Wir verstAEndigten eiligst die vier oder fUEnf Herren, die sich bisher als Schachspieler deklariert hatten, von dem bevorstehenden Ereignis und lieSSen, um von durchgehenden Passanten mOEglichst wenig gestOErt zu werden, nicht nur unseren Tisch, sondern auch die Nachbartische fUEr das bevorstehende Match im voraus reservieren. Am nAEchsten Tage war unsere kleine Gruppe zur vereinbarten Stunde vollzAEhlig erschienen. Der Mittelplatz gegenUEber dem Meister blieb selbstverstAEndlich McConnor zugeteilt, der seine NervositAEt entlud, indem er eine schwere Zigarre nach der andern anzUEndete und immer wieder unruhig auf die Uhr blickte. Aber der Weltmeister lieSS – ich hatte nach den ErzAEhlungen meines Freundes derlei schon geahnt – gute zehn Minuten auf sich warten, wodurch allerdings sein Erscheinen dann erhOEhten Aplomb erhielt. Er trat ruhig und gelassen auf den Tisch zu. Ohne sich vorzustellen – ›Ihr wiSSt, wer ich bin, und wer ihr seid, interessiert mich nicht‹, schien diese UnhOEflichkeit zu besagen –, begann er mit fachmAEnnischer Trockenheit die sachlichen Anordnungen. Da eine Simultanpartie hier an Bord mangels an verfUEgbaren Schachbrettern unmOEglich sei, schlage er vor, daSS wir alle gemeinsam gegen ihn spielen sollten. Nach jedem Zug werde er, um unsere Beratungen nicht zu stOEren, sich zu einem anderen Tisch am Ende des Raumes verfUEgen. Sobald wir unseren Gegenzug getan, sollten wir, da bedauerlicherweise keine Tischglocke zur Hand sei, mit dem LOEffel gegen ein Glas klopfen. Als maximale Zugzeit schlage er zehn Minuten vor, falls wir keine andere Einteilung wUEnschten. Wir pflichteten selbstverstAEndlich wie schUEchterne SchUEler jedem Vorschlage bei. Die Farbenwahl teilte Czentovic Schwarz zu; noch im Stehen tat er den ersten Gegenzug und wandte sich dann gleich dem von ihm vorgeschlagenen Warteplatz zu, wo er lAEssig hingelehnt eine illustrierte Zeitschrift durchblAEtterte. Es hat wenig Sinn, UEber die Partie zu berichten. Sie endete selbstverstAEndlich, wie sie enden muSSte, mit unserer totalen Niederlage, und zwar bereits beim vierundzwanzigsten Zuge. DaSS nun ein Weltschachmeister ein halbes Dutzend mittlerer oder untermittlerer Spieler mit der linken Hand niederfegt, war an sich wenig erstaunlich; verdrieSSlich wirkte eigentlich auf uns alle nur die prAEpotente Art, mit der Czentovic es uns allzu deutlich fUEhlen lieSS, daSS er uns mit der linken Hand erledigte. Er warf jedesmal nur einen scheinbar flUEchtigen Blick auf das Brett, sah an uns so lAEssig vorbei, als ob wir selbst tote Holzfiguren wAEren, und diese impertinente Geste erinnerte unwillkUErlich an die, mit der man einem rAEudigen Hund abgewendeten Blicks einen Brocken zuwirft. Bei einiger FeinfUEhligkeit hAEtte er meiner Meinung nach uns auf Fehler aufmerksam machen kOEnnen oder durch ein freundliches Wort aufmuntern. Aber auch nach Beendigung der Partie AEuSSerte dieser unmenschliche Schachautomat keine Silbe, sondern wartete, nachdem er »Matt« gesagt, regungslos vor dem Tische, ob man noch eine zweite Partie von ihm wUEnsche. Schon war ich aufgestanden, um hilflos, wie man immer gegen dickfellige Grobheit bleibt, durch eine Geste anzudeuten, daSS mit diesem erledigten DollargeschAEft wenigstens meinerseits das VergnUEgen unserer Bekanntschaft beendet sei, als zu meinem AErger neben mir McConnor mit ganz heiserer Stimme sagte: »Revanche!« Ich erschrak geradezu UEber den herausfordernden Ton; tatsAEchlich bot McConnor in diesem Augenblick eher den Eindruck eines Boxers vor dem Losschlagen als den eines hOEflichen Gentlemans. War es die unangenehme Art der Behandlung, die uns Czentovic hatte zuteil werden lassen, oder nur sein pathologisch reizbarer Ehrgeiz – jedenfalls war McConnors Wesen vollkommen verAEndert. Rot im Gesicht bis hoch hinauf an das Stirnhaar, die NUEstern von innerem Druck stark aufgespannt, transpirierte er sichtlich, und von den verbissenen Lippen schnitt sich scharf eine Falte gegen sein kAEmpferisch vorgerecktes Kinn. Ich erkannte beunruhigt in seinem Auge jenes Flackern unbeherrschter Leidenschaft, wie sie sonst Menschen nur am Roulettetisch ergreift, wenn zum sechsten- oder siebentenmal bei immer verdoppeltem Einsatz nicht die richtige Farbe kommt. In diesem Augenblick wuSSte ich, dieser fanatisch Ehrgeizige wUErde, und sollte es ihn sein ganzes VermOEgen kosten, gegen Czentovic so lange spielen und spielen und spielen, einfach oder doubliert, bis er wenigstens ein einziges Mal eine Partie gewonnen. Wenn Czentovic durchhielt, so hatte er an McConnor eine Goldgrube gefunden, aus der er bis Buenos Aires ein paar tausend Dollar schaufeln konnte. Czentovic blieb unbewegt. »Bitte«, antwortete er hOEflich. »Die Herren spielen jetzt Schwarz.« Auch die zweite Partie bot kein verAEndertes Bild, auSSer daSS durch einige Neugierige unser Kreis nicht nur grOESSer, sondern auch lebhafter geworden war. McConnor blickte so starr auf das Brett, als wollte er die Figuren mit seinem Willen, zu gewinnen, magnetisieren; ich spUErte ihm an, daSS er auch tausend Dollar begeistert geopfert hAEtte fUEr den Lustschrei ›Matt!‹ gegen den kaltschnAEuzigen Gegner. MerkwUErdigerweise ging etwas von seiner verbissenen Erregung unbewuSSt in uns UEber. Jeder einzelne Zug wurde ungleich leidenschaftlicher diskutiert als vordem, immer hielten wir noch im letzten Moment einer den andern zurUEck, ehe wir uns einigten, das Zeichen zu geben, das Czentovic an unseren Tisch zurUEckrief. AllmAEhlich waren wir beim siebenunddreiSSigsten Zuge angelangt, und zu unserer eigenen UEberraschung war eine Konstellation eingetreten, die verblUEffend vorteilhaft schien, weil es uns gelungen war, den Bauern der c – Linie bis auf das vorletzte Feld cZWEI zu bringen; wir brauchten ihn nur vorzuschieben auf cEINS, um eine neue Dame zu gewinnen. Ganz behaglich war uns freilich nicht bei dieser allzu offenkundigen Chance; wir argwOEhnten einmUEtig, dieser scheinbar von uns errungene Vorteil mUEsse von Czentovic, der doch die Situation viel weitblickender UEbersah, mit Absicht uns als Angelhaken zugeschoben sein. Aber trotz angestrengtem gemeinsamem Suchen und Diskutieren vermochten wir die versteckte Finte nicht wahrzunehmen. SchlieSSlich, schon knapp am Rande der verstatteten UEberlegungsfrist, entschlossen wir uns, den Zug zu wagen. Schon rUEhrte McConnor den Bauern an, um ihn auf das letzte Feld zu schieben, als er sich jAEh am Arm gepackt fUEhlte und jemand leise und heftig flUEsterte: »Um Gottes willen! Nicht!« UnwillkUErlich wandten wir uns alle um. Ein Herr von etwa fUEnfundvierzig Jahren, dessen schmales, scharfes Gesicht mir schon vordem auf der Deckpromenade durch seine merkwUErdige, fast kreidige BlAEsse aufgefallen war, muSSte in den letzten Minuten, indes wir unsere ganze Aufmerksamkeit dem Problem zuwandten, zu uns getreten sein. Hastig fUEgte er, unsern Blick spUErend, hinzu: »Wenn Sie jetzt eine Dame machen, schlAEgt er sie sofort mit dem LAEufer c EINS, Sie nehmen mit dem Springer zurUEck. Aber inzwischen geht er mit seinem Freibauern auf dSIEBEN, bedroht Ihren Turm, und auch wenn Sie mit dem Springer Schach sagen, verlieren Sie und sind nach neun bis zehn ZUEgen erledigt. Es ist beinahe dieselbe Konstellation, wie sie Aljechin gegen Bogoljubow EINSNEUNZWEIZWEI im Pistyaner GroSSturnier initiiert hat.« McConnor lieSS erstaunt die Hand von der Figur und starrte nicht minder verwundert als wir alle auf den Mann, der wie ein unvermuteter Engel helfend vom Himmel kam. Jemand, der auf neun ZUEge im voraus ein Matt berechnen konnte, muSSte ein Fachmann ersten Ranges sein, vielleicht sogar ein Konkurrent um die Meisterschaft, der zum gleichen Turnier reiste, und sein plOEtzliches Kommen und Eingreifen gerade in einem so kritischen Moment hatte etwas fast UEbernatUErliches. Als erster faSSte sich McConnor. »Was wUErden Sie raten?« flUEsterte er aufgeregt. »Nicht gleich vorziehen, sondern zunAEchst ausweichen! Vor allem mit dem KOEnig abrUEcken aus der gefAEhrdeten Linie von gACHT auf hSIEBEN. Er wird wahrscheinlich den Angriff dann auf die andere Flanke hinUEberwerfen. Aber das parieren Sie mit Turm cACHT – cVIER; das kostet ihn zwei Tempi, einen Bauern und damit die UEberlegenheit. Dann steht Freibauer gegen Freibauer, und wenn Sie sich richtig defensiv halten, kommen Sie noch auf Remis. Mehr ist nicht herauszuholen.« Wir staunten abermals. Die PrAEzision nicht minder als die Raschheit seiner Berechnung hatte etwas Verwirrendes; es war, als ob er die ZUEge aus einem gedruckten Buch ablesen wUErde. Immerhin wirkte die unvermutete Chance, dank seines Eingreifens unsere Partie gegen einen Weltmeister auf Remis zu bringen, zauberisch. EinmUEtig rUEckten wir zur Seite, um ihm freieren Blick auf das Brett zu gewAEhren. Noch einmal fragte McConnor: »Also KOEnig gACHT auf hSIEBEN?« »Jawohl! Ausweichen vor allem!« McConnor gehorchte, und wir klopften an das Glas. Czentovic trat mit seinem gewohnt gleichmUEtigen Schritt an unseren Tisch und maSS mit einem einzigen Blick den Gegenzug. Dann zog er auf dem KOEnigsflUEgel den Bauern hZWEI – hVIER, genau wie es unser unbekannter Helfer vorausgesagt. Und schon flUEsterte dieser aufgeregt: »Turm vor, Turm vor, cACHT auf cVIER, er muSS dann zuerst den Bauern decken. Aber das wird ihm nichts helfen! Sie schlagen, ohne sich um seinen Freibauern zu kUEmmern, mit dem Springer dDREI – eFUENF, und das Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Den ganzen Druck vorwAErts, statt zu verteidigen!« Wir verstanden nicht, was er meinte. FUEr uns war, was er sagte, Chinesisch. Aber schon einmal in seinem Bann, zog McConnor, ohne zu UEberlegen, wie jener geboten. Wir schlugen abermals an das Glas, um Czentovic zurUEckzurufen. Zum ersten Male entschied er sich nicht rasch, sondern blickte gespannt auf das Brett. UnwillkUErlich schoben sich seine Brauen zusammen. Dann tat er genau den Zug, den der Fremde uns angekUEndigt, und wandte sich zum Gehen. Jedoch ehe er zurUEcktrat, geschah etwas Neues und Unerwartetes. Czentovic hob den Blick und musterte unsere Reihen – offenbar wollte er herausfinden, wer ihm mit einem Male so energischen Widerstand leistete. Von diesem Augenblick an wuchs unsere Erregung ins Ungemessene. Bisher hatten wir ohne ernstliche Hoffnung gespielt, nun aber trieb der Gedanke, den kalten Hochmut Czentovics zu brechen, uns eine fliegende Hitze durch alle Pulse. Schon aber hatte unser neuer Freund den nAEchsten Zug angeordnet, und wir konnten – die Finger zitterten mir, als ich den LOEffel an das Glas schlug – Czentovic zurUEckrufen. Und nun kam unser erster Triumph. Czentovic, der bisher immer nur im Stehen gespielt, zOEgerte, zOEgerte und setzte sich schlieSSlich nieder. Er setzte sich langsam und schwerfAEllig; damit aber war schon rein kOErperlich das bisherige Von-oben-herab zwischen ihm und uns aufgehoben. Wir hatten ihn genOEtigt, sich wenigstens rAEumlich auf eine Ebene mit uns zu begeben. Er UEberlegte lange, die Augen unbeweglich auf das Brett gesenkt, so daSS man kaum mehr die Pupillen unter den schwarzen Lidern wahrnehmen konnte, und im angestrengten Nachdenken OEffnete sich ihm allmAEhlich der Mund, was seinem runden Gesicht ein etwas einfAEltiges Aussehen gab. Czentovic UEberlegte einige Minuten, dann tat er seinen Zug und stand auf. Und schon flUEsterte unser Freund: »Ein Hinhaltezug! Gut gedacht! Aber nicht darauf eingehen! Abtausch forcieren, unbedingt Abtausch, dann kOEnnen wir auf Remis, und kein Gott kann ihm helfen.« McConnor gehorchte. Es begann in den nAEchsten ZUEgen zwischen den beiden – wir andern waren lAEngst zu leeren Statisten herabgesunken – ein uns unverstAEndliches Hin und Her. Nach etwa sieben ZUEgen sah Czentovic nach lAEngerem Nachdenken auf und erklAErte: »Remis.« Einen Augenblick herrschte totale Stille. Man hOErte plOEtzlich die Wellen rauschen und das Radio aus dem Salon herUEberjazzen, man vernahm jeden Schritt vom Promenadendeck und das leise, feine Sausen des Winds, der durch die Fugen der Fenster fuhr. Keiner von uns atmete, es war zu plOEtzlich gekommen und wir alle noch geradezu erschrocken UEber das Unwahrscheinliche, daSS dieser Unbekannte dem Weltmeister in einer schon halb verlorenen Partie seinen Willen aufgezwungen haben sollte. McConnor lehnte sich mit einem Ruck zurUEck, der zurUEckgehaltene Atem fuhr ihm hOErbar in einem beglUEckten »Ah!« von den Lippen. Ich wiederum beobachtete Czentovic. Schon bei den letzten ZUEgen hatte mir geschienen, als ob er blAEsser geworden sei. Aber er verstand sich gut zusammenzuhalten. Er verharrte in seiner scheinbar gleichmUEtigen Starre und fragte nur in lAEssigster Weise, wAEhrend er die Figuren mit ruhiger Hand vom Brette schob: »WUEnschen die Herren noch eine dritte Partie?« Er stellte die Frage rein sachlich, rein geschAEftlich. Aber das MerkwUErdige war: er hatte dabei nicht McConnor angeblickt, sondern scharf und gerade das Auge gegen unseren Retter gehoben. Wie ein Pferd am festeren Sitz einen neuen, einen besseren Reiter, muSSte er an den letzten ZUEgen seinen wirklichen, seinen eigentlichen Gegner erkannt haben. UnwillkUErlich folgten wir seinem Blick und sahen gespannt auf den Fremden. jedoch ehe dieser sich besinnen oder gar antworten konnte, hatte in seiner ehrgeizigen Erregung McConnor schon triumphierend ihm zugerufen: »SelbstverstAEndlich! Aber jetzt mUEssen Sie allein gegen ihn spielen! Sie allein gegen Czentovic!« Doch nun ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Der Fremde, der merkwUErdigerweise noch immer angestrengt auf das schon abgerAEumte Schachbrett starrte, schrak auf, da er alle Blicke auf sich gerichtet und sich so begeistert angesprochen fUEhlte. Seine ZUEge verwirrten sich. »Auf keinen Fall, meine Herren«, stammelte er sichtlich betroffen. »Das ist vOEllig ausgeschlossen... ich komme gar nicht in Betracht... ich habe seit zwanzig, nein, fUEnfundzwanzig Jahren vor keinem Schachbrett gesessen... und ich sehe erst jetzt, wie ungehOErig ich mich betragen habe, indem ich mich ohne Ihre Verstattung in Ihr Spiel einmengte... Bitte, entschuldigen Sie meine Vordringlichkeit... ich will gewiSS nicht weiter stOEren.« Und noch ehe wir uns von unserer UEberraschung zurechtgefunden, hatte er sich bereits zurUEckgezogen und das Zimmer verlassen. »Aber das ist doch ganz unmOEglich!« drOEhnte der temperamentvolle McConnor, mit der Faust aufschlagend. »VOEllig ausgeschlossen, daSS dieser Mann fUEnfundzwanzig Jahre nicht Schach gespielt haben soll! Er hat doch jeden Zug, jede Gegenpointe auf fUEnf, auf sechs ZUEge vorausberechnet. So etwas kann niemand aus dem Handgelenk. Das ist doch vOEllig ausgeschlossen – nicht wahr?« Mit der letzten Frage hatte sich McConnor unwillkUErlich an Czentovic gewandt. Aber der Weltmeister blieb unerschUEtterlich kUEhl. »Ich vermag darUEber kein Urteil abzugeben. jedenfalls hat der Herr etwas befremdlich und interessant gespielt; deshalb habe ich ihm auch absichtlich eine Chance gelassen.« Gleichzeitig lAEssig aufstehend, fUEgte er in seiner sachlichen Art bei: »Sollte der Herr oder die Herren morgen eine abermalige Partie wUEnschen, so stehe ich von drei Uhr ab zur VerfUEgung.« Wir konnten ein leises LAEcheln nicht unterdrUEcken. jeder von uns wuSSte, daSS Czentovic unserem unbekannten Helfer keineswegs groSSmUEtig eine Chance gelassen und diese Bemerkung nichts anderes als eine naive Ausflucht war, um sein eigenes Versagen zu maskieren. Um so heftiger wuchs unser Verlangen, einen derart unerschUEtterlichen Hochmut gedemUEtigt zu sehen. Mit einemmal war UEber uns friedliche, lAEssige Bordbewohner eine wilde, ehrgeizige Kampflust gekommen, denn der Gedanke, daSS gerade auf unserem Schiff mitten auf dem Ozean dem Schachmeister die Palme entrungen werden kOEnnte – ein Rekord, der dann von allen TelegraphenbUEros UEber die ganze Welt hingeblitzt wUErde – faszinierte uns in herausforderndster Weise. Dazu kam noch der Reiz des MysteriOEsen, der von dem unerwarteten Eingreifen unseres Retters gerade im kritischen Momente ausging, und der Kontrast seiner fast AEngstlichen Bescheidenheit mit dem unerschUEtterlichen SelbstbewuSStsein des Professionellen. Wer war dieser Unbekannte? Hatte hier der Zufall ein noch unentdecktes Schachgenie zutage gefOErdert? Oder verbarg uns aus einem unerforschlichen Grunde ein berUEhmter Meister seinen Namen? Alle diese MOEglichkeiten erOErterten wir in aufgeregtester Weise, selbst die verwegensten Hypothesen waren uns nicht verwegen genug, um die rAEtselhafte Scheu und das UEberraschende Bekenntnis des Fremden mit seiner doch unverkennbaren Spielkunst in Einklang zu bringen. In einer Hinsicht jedoch blieben wir alle einig: keinesfalls auf das Schauspiel eines neuerlichen Kampfes zu verzichten. Wir beschlossen, alles zu versuchen, damit unser Helfer am nAEchsten Tage eine Partie gegen Czentovic spiele, fUEr deren materielles Risiko McConnor aufzukommen sich verpflichtete. Da sich inzwischen durch Umfrage beim Steward herausgestellt hatte, daSS der Unbekannte ein OEsterreicher sei, wurde mir als seinem Landsmann der Auftrag zugeteilt, ihm unsere Bitte zu unterbreiten. Ich benOEtigte nicht lange, um auf dem Promenadendeck den so eilig EntflUEchteten aufzufinden. Er lag auf seinem Deckchair und las. Ehe ich auf ihn zutrat, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihn zu betrachten. Der scharfgeschnittene Kopf ruhte in der Haltung leichter ErmUEdung auf dem Kissen –, abermals fiel mir die merkwUErdige BlAEsse des verhAEltnismAESSig jungen Gesichtes besonders auf, dem die Haare blendend weiSS die SchlAEfen rahmten; ich hatte, ich weiSS nicht warum, den Eindruck, dieser Mann mUEsse plOEtzlich gealtert sein. Kaum ich auf ihn zutrat, erhob er sich hOEflich und stellte sich mit einem Namen vor, der mir sofort vertraut war als der einer hochangesehenen altOEsterreichischen Familie. Ich erinnerte mich, daSS ein TrAEger dieses Namens zu dem engsten Freundeskreise Schuberts gehOErt hatte und auch einer der LeibAErzte des alten Kaisers dieser Familie entstammte. Als ich Dr. B. unsere Bitte UEbermittelte, die Herausforderung Czentovics anzunehmen, war er sichtlich verblUEfft. Es erwies sich, daSS er keine Ahnung gehabt hatte, bei jener Partie einen Weltmeister, und gar den zur Zeit erfolgreichsten, ruhmreich bestanden zu haben. Aus irgendeinem Grunde schien diese Mitteilung auf ihn besonderen Eindruck zu machen, denn er erkundigte sich immer und immer wieder von neuem, ob ich dessen gewiSS sei, daSS sein Gegner tatsAEchlich ein anerkannter Weltmeister gewesen. Ich merkte bald, daSS dieser Umstand meinen Auftrag erleichterte, und hielt es nur, seine FeinfUEhligkeit spUErend, fUEr ratsam, ihm zu verschweigen, daSS das materielle Risiko einer allfAElligen Niederlage zu Lasten von McConnors Kasse ginge. Nach lAEngerem ZOEgern erklAErte sich Dr. B. schlieSSlich zu einem Match bereit, doch nicht ohne ausdrUEcklich gebeten zu haben, die anderen Herren nochmals zu warnen, sie mOEchten keineswegs auf sein KOEnnen UEbertriebene Hoffnungen setzen. »Denn«, fUEgte er mit einem versonnenen LAEcheln hinzu, »ich weiSS wahrhaftig nicht, ob ich fAEhig bin, eine Schachpartie nach allen Regeln richtig zu spielen. Bitte glauben Sie mir, daSS es keineswegs falsche Bescheidenheit war, wenn ich sagte, daSS ich seit meiner Gymnasialzeit, also seit mehr als zwanzig Jahren, keine Schachfigur mehr berUEhrt habe. Und selbst zu jener Zeit galt ich bloSS als Spieler ohne sonderliche Begabung.« Er sagte dies in einer so natUErlichen Weise, daSS ich nicht den leisesten Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hegen durfte. Dennoch konnte ich nicht umhin meiner Verwunderung Ausdruck zu geben, wie genau er an jede einzelne Kombination der verschiedensten Meister sich erinnern kOEnne; immerhin mUEsse er sich doch wenigstens theoretisch mit Schach viel beschAEftigt haben. Dr. B. lAEchelte abermals in jener merkwUErdig traumhaften Art. »Viel beschAEftigt! – WeiSS Gott, das kann man wohl sagen, daSS ich mich mit Schach viel beschAEftigt habe. Aber das geschah unter ganz besonderen, ja vOEllig einmaligen UmstAEnden. Es war dies eine ziemlich komplizierte Geschichte, und sie kOEnnte allenfalls als kleiner Beitrag gelten zu unserer lieblichen groSSen Zeit. Wenn Sie eine halbe Stunde Geduld haben...« * Er hatte auf den Deckchair neben sich gedeutet. Gerne folgte ich seiner Einladung. Wir waren ohne Nachbarn. Dr. B. nahm die Lesebrille von den Augen, legte sie zur Seite und begann: »Sie waren so freundlich, zu AEuSSern, daSS Sie sich als Wiener des Namens meiner Familie erinnerten. Aber ich vermute, Sie werden kaum von der Rechtsanwaltskanzlei gehOErt haben, die ich gemeinsam mit meinem Vater und spAEterhin allein leitete, denn wir fUEhrten keine Causen, die publizistisch in der Zeitung abgehandelt wurden, und vermieden aus Prinzip neue Klienten. In Wirklichkeit hatten wir eigentlich gar keine richtige Anwaltspraxis mehr, sondern beschrAEnkten uns ausschlieSSlich auf die Rechtsberatung und vor allem VermOEgensverwaltung der groSSen KlOEster, denen mein Vater als frUEherer Abgeordneter der klerikalen Partei nahestand. AuSSerdem war uns – heute, da die Monarchie der Geschichte angehOErt, darf man wohl schon darUEber sprechen – die Verwaltung der Fonds einiger Mitglieder der kaiserlichen Familie anvertraut. Diese Verbindungen zum Hof und zum Klerus – mein Onkel war Leibarzt des Kaisers, ein anderer Abt in Seitenstetten – reichten schon zwei Generationen zurUEck; wir hatten sie nur zu erhalten, und es war eine stille, eine, mOEchte ich sagen, lautlose TAEtigkeit, die uns durch dies ererbte Vertrauen zugeteilt war, eigentlich nicht viel mehr erfordernd als strengste Diskretion und VerlAESSlichkeit, zwei Eigenschaften, die mein verstorbener Vater im hOEchsten MaSSe besaSS; ihm ist es tatsAEchlich gelungen, sowohl in den Inflationsjahren als in jenen des Umsturzes durch seine Umsicht seinen Klienten betrAEchtliche VermOEgenswerte zu erhalten. Als dann Hitler in Deutschland ans Ruder kam und gegen den Besitz der Kirche und der KlOEster seine RaubzUEge begann, gingen auch von jenseits der Grenze mancherlei Verhandlungen und Transaktionen, um wenigstens den mobilen Besitz vor Beschlagnahme zu retten, durch unsere HAEnde, und von gewissen geheimen politischen Verhandlungen der Kurie und des Kaiserhauses wuSSten wir beide mehr, als die OEffentlichkeit je erfahren wird. Aber gerade die UnauffAElligkeit unserer Kanzlei – wir fUEhrten nicht einmal ein Schild an der TUEr – sowie die Vorsicht, daSS wir beide alle Monarchistenkreise ostentativ mieden, bot sichersten Schutz vor unberufenen Nachforschungen. De facto hat in all diesen Jahren keine BehOErde in OEsterreich jemals vermutet, daSS die geheimen Kuriere des Kaiserhauses ihre wichtigste Post immer gerade in unserer unscheinbaren Kanzlei im vierten Stock abholten oder abgaben. Nun hatten die Nationalsozialisten, lAEngst ehe sie ihre Armeen gegen die Welt aufrUEsteten, eine andere ebenso gefAEhrliche und geschulte Armee in allen NachbarlAEndern zu organisieren begonnen, die Legion der Benachteiligten, der ZurUEckgesetzten, der GekrAEnkten. In jedem Amt, in jedem Betrieb waren ihre sogenannten ›Zellen‹ eingenistet, an jeder Stelle bis hinauf in die Privatzimmer von DollfuSS und Schuschnigg saSSen ihre Horchposten und Spione. Selbst in unserer unscheinbaren Kanzlei hatten sie, wie ich leider erst zu spAEt erfuhr, ihren Mann. Es war freilich nicht mehr als ein jAEmmerlicher und talentloser Kanzlist, den ich auf Empfehlung eines Pfarrers einzig deshalb angestellt hatte, um der Kanzlei nach auSSen hin den Anschein eines regulAEren Betriebes zu geben; in Wirklichkeit verwendeten wir ihn zu nichts anderem als zu unschuldigen BotengAEngen, lieSSen ihn das Telephon bedienen und die Akten ordnen, das heiSSt jene Akten, die vOEllig gleichgUEltig und unbedenklich waren. Die Post durfte er niemals OEffnen, alle wichtigen Briefe schrieb ich, ohne Kopien zu hinterlegen, eigenhAEndig mit der Maschine, jedes wesentliche Dokument nahm ich selbst nach Hause und verlegte geheime Besprechungen ausschlieSSlich in die Priorei des Klosters oder in das Ordinationszimmer meines Onkels. Dank dieser VorsichtsmaSSnahmen bekam dieser Horchposten von den wesentlichen VorgAEngen nichts zu sehen; aber durch einen unglUEcklichen Zufall muSSte der ehrgeizige und eitle Bursche bemerkt haben, daSS man ihm miSStraute und hinter seinem RUEcken allerlei Interessantes geschah. Vielleicht hat einmal in meiner Abwesenheit einer der Kuriere unvorsichtigerweise von ›Seiner MajestAEt‹ gesprochen, statt, wie vereinbart, vom ›Baron Fern‹, oder der Lump muSSte Briefe widerrechtlich geOEffnet haben – jedenfalls holte er sich, ehe ich Verdacht schOEpfen konnte, von MUEnchen oder Berlin Auftrag, uns zu UEberwachen. Erst viel spAEter, als ich lAEngst in Haft saSS, erinnerte ich mich, daSS seine anfAEngliche LAEssigkeit im Dienst sich in den letzten Monaten in plOEtzlichen Eifer verwandelt und er sich mehrfach beinahe zudringlich angeboten hatte, meine Korrespondenz zur Post zu bringen. Ich kann mich von einer gewissen Unvorsichtigkeit also nicht freisprechen, aber sind schlieSSlich nicht auch die grOESSten Diplomaten und MilitAErs von der Hitlerei heimtUEckisch UEberspielt worden? Wie genau und liebevoll die Gestapo mir lAEngst ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatte, erwies dann AEuSSerst handgreiflich der Umstand, daSS noch am selben Abend, da Schuschnigg seine Abdankung bekanntgab, und einen Tag, ehe Hitler in Wien einzog, ich bereits von SS-Leuten festgenommen war. Die allerwichtigsten Papiere war es mir glUEcklicherweise noch gelungen zu verbrennen, kaum ich im Radio die Abschiedsrede Schuschniggs gehOErt, und den Rest der Dokumente mit den unentbehrlichen Belegen fUEr die im Ausland deponierten VermOEgenswerte der KlOEster und zweier ErzherzOEge schickte ich wirklich in der letzten Minute, ehe die Burschen mir die TUEr einhAEmmerten in einem Waschkorb versteckt durch meine alte, verlAESSliche HaushAElterin zu meinem Onkel hinUEber.« Dr. B. unterbrach, um sich eine Zigarre anzuzUEnden. Bei dem aufflackernden Licht bemerkte ich, daSS ein nervOEses Zucken um seinen rechten Mundwinkel lief, das mir schon vorher aufgefallen war und, wie ich beobachten konnte, sich jede paar Minuten wiederholte. Es war nur eine flUEchtige Bewegung, kaum stAErker als ein Hauch, aber sie gab dem ganzen Gesicht eine merkwUErdige Unruhe. »Sie vermuten nun wahrscheinlich, daSS ich Ihnen jetzt vom Konzentrationslager erzAEhlen werde, in das doch alle jene UEbergefUEhrt wurden, die unserem alten OEsterreich die Treue gehalten, von den Erniedrigungen, Martern, Torturen, die ich dort erlitten. Aber nichts dergleichen geschah. Ich kam in eine andere Kategorie. Ich wurde nicht zu jenen UnglUEcklichen getrieben, an denen man mit kOErperlichen und seelischen Erniedrigungen ein lang aufgespartes Ressentiment austobte, sondern jener anderen, ganz kleinen Gruppe zugeteilt, aus der die Nationalsozialisten entweder Geld oder wichtige Informationen herauszupressen hofften. An sich war meine bescheidene Person natUErlich der Gestapo vOEllig uninteressant. Sie muSSten aber erfahren haben, daSS wir die StrohmAEnner, die Verwalter und Vertrauten ihrer erbittertsten Gegner gewesen, und was sie von mir zu erpressen hofften, war belastendes Material: Material gegen die KlOEster, denen sie VermOEgensverschiebungen nachweisen wollten, Material gegen die kaiserliche Familie und all jene die in OEsterreich sich aufopfernd fUEr die Monarchie eingesetzt. Sie vermuteten – und wahrhaftig nicht zu Unrecht – daSS von jenen Fonds, die durch unsere HAEnde gegangen waren, wesentliche BestAEnde sich noch, ihrer Raublust unzugAEnglich, versteckten; sie holten mich darum gleich am ersten Tag heran, um mit ihren bewAEhrten Methoden mir diese Geheimnisse abzuzwingen. Leute meiner Kategorie, aus denen wichtiges Material oder Geld herausgepreSSt werden sollte, wurden deshalb nicht in Konzentrationslager abgeschoben, sondern fUEr eine besondere Behandlung aufgespart. Sie erinnern sich vielleicht, daSS unser Kanzler und anderseits der Baron Rothschild, dessen Verwandten sie Millionen abzunOEtigen hofften, keineswegs hinter Stacheldraht in ein Gefangenenlager gesetzt wurden, sondern unter scheinbarer Bevorzugung in ein Hotel, das Hotel Metropole, das zugleich Hauptquartier der Gestapo war, UEberfUEhrt, wo jeder ein abgesondertes Zimmer erhielt. Auch mir unscheinbarem Mann wurde diese Auszeichnung erwiesen. Ein eigenes Zimmer in einem Hotel – nicht wahr, das klingt an sich AEuSSerst human? Aber Sie dUErfen mir glauben, daSS man uns keineswegs eine humanere, sondern nur eine raffiniertere Methode zudachte, wenn man uns ›Prominente‹ nicht zu zwanzig in eine eiskalte Baracke stopfte, sondern in einem leidlich geheizten und separaten Hotelzimmer behauste. Denn die Pression, mit der man uns das benOEtigte ›Material‹ abzwingen wollte, sollte auf subtilere Weise funktionieren als durch rohe PrUEgel oder kOErperliche Folterung: durch die denkbar raffinierteste Isolierung. Man tat uns nichts, man stellte uns nur in das vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts. Indem man uns jeden einzeln in ein vOElliges Vakuum sperrte, in ein Zimmer, das hermetisch von der AuSSenwelt abgeschlossen war, sollte, statt von auSSen durch PrUEgel und KAElte, jener Druck von innen erzeugt werden, der uns schlieSSlich die Lippen aufsprengte. Auf den ersten Blick sah das mir zugewiesene Zimmer durchaus nicht unbehaglich aus. Es hatte eine TUEr, ein Bett, einen Sessel, eine WaschschUEssel, ein vergittertes Fenster. Aber die TUEr blieb Tag und Nacht verschlossen, auf dem Tisch durfte kein Buch, keine Zeitung, kein Blatt Papier, kein Bleistift liegen, das Fenster starrte eine Feuermauer an; rings um mein Ich und selbst an meinem eigenen KOErper war das vollkommene Nichts konstruiert. Man hatte mir jeden Gegenstand abgenommen, die Uhr, damit ich nicht wisse um die Zeit, den Bleistift, daSS ich nicht etwa schreiben kOEnne, das Messer, damit ich mir nicht die Adern OEffnen kOEnne; selbst die kleinste BetAEubung wie eine Zigarette wurde mir versagt. Nie sah ich auSSer dem WAErter, der kein Wort sprechen und auf keine Frage antworten durfte, ein menschliches Gesicht, nie hOErte ich eine menschliche Stimme; Auge, Ohr, alle Sinne bekamen von morgens bis nachts und von nachts bis morgens nicht die geringste Nahrung, man blieb mit sich, mit seinem KOErper und den vier oder fUEnf stummen GegenstAEnden Tisch, Bett, Fenster, WaschschUEssel rettungslos allein; man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean dieses Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, daSS das Seil nach der AuSSenwelt abgerissen ist und er nie zurUEckgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe. Es gab nichts zu tun, nichts zu hOEren, nichts zu sehen, UEberall und ununterbrochen war um einen das Nichts, die vOEllige raumlose und zeitlose Leere. Man ging auf und ab, und mit einem gingen die Gedanken auf und ab, auf und ab, immer wieder. Aber selbst Gedanken, so substanzlos sie scheinen, brauchen einen StUEtzpunkt, sonst beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu kreisen; auch sie ertragen nicht das Nichts. Man wartete auf etwas, von morgens bis abends, und es geschah nichts. Man wartete wieder und wieder. Es geschah nichts. Man wartete, wartete, wartete, man dachte, man dachte, man dachte, bis einem die SchlAEfen schmerzten. Nichts geschah. Man blieb allein. Allein. Allein. Das dauerte vierzehn Tage, die ich auSSerhalb der Zeit, auSSerhalb der Welt lebte. WAEre damals ein Krieg ausgebrochen, ich hAEtte es nicht erfahren; meine Welt bestand doch nur aus Tisch, TUEr, Bett, WaschschUEssel, Sessel, Fenster und Wand, und immer starrte ich auf dieselbe Tapete an derselben Wand; jede Linie ihres gezackten Musters hat sich wie mit ehernem Stichel eingegraben bis in die innerste Falte meines Gehirns, so oft habe ich sie angestarrt. Dann endlich begannen die VerhOEre. Man wurde plOEtzlich abgerufen, ohne recht zu wissen, ob es Tag war oder Nacht. Man wurde gerufen und durch ein paar GAEnge gefUEhrt, man wuSSte nicht wohin; dann wartete man irgendwo und wuSSte nicht wo und stand plOEtzlich vor einem Tisch, um den ein paar uniformierte Leute saSSen. Auf dem Tisch lag ein StoSS Papier: die Akten, von denen man nicht wuSSte, was sie enthielten, und dann begannen die Fragen, die echten und die falschen, die klaren und die tUEckischen, die Deckfragen und Fangfragen, und wAEhrend man antwortete, blAEtterten fremde, bOEse Finger in den Papieren, von denen man nicht wuSSte, was sie enthielten, und fremde, bOEse Finger schrieben etwas in ein Protokoll, und man wuSSte nicht, was sie schrieben. Aber das FUErchterlichste bei diesen VerhOEren fUEr mich war, daSS ich nie erraten und errechnen konnte, was die Gestapoleute von den VorgAEngen in meiner Kanzlei tatsAEchlich wuSSten und was sie erst aus mir herausholen wollten. Wie ich Ihnen bereits sagte, hatte ich die eigentlich belastenden Papiere meinem Onkel in letzter Stunde durch die HaushAElterin geschickt. Aber hatte er sie erhalten? Hatte er sie nicht erhalten? Und wieviel hatte jener Kanzlist verraten? Wieviel hatten sie an Briefen aufgefangen, wieviel inzwischen in den deutschen KlOEstern, die wir vertraten, einem ungeschickten Geistlichen vielleicht schon abgepreSSt? Und sie fragten und fragten. Welche Papiere ich fUEr jenes Kloster gekauft, mit welchen Banken ich korrespondiert, ob ich einen Herrn Soundso kenne oder nicht, ob ich Briefe aus der Schweiz erhalten und aus Steenookerzeel? Und da ich nie errechnen konnte, wieviel sie schon ausgekundschaftet hatten, wurde jede Antwort zur ungeheuersten Verantwortung. Gab ich etwas zu, was ihnen nicht bekannt war, so lieferte ich vielleicht unnOEtig jemanden ans Messer. Leugnete ich zuviel ab, so schAEdigte ich mich selbst. Aber das VerhOEr war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das ZurUEckkommen nach dem VerhOEr in mein Nichts, in dasselbe Zimmer mit demselben Tisch, demselben Bett, derselben WaschschUEssel, derselben Tapete. Denn kaum allein mit mir, versuchte ich zu rekonstruieren, was ich am klUEgsten hAEtte antworten sollen und was ich das nAEchste Mal sagen mUESSte, um den Verdacht wieder abzulenken, den ich vielleicht mit einer unbedachten Bemerkung heraufbeschworen. Ich UEberlegte, ich durchdachte, ich durchforschte, ich UEberprUEfte meine eigene Aussage auf jedes Wort, das ich dem Untersuchungsrichter gesagt, ich rekapitulierte jede Frage, die sie gestellt, jede Antwort, die ich gegeben, ich versuchte zu erwAEgen, was sie davon protokolliert haben kOEnnten, und wuSSte doch, daSS ich das nie errechnen und erfahren kOEnnte. Aber diese Gedanken, einmal angekurbelt im leeren Raum, hOErten nicht auf, im Kopf zu rotieren, immer wieder von neuem, in immer anderen Kombinationen, und das ging hinein bis in den Schlaf –, jedesmal nach einer Vernehmung durch die Gestapo UEbernahmen ebenso unerbittlich meine eigenen Gedanken die Marter des Fragens und Forschens und QuAElens, und vielleicht noch grausamer sogar, denn jene Vernehmungen endeten doch immerhin nach einer Stunde, und diese nie, dank der tUEckischen Tortur dieser Einsamkeit. Und immer um mich nur der Tisch, der Schrank, das Bett, die Tapete, das Fenster, keine Ablenkung, kein Buch, keine Zeitung, kein fremdes Gesicht, kein Bleistift, um etwas zu notieren, kein ZUEndholz, um damit zu spielen, nichts, nichts, nichts. jetzt erst gewahrte ich, wie teuflisch sinnvoll, wie psychologisch mOErderisch erdacht dieses System des Hotelzimmers war. Im Konzentrationslager hAEtte man vielleicht Steine karren mUEssen, bis einem die HAEnde bluteten und die FUESSe in den Schuhen abfroren, man wAEre zusammengepackt gelegen mit zwei Dutzend Menschen in Stank und KAElte. Aber man hAEtte Gesichter gesehen, man hAEtte ein Feld, einen Karren, einen Baum, einen Stern, irgend, irgend etwas anstarren kOEnnen, indes hier immer dasselbe um einen stand, immer dasselbe, das entsetzliche Dasselbe. Hier war nichts, was mich ablenken konnte von meinen Gedanken, von meinen Wahnvorstellungen, von meinem krankhaften Rekapitulieren. Und gerade das beabsichtigten sie ich sollte doch wUErgen und wUErgen an meinen Gedanken, bis sie mich erstickten und ich nicht anders konnte, als sie schlieSSlich ausspeien, als auszusagen, alles auszusagen, was sie wollten, endlich das Material und die Menschen auszuliefern. AllmAEhlich spUErte ich, wie meine Nerven unter diesem grAESSlichen Druck des Nichts sich zu lockern begannen, und ich spannte, der Gefahr bewuSSt, bis zum ZerreiSSen meine Nerven, irgendeine Ablenkung zu finden oder zu erfinden. Um mich zu beschAEftigen, versuchte ich alles, was ich jemals auswendig gelernt, zu rezitieren und zu rekonstruieren, die Volkshymne und die Spielreime der Kinderzeit, den Homer des Gymnasiums, die Paragraphen des BUErgerlichen Gesetzbuchs. Dann versuchte ich zu rechnen, beliebige Zahlen zu addieren, zu dividieren, aber mein GedAEchtnis hatte im Leeren keine festhaltende Kraft. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Immer fuhr und flackerte derselbe Gedanke dazwischen: Was wissen sie? Was habe ich gestern gesagt, was muSS ich das nAEchste Mal sagen? Dieser eigentlich unbeschreibbare Zustand dauerte vier Monate. Nun – vier Monate, das schreibt sich leicht hin: just ein Dutzend Buchstaben! Das spricht sich leicht aus: vier Monate vier Silben. In einer Viertelsekunde hat die Lippe rasch so einen Laut artikuliert: vier Monate! Aber niemand kann schildern, kann messen, kann veranschaulichen, nicht einem andern, nicht sich selbst, wie lange eine Zeit im Raumlosen, im Zeitlosen wAEhrt, und keinem kann man erklAEren, wie es einen zerfriSSt und zerstOErt, dieses Nichts und Nichts und Nichts um einen, dies immer nur Tisch und Bett und WaschschUEssel und Tapete, und immer das Schweigen, immer derselbe WAErter, der, ohne einen anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer dieselben Gedanken, die im Nichts um das eine kreisen, bis man irre wird. An kleinen Zeichen wurde ich beunruhigt gewahr, daSS mein Gehirn in Unordnung geriet. Im Anfang war ich bei den Vernehmungen noch innerlich klar gewesen, ich hatte ruhig und UEberlegt ausgesagt; jenes Doppeldenken, was ich sagen sollte und was nicht, hatte noch funktioniert. jetzt konnte ich schon die einfachsten SAEtze nur mehr stammelnd artikulieren, denn wAEhrend ich aussagte, starrte ich hypnotisiert auf die Feder, die protokollierend UEber das Papier lief, als wollte ich meinen eigenen Worten nachlaufen. Ich spUErte, meine Kraft lieSS nach, ich spUErte, immer nAEher rUEckte der Augenblick, wo ich, um mich zu retten, alles sagen wUErde, was ich wuSSte, und vielleicht noch mehr, in dem ich, um dem WUErgen dieses Nichts zu entkommen, zwOElf Menschen und ihre Geheimnisse verraten wUErde, ohne mir selbst damit mehr zu schaffen als einen Atemzug Rast. An einem Abend war es wirklich schon so weit: als der WAErter zufAEllig in diesem Augenblick des Erstickens mir das Essen brachte, schrie ich ihm plOEtzlich nach: ›FUEhren Sie mich zur Vernehmung! Ich will alles sagen! Ich will alles aussagen! Ich will sagen, wo die Papiere sind, wo das Geld liegt! Alles werde ich sagen, alles!‹ GlUEcklicherweise hOErte er mich nicht mehr. Vielleicht wollte er mich auch nicht hOEren. In dieser AEuSSersten Not ereignete sich nun etwas Unvorhergesehenes, was Rettung bot, Rettung zum mindesten fUEr eine gewisse Zeit. Es war Ende Juli, ein dunkler, verhangener, regnerischer Tag: ich erinnere mich an diese Einzelheit deshalb ganz genau, weil der Regen gegen die Scheiben im Gang trommelte, durch den ich zur Vernehmung gefUEhrt wurde. Im Vorzimmer des Untersuchungsrichters muSSte ich warten. Immer muSSte man bei jeder VorfUEhrung warten: auch dieses Wartenlassen gehOErte zur Technik. Erst riSS man einem die Nerven auf durch den Anruf, durch das plOEtzliche Abholen aus der Zelle mitten in der Nacht, und dann, wenn man schon eingestellt war auf die Vernehmung, schon Verstand und Willen gespannt hatte zum Widerstand, lieSSen sie einen warten, sinnlos-sinnvoll warten, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden vor der Vernehmung, um den KOErper mUEde, um die Seele mUErbe zu machen. Und man lieSS mich besonders lange warten an diesem Donnerstag, dem ZWEISIEBEN. Juli, zwei geschlagene Stunden im Vorzimmer stehend warten; ich erinnere mich auch an dieses Datum aus einem bestimmten Grunde so genau, denn in diesem Vorzimmer, wo ich selbstverstAEndlich, ohne mich niedersetzen zu dUErfen zwei Stunden mir die Beine in den Leib stehen muSSte, hing ein Kalender, und ich vermag Ihnen nicht zu erklAEren, wie in meinem Hunger nach Gedrucktem, nach Geschriebenem ich diese eine Zahl, diese wenigen Worte ›ZWEISIEBEN. Juli‹ an der Wand anstarrte und anstarrte; ich fraSS sie gleichsam in mein Gehirn hinein. Und dann wartete ich wieder und wartete und starrte auf die TUEr, wann sie sich endlich OEffnen wUErde, und UEberlegte zugleich, was die Inquisitoren mich diesmal fragen kOEnnten, und wuSSte doch, daSS sie mich etwas ganz anderes fragen wUErden, als worauf ich mich vorbereitete. Aber trotz alledem war die Qual dieses Wartens und Stehens zugleich eine Wohltat, eine Lust, weil dieser Raum immerhin ein anderes Zimmer war als das meine, etwas grOESSer und mit zwei Fenstern statt einem, und ohne das Bett und ohne die WaschschUEssel und ohne den bestimmten RiSS am Fensterbrett, den ich millionenmal betrachtet. Die TUEr war anders gestrichen, ein anderer Sessel stand an der Wand und links ein Registerschrank mit Akten sowie eine Garderobe mit AufhAEngern, an denen drei oder vier nasse MilitAErmAEntel, die MAEntel meiner Folterknechte, hingen. Ich hatte also etwas Neues, etwas anderes zu betrachten, endlich einmal etwas anderes mit meinen ausgehungerten Augen, und sie krallten sich gierig an jede Einzelheit. Ich beobachtete an diesen MAEnteln jede Falte, ich bemerkte zum Beispiel einen Tropfen, der von einem der nassen Kragen niederhing, und so lAEcherlich es fUEr Sie klingen mag, ich wartete mit einer unsinnigen Erregung, ob dieser Tropfen endlich abrinnen wollte, die Falte entlang, oder ob er noch gegen die Schwerkraft sich wehren und lAEnger haften bleiben wUErde – ja, ich starrte und starrte minutenlang atemlos auf diesen Tropfen, als hinge mein Leben daran. Dann, als er endlich niedergerollt war, zAEhlte ich wieder die KnOEpfe auf den MAEnteln nach, acht an dem einen Rock, acht an dem andern, zehn an dem dritten, dann wieder verglich ich die AufschlAEge; alle diese lAEcherlichen, unwichtigen Kleinigkeiten betasteten, umspielten, umgriffen meine verhungerten Augen mit einer Gier, die ich nicht zu beschreiben vermag. Und plOEtzlich blieb mein Blick starr an etwas haften. Ich hatte entdeckt, daSS an einem der MAEntel die Seitentasche etwas aufgebauscht war. Ich trat nAEher heran und glaubte an der rechteckigen Form der Ausbuchtung zu erkennen, was diese etwas geschwellte Tasche in sich barg: ein Buch! Mir begannen die Knie zu zittern: ein BUCH! Vier Monate lang hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die bloSSe Vorstellung eines Buches, in dem man aneinandergereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten und BlAEtter, eines Buches, aus dem man andere, neue, fremde, ablenkende Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen kOEnnte, hatte etwas Berauschendes und gleichzeitig BetAEubendes. Hypnotisiert starrten meine Augen auf die kleine WOElbung, die jenes Buch innerhalb der Tasche formte, sie glUEhten diese eine unscheinbare Stelle an, als ob sie ein Loch in den Mantel brennen wollten. SchlieSSlich konnte ich meine Gier nicht verhalten; unwillkUErlich schob ich mich nAEher heran. Schon der Gedanke, ein Buch durch den Stoff mit den HAEnden wenigstens antasten zu kOEnnen, machte mir die Nerven in den Fingern bis zu den NAEgeln glUEhen. Fast ohne es zu wissen, drUEckte ich mich immer nAEher heran. GlUEcklicherweise achtete der WAErter nicht auf mein gewiSS sonderbares Gehaben; vielleicht auch schien es ihm nur natUErlich, daSS ein Mensch nach zwei Stunden aufrechten Stehens sich ein wenig an die Wand lehnen wollte. SchlieSSlich stand ich schon ganz nahe bei dem Mantel, und mit Absicht hatte ich die HAEnde hinter mich auf den RUEcken gelegt, damit sie unauffAEllig den Mantel berUEhren kOEnnten. Ich tastete den Stoff an und fUEhlte tatsAEchlich durch den Stoff etwas Rechteckiges, etwas, das biegsam war und leise knisterte – ein Buch! Ein Buch! Und wie ein SchuSS durchzuckte mich der Gedanke: stiehl dir das Buch! Vielleicht gelingt es, und du kannst dir's in der Zelle verstecken und dann lesen, lesen, lesen, endlich wieder einmal lesen! Der Gedanke, kaum in mich gedrungen, wirkte wie ein starkes Gift; mit einemmal begannen mir die Ohren zu brausen und das Herz zu hAEmmern, meine HAEnde wurden eiskalt und gehorchten nicht mehr. Aber nach der ersten BetAEubung drAEngte ich mich leise und listig noch nAEher an den Mantel, ich drUEckte, immer dabei den WAEchter fixierend, mit den hinter dem RUEcken versteckten HAEnden das Buch von unten aus der Tasche hOEher und hOEher. Und dann: ein Griff, ein leichter, vorsichtiger Zug, und plOEtzlich hatte ich das kleine, nicht sehr umfangreiche Buch in der Hand. jetzt erst erschrak ich vor meiner Tat. Aber ich konnte nicht mehr zurUEck. jedoch wohin damit? Ich schob den Band hinter meinem RUEcken unter die Hose an die Stelle, wo sie der GUErtel hielt, und von dort allmAEhlich hinUEber an die HUEfte, damit ich es beim Gehen mit der Hand militAErisch an der Hosennaht festhalten kOEnnte. Nun galt es die erste Probe. Ich trat von der Garderobe weg, einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte. Es ging. Es war mOEglich, das Buch im Gehen festzuhalten, wenn ich nur die Hand fest an den GUErtel preSSte. Dann kam die Vernehmung. Sie erforderte meinerseits mehr Anstrengung als je, denn eigentlich konzentrierte ich meine ganze Kraft, wAEhrend ich antwortete, nicht auf meine Aussage, sondern vor allem darauf, das Buch unauffAEllig festzuhalten. GlUEcklicherweise fiel das VerhOEr diesmal kurz aus, und ich brachte das Buch heil in mein Zimmer – ich will Sie nicht aufhalten mit all den Einzelheiten, denn einmal rutschte es von der Hose gefAEhrlich ab mitten im Gang, und ich muSSte einen schweren Hustenanfall simulieren, um mich niederzubUEcken und es wieder heil unter den GUErtel zurUEckzuschieben. Aber welch eine Sekunde dafUEr, als ich damit in meine HOElle zurUEcktrat, endlich allein und doch nicht mehr allein! Nun vermuten Sie wahrscheinlich, ich hAEtte sofort das Buch gepackt, betrachtet, gelesen. Keineswegs! Erst wollte ich die Vorlust auskosten, daSS ich ein Buch bei mir hatte, die kUEnstlich verzOEgernde und meine Nerven wunderbar erregende Lust, mir auszutrAEumen, welche Art Buch dies gestohlene am liebsten sein sollte: sehr eng gedruckt vor allem, viele, viele Lettern enthaltend, viele, viele dUEnne BlAEtter, damit ich lAEnger daran zu lesen hAEtte. Und dann wUEnschte ich mir, es sollte ein Werk sein, das mich geistig anstrengte, nichts Flaches, nichts Leichtes, sondern etwas, das man lernen, auswendig lernen konnte, Gedichte, und am besten – welcher verwegene Traum! – Goethe oder Homer. Aber schlieSSlich konnte ich meine Gier, meine Neugier nicht lAEnger verhalten. Hingestreckt auf das Bett, so daSS der WAErter, wenn er plOEtzlich die TUEr aufmachen sollte, mich nicht ertappen kOEnnte, zog ich zitternd unter dem GUErtel den Band heraus. Der erste Blick war eine EnttAEuschung und sogar eine Art erbitterter AErger: dieses mit so ungeheurer Gefahr erbeutete, mit so glUEhender Erwartung aufgesparte Buch war nichts anderes als ein Schachrepetitorium, eine Sammlung von hundertfUEnfzig Meisterpartien. WAEre ich nicht verriegelt, verschlossen gewesen, ich hAEtte im ersten Zorn das Buch durch ein offenes Fenster geschleudert, denn was sollte, was konnte ich mit diesem Nonsens beginnen? Ich hatte als Knabe im Gymnasium wie die meisten anderen mich ab und zu aus Langeweile vor einem Schachbrett versucht. Aber was sollte mir dieses theoretische Zeug? Schach kann man doch nicht spielen ohne einen Partner und schon gar nicht ohne Steine, ohne Brett. Verdrossen blAEtterte ich die Seiten durch, um vielleicht dennoch etwas Lesbares zu entdecken, eine Einleitung, eine Anleitung; aber ich fand nichts als die nackten quadratischen Schemata der einzelnen Meisterpartien und darunter mir zunAEchst unverstAEndliche Zeichen, aZWEI – aDREI, S fEINS – gDREI und so weiter. Alles das schien mir eine Art Algebra, zu der ich keinen SchlUEssel fand. Erst allmAEhlich entrAEtselte ich, daSS die Buchstaben a, b, c fUEr die LAEngsreihen, die Zahlen EINS bis ACHT fUEr die Querreihen eingesetzt waren und den Jeweiligen Stand jeder einzelnen Figur bestimmten; damit bekamen die rein graphischen Schemata immerhin eine Sprache. Vielleicht, UEberlegte ich, kOEnnte ich mir in meiner Zelle eine Art Schachbrett konstruieren und dann versuchen, diese Partien nachzuspielen; wie ein himmlischer Wink erschien es mir, daSS mein Bettuch sich zufAEllig als grob kariert erwies. Richtig zusammengefaltet, lieSS es sich am Ende so legen, um vierundsechzig Felder zusammenzubekommen. Ich versteckte also zunAEchst das Buch unter der Matratze und riSS nur die erste Seite heraus. Dann begann ich aus kleinen KrUEmeln, die ich mir von meinem Brot absparte, in selbstverstAEndlich lAEcherlich unvollkommener Weise die Figuren des Schachs, KOEnig, KOEnigin und so weiter, zurechtzumodeln; nach endlosem BemUEhen konnte ich es schlieSSlich unternehmen, auf dem karierten Bettuch die im Schachbuch abgebildete Position zu rekonstruieren. Als ich aber versuchte, die ganze Partie nachzuspielen, miSSlang es zunAEchst vollkommen mit meinen lAEcherlichen KrUEmelfiguren, von denen Ich zur Unterscheidung die eine HAElfte mit Staub dunkler gefAErbt hatte. Ich verwirrte mich in den ersten Tagen unablAEssig; fUEnfmal, zehnmal, zwanzigmal muSSte ich diese eine Partie immer wieder von Anfang beginnen. Aber wer auf Erden verfUEgte UEber so viel ungenUEtzte und nutzlose Zeit wie ich, der Sklave des Nichts, wem stand so viel unermeSSliche Gier und Geduld zu Gebot? Nach sechs Tagen spielte ich schon die Partie tadellos zu Ende, nach weiteren acht Tagen benOEtigte ich nicht einmal die KrUEmel auf dem Bettuch mehr, um mir die Position aus dem Schachbuch zu vergegenstAEndlichen, und nach weiteren acht Tagen wurde auch das karierte Bettuch entbehrlich; automatisch verwandelten sich die anfangs abstrakten Zeichen des Buches aEINS, aZWEI, cSIEBEN, cACHT hinter meiner Stirn zu visuellen, zu plastischen Positionen. Die Umstellung war restlos gelungen: ich hatte das Schachbrett mit seinen Figuren nach innen projiziert und UEberblickte auch dank der bloSSen Formeln die jeweilige Position, so wie einem geUEbten Musiker der bloSSe Anblick der Partitur schon genUEgt, um alle Stimmen und ihren Zusammenklang zu hOEren. Nach weiteren vierzehn Tagen war ich mUEhelos imstande, jede Partie aus dem Buch auswendig – oder, wie der Fachausdruck lautet: blind – nachzuspielen; jetzt erst begann ich zu verstehen, welche unermeSSliche Wohltat mein frecher Diebstahl mir eroberte. Denn ich hatte mit einem Male eine TAEtigkeit – eine sinnlose, eine zwecklose, wenn Sie wollen, aber doch eine, die das Nichts um mich zunichte machte, ich besaSS mit den hundertfUEnfzig Turnierpartien eine wunderbare Waffe gegen die erdrUEckende Monotonie des Raumes und der Zeit. Um mir den Reiz der neuen BeschAEftigung ungebrochen zu bewahren, teilte ich mir von nun ab jeden Tag genau ein: zwei Partien morgens, zwei Partien nachmittags, abends dann noch eine rasche Wiederholung. Damit war mein Tag, der sich sonst wie Gallert formlos dehnte, ausgefUEllt, ich war beschAEftigt, ohne mich zu ermUEden, denn das Schachspiel besitzt den wunderbaren Vorzug, durch Bannung der geistigen Energien auf ein engbegrenztes Feld selbst bei anstrengendster Denkleistung das Gehirn nicht zu erschlaffen, sondern eher seine AgilitAEt und Spannkraft zu schAErfen. AllmAEhlich begann bei dem zuerst bloSS mechanischen Nachspielen der Meisterpartien ein kUEnstlerisches, ein lusthaftes VerstAEndnis in mir zu erwachen. Ich lernte die Feinheiten, die TUEcken und SchAErfen in Angriff und Verteidigung verstehen, ich erfaSSte die Technik des Vorausdenkens, Kombinierens, Ripostierens und erkannte bald die persOEnliche Note jedes einzelnen Schachmeisters in seiner individuellen FUEhrung so unfehlbar, wie man Verse eines Dichters schon aus wenigen Zellen feststellt; was als bloSS zeitfUEllende BeschAEftigung begonnen, wurde GenuSS, und die Gestalten der groSSen Schachstrategen, wie Aljechin, Lasker, Bogoljubow, Tartakower, traten als geliebte Kameraden in meine Einsamkeit. Unendliche Abwechslung beseelte tAEglich die stumme Zelle, und gerade die RegelmAESSigkeit meiner Exerzitien gab meiner DenkfAEhigkeit die schon erschUEtterte Sicherheit zurUEck: ich empfand mein Gehirn aufgefrischt und durch die stAEndige Denkdisziplin sogar noch gleichsam neu geschliffen. DaSS ich klarer und konziser dachte, erwies sich vor allem bei den Vernehmungen; unbewuSSt hatte ich mich auf dem Schachbrett in der Verteidigung gegen falsche Drohungen und verdeckte WinkelzUEge vervollkommnet; von diesem Zeitpunkt an gab ich mir bei den Vernehmungen keine BlOESSe mehr, und mir dUEnkte sogar, daSS die Gestapoleute mich allmAEhlich mit einem gewissen Respekt zu betrachten begannen. Vielleicht fragten sie sich im stillen, da sie alle anderen zusammenbrechen sahen, aus welchen geheimen Quellen ich allein die Kraft solch unerschUEtterlichen Widerstands schOEpfte. Diese meine GlUEckszeit, da ich die hundertfUEnfzig Partien jenes Buches Tag fUEr Tag systematisch nachspielte, dauerte etwa zweieinhalb bis drei Monate. Dann geriet ich unvermuteterweise an einen toten Punkt. PlOEtzlich stand ich neuerdings vor dem Nichts. Denn sobald ich jede einzelne Partie zwanzig- oder dreiSSigmal durchgespielt hatte, verlor sie den Reiz der Neuheit, der UEberraschung, ihre vordem so aufregende, so anregende Kraft war erschOEpft. Welchen Sinn hatte es, nochmals und nochmals Partien zu wiederholen, die ich Zug um Zug lAEngst auswendig kannte? Kaum ich die erste ErOEffnung getan, klOEppelte sich ihr Ablauf gleichsam automatisch in mir ab, es gab keine UEberraschung mehr, keine Spannungen, keine Probleme. Um mich zu beschAEftigen, um mir die schon unentbehrlich gewordene Anstrengung und Ablenkung zu schaffen, hAEtte ich eigentlich ein anderes Buch mit anderen Partien gebraucht. Da dies aber vollkommen unmOEglich war, gab es nur einen Weg auf dieser sonderbaren Irrbahn: ich muSSte mir statt der alten Partien neue erfinden. Ich muSSte versuchen, mit mir selbst oder vielmehr gegen mich selbst zu spielen. Ich weiSS nun nicht, bis zu welchem Grade Sie UEber die geistige Situation bei diesem Spiel der Spiele nachgedacht haben. Aber schon die flUEchtigste UEberlegung dUErfte ausreichen, um klarzumachen, daSS beim Schach als einem reinen, vom Zufall abgelOEsten Denkspiel es logischerweise eine AbsurditAEt bedeutet, gegen sich selbst spielen zu wollen. Das Attraktive des Schachs beruht doch im Grunde einzig darin, daSS sich seine Strategie in zwei verschiedenen Gehirnen verschieden entwickelt, daSS in diesem geistigen Krieg Schwarz die jeweiligen ManOEver von WeiSS nicht kennt und stAEndig zu erraten und zu durchkreuzen sucht, wAEhrend seinerseits wiederum WeiSS die geheimen Absichten von Schwarz zu UEberholen und parieren strebt. Bildeten nun Schwarz und WeiSS ein und dieselbe Person, so ergAEbe sich der widersinnige Zustand, daSS ein und dasselbe Gehirn gleichzeitig etwas wissen und doch nicht wissen sollte, daSS es als Partner WeiSS funktionierend, auf Kommando vOEllig vergessen kOEnnte, was es eine Minute vorher als Partner Schwarz gewollt und beabsichtigt. Ein solches Doppeldenken setzt eigentlich eine vollkommene Spaltung des BewuSStseins voraus, ein beliebiges Auf- und AbblendenkOEnnen der Gehirnfunktion wie bei einem mechanischen Apparat; gegen sich selbst spielen zu wollen, bedeutet also im Schach eine solche Paradoxie, wie UEber seinen eigenen Schatten zu springen. Nun, um mich kurz zu fassen, diese UnmOEglichkeit, diese AbsurditAEt habe ich in meiner Verzweiflung monatelang versucht. Aber ich hatte keine Wahl als diesen Widersinn, um nicht dem puren Irrsinn oder einem vOElligen geistigen Marasmus zu verfallen. Ich war durch meine fUErchterliche Situation gezwungen, diese Spaltung in ein Ich Schwarz und ein Ich WeiSS zumindest zu versuchen, um nicht erdrUEckt zu werden von dem grauenhaften Nichts um mich.« Dr. B. lehnte sich zurUEck in den Liegestuhl und schloSS fUEr eine Minute die Augen. Es war, als ob er eine verstOErende Erinnerung gewaltsam unterdrUEcken wollte. Wieder lief das merkwUErdige Zucken, das er nicht zu beherrschen wuSSte, um den linken Mundwinkel. Dann richtete er sich in seinem Lehnstuhl etwas hOEher auf. »So – bis zu diesem Punkte hoffe ich, Ihnen alles ziemlich verstAEndlich erklAErt zu haben. Aber ich bin leider keineswegs gewiSS, ob ich das Weitere Ihnen noch AEhnlich deutlich veranschaulichen kann. Denn diese neue BeschAEftigung erforderte eine so unbedingte Anspannung des Gehirns, daSS sie jede gleichzeitige Selbstkontrolle unmOEglich machte. Ich deutete Ihnen schon an, daSS meiner Meinung nach es an sich schon Nonsens bedeutet, Schach gegen sich selber spielen zu wollen; aber selbst diese AbsurditAEt hAEtte immerhin noch eine minimale Chance mit einem realen Schachbrett vor sich, weil das Schachbrett durch seine RealitAEt immerhin noch eine gewisse Distanz, eine materielle Exterritorialisierung erlaubt. Vor einem wirklichen Schachbrett mit wirklichen Figuren kann man UEberlegungspausen einschalten, man kann sich rein kOErperlich bald auf die eine Seite, bald auf die andere Seite des Tisches stellen und damit die Situation bald vom Standpunkt Schwarz, bald vom Standpunkt WeiSS ins Auge fassen. Aber genOEtigt, wie ich es war, diese KAEmpfe gegen mich selbst oder, wenn Sie wollen, mit mir selbst in einen imaginAEren Raum zu projizieren, war ich gezwungen, in meinem BewuSStsein die jeweilige Stellung auf den vierundsechzig Feldern deutlich festzuhalten und auSSerdem nicht nur die momentane Figuration, sondern auch schon die mOEglichen weiteren ZUEge von beiden Partnern mir auszukalkulieren, und zwar – ich weiSS, wie absurd dies alles klingt – mir doppelt und dreifach zu imaginieren, nein, sechsfach, achtfach, zwOElffach, fUEr jedes meiner Ich, fUEr Schwarz und WeiSS immer schon vier und fUEnf ZUEge voraus. Ich muSSte – verzeihen Sie, daSS ich Ihnen zumute, diesen Irrsinn durchzudenken bei diesem Spiel im abstrakten Raum der Phantasie als Spieler WeiSS vier oder fUEnf ZUEge vorausberechnen und ebenso als Spieler Schwarz, also alle sich in der Entwicklung ergebenden Situationen gewissermaSSen mit zwei Gehirnen vorauskombinieren, mit dem Gehirn WeiSS und dem Gehirn Schwarz. Aber selbst diese Selbstzerteilung war noch nicht das GefAEhrlichste an meinem abstrusen Experiment, sondern daSS ich durch das selbstAEndige Ersinnen von Partien mit einemmal den Boden unter den FUESSen verlor und ins Bodenlose geriet. Das bloSSe Nachspielen der Meisterpartien, wie ich es in den vorhergehenden Wochen geUEbt, war schlieSSlich nichts als eine reproduktive Leistung gewesen, ein reines Rekapitulieren einer gegebenen Materie und als solches nicht anstrengender, als wenn ich Gedichte auswendig gelernt hAEtte oder Gesetzesparagraphen memoriert, es war eine begrenzte, eine disziplinierte TAEtigkeit und darum ein ausgezeichnetes Exercitium mentale. Meine zwei Partien, die ich morgens, die zwei, die ich nachmittags probte, stellten ein bestimmtes Pensum dar, das ich ohne jeden Einsatz von Erregung erledigte; sie ersetzten mir eine normale BeschAEftigung, und UEberdies hatte ich, wenn ich mich im Ablauf einer Partie irrte oder nicht weiter wuSSte, an dem Buche noch immer einen Halt. Nur darum war diese TAEtigkeit fUEr meine erschUEtterten Nerven eine so heilsame und eher beruhigende gewesen, weil ein Nachspielen fremder Partien nicht mich selber ins Spiel brachte; ob Schwarz oder WeiSS siegte, blieb mir gleichgUEltig, es waren doch Aljechin oder Bogoljubow, die um die Palme des Champions kAEmpften, und meine eigene Person, mein Verstand, meine Seele genossen einzig als Zuschauer, als Kenner die Peripetien und SchOEnheiten jener Partien. Von dem Augenblick an, da ich aber gegen mich zu spielen versuchte, begann ich mich unbewuSSt herauszufordern. jedes meiner beiden Ich, mein Ich Schwarz und mein Ich WeiSS, hatten zu wetteifern gegeneinander und gerieten jedes fUEr sein Tell in einen Ehrgeiz, in eine Ungeduld, zu siegen, zu gewinnen; ich fieberte als Ich Schwarz nach jedem Zuge, was das Ich WeiSS nun tun wUErde. jedes meiner beiden Ich triumphierte, wenn das andere einen Fehler machte, und erbitterte sich gleichzeitig UEber sein eigenes Ungeschick. Das alles scheint sinnlos, und in der Tat wAEre ja eine solche kUEnstliche Schizophrenie, eine solche BewuSStseinsspaltung mit ihrem EinschuSS an gefAEhrlicher Erregtheit bei einem normalen Menschen in normalem Zustand undenkbar. Aber vergessen Sie nicht, daSS ich aus aller NormalitAEt gewaltsam gerissen war, ein HAEftling, unschuldig eingesperrt, seit Monaten raffiniert mit Einsamkeit gemartert, ein Mensch, der seine aufgehAEufte Wut lAEngst gegen irgend etwas entladen wollte. Und da ich nichts anderes hatte als dies unsinnige Spiel gegen mich selbst, fuhr meine Wut, meine Rachelust fanatisch in dieses Spiel hinein. Etwas in mir wollte recht behalten, und ich hatte doch nur dieses andere Ich in mir, das ich bekAEmpfen konnte; so steigerte ich mich wAEhrend des Spiels in eine fast manische Erregung. Im Anfang hatte ich noch ruhig und UEberlegt gedacht, ich hatte Pausen eingeschaltet zwischen einer und der andern Partie, um mich von der Anstrengung zu erholen; aber allmAEhlich erlaubten meine gereizten Nerven mir kein Warten mehr. Kaum hatte mein Ich WeiSS einen Zug getan, stieSS schon mein Ich Schwarz fiebrig vor; kaum war eine Partie beendigt, so forderte ich mich schon zur nAEchsten heraus, denn jedesmal war doch eines der beiden Schach-Ich von dem andern besiegt und verlangte Revanche. Nie werde ich auch nur annAEhernd sagen kOEnnen, wie viele Partien ich infolge dieser irrwitzigen UnersAEttlichkeit wAEhrend dieser letzten Monate in meiner Zelle gegen mich selbst gespielt – vielleicht tausend, vielleicht mehr. Es war eine Besessenheit, deren ich mich nicht erwehren konnte; von frUEh bis nachts dachte ich an nichts als an LAEufer und Bauern und Turm und KOEnig und a und b und c und Matt und Rochade, mit meinem ganzen Sein und FUEhlen stieSS es mich in das karierte Quadrat. Aus der Spielfreude war eine Spiellust geworden, aus der Spiellust ein Spielzwang, eine Manie, eine frenetische Wut, die nicht nur meine wachen Stunden, sondern allmAEhlich auch meinen Schlaf durchdrang. Ich konnte nur Schach denken, nur in Schachbewegungen, Schachproblemen; manchmal wachte ich mit feuchter Stirn auf und erkannte, daSS ich sogar im Schlaf unbewuSSt weitergespielt haben muSSte, und wenn ich von Menschen trAEumte, so geschah es ausschlieSSlich in den Bewegungen des LAEufers, des Turms, im Vor und ZurUEck des ROEsselsprungs. Selbst wenn ich zum VerhOEr gerufen wurde, konnte ich nicht mehr konzis an meine Verantwortung denken; ich habe die Empfindung, daSS bei den letzten Vernehmungen ich mich ziemlich konfus ausgedrUEckt haben muSS, denn die VerhOErenden blickten sich manchmal befremdet an. Aber in Wirklichkeit wartete ich, wAEhrend sie fragten und berieten, in meiner unseligen Gier doch nur darauf, wieder zurUEckgefUEhrt zu werden in meine Zelle, um mein Spiel, mein irres Spiel, fortzusetzen, eine neue Partie und noch eine und noch eine. jede Unterbrechung wurde mir zur StOErung; selbst die Viertelstunde, da der WAErter die GefAEngniszelle aufrAEumte, die zwei Minuten, da er mir das Essen brachte, quAElten meine fiebrige Ungeduld; manchmal stand abends der Napf mit der Mahlzeit noch unberUEhrt, ich hatte UEber dem Spiel vergessen zu essen. Das einzige, was ich kOErperlich empfand, war ein fUErchterlicher Durst; es muSS wohl schon das Fieber dieses stAEndigen Denkens und Spielens gewesen sein; ich trank die Flasche leer in zwei ZUEgen und quAElte den WAErter um mehr und fUEhlte dennoch im nAEchsten Augenblick die Zunge schon wieder trocken im Munde. SchlieSSlich steigerte sich meine Erregung wAEhrend des Spielens und ich tat nichts anderes mehr von morgens bis nachts – zu solchem Grade, daSS ich nicht einen Augenblick mehr stillzusitzen vermochte; ununterbrochen ging ich, wAEhrend ich die Partien UEberlegte, auf und ab, immer schneller und schneller und schneller auf und ab, auf und ab, und immer hitziger, je mehr sich die Entscheidung der Partie nAEherte; die Gier, zu gewinnen, zu siegen, mich selbst zu besiegen, wurde allmAEhlich zu einer Art Wut, ich zitterte vor Ungeduld, denn immer war dem einen Schach-Ich in mir das andere zu langsam. Das eine trieb das andere an; so lAEcherlich es Ihnen vielleicht scheint, ich begann mich zu beschimpfen – ›schneller, schneller!‹ oder ›vorwAErts, vorwAErts!‹ –, wenn das eine Ich in mir mit dem andern nicht rasch genug ripostierte. SelbstverstAEndlich bin ich mir heute ganz im klaren, daSS dieser mein Zustand schon eine durchaus pathologische Form geistiger UEberreizung war, fUEr die ich eben keinen andern Namen finde als den bisher medizinisch unbekannten: eine Schachvergiftung. SchlieSSlich begann diese monomanische Besessenheit nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen KOErper zu attackieren. Ich magerte ab, ich schlief unruhig und verstOErt, ich brauchte beim Erwachen jedesmal eine besondere Anstrengung, die bleiernen Augenlider aufzuzwingen; manchmal fUEhlte ich mich derart schwach, daSS, wenn ich ein Trinkglas anfaSSte, ich es nur mit MUEhe bis zu den Lippen brachte, so zitterten mir die HAEnde; aber kaum das Spiel begann, UEberkam mich eine wilde Kraft: ich lief auf und ab mit geballten FAEusten, und wie durch einen roten Nebel hOErte ich manchmal meine eigene Stimme, wie sie heiser und bOEse ›Schach‹ oder ›Matt!‹ sich selber zuschrie. Wie dieser grauenhafte, dieser unbeschreibbare Zustand zur Krise kam, vermag ich selbst nicht zu berichten. Alles, was ich darUEber weiSS, ist, daSS ich eines Morgens aufwachte, und es war ein anderes Erwachen als sonst. Mein KOErper war gleichsam abgelOEst von mir, ich ruhte weich und wohlig. Eine dichte, gute MUEdigkeit, wie ich sie seit Monaten nicht gekannt, lag auf meinen Lidern, lag so warm und wohltAEtig auf ihnen, daSS ich mich zuerst gar nicht entschlieSSen konnte, die Augen aufzutun. Minuten lag ich schon wach und genoSS noch diese schwere Dumpfheit, dies laue Liegen mit wollUEstig betAEubten Sinnen. Auf einmal war mir, als ob ich hinter mir Stimmen hOErte, lebendige menschliche Stimmen, die Worte sprachen, und Sie kOEnnen sich mein EntzUEcken nicht ausdenken, denn ich hatte doch seit Monaten, seit bald einem Jahr keine anderen Worte gehOErt als die harten, scharfen und bOEsen von der Richterbank. ›Du trAEumst, sagte ich mir. ›Du trAEumst! Tu keinesfalls die Augen auf! LaSS ihn noch dauern, diesen Traum, sonst siehst du wieder die verfluchte Zelle um dich, den Stuhl und den Waschtisch und den Tisch und die Tapete mit dem ewig gleichen Muster. Du trAEumst – trAEume weiter!‹ Aber die Neugier behielt die Oberhand. Ich schlug langsam und vorsichtig die Lider auf. Und Wunder: es war ein anderes Zimmer, in dem ich mich befand, ein Zimmer, breiter, gerAEumiger als meine Hotelzelle. Ein ungegittertes Fenster lieSS freies Licht herein und einen Blick auf BAEume, grUEne, im Wind wogende BAEume statt meiner starren Feuermauer, weiSS und glatt glAEnzten die WAEnde, weiSS und hoch hob sich UEber mir die Decke – wahrhaftig, ich lag in einem neuen, einem fremden Bett, und wirklich, es war kein Traum, hinter mir flUEsterten leise menschliche Stimmen. UnwillkUErlich muSS ich mich in meiner UEberraschung heftig geregt haben, denn schon hOErte ich hinter mir einen nahenden Schritt. Eine Frau kam weichen Gelenks heran, eine Frau mit weiSSer Haube UEber dem Haar, eine Pflegerin, eine Schwester. Ein Schauer des EntzUEckens fiel UEber mich: ich hatte seit einem Jahr keine Frau gesehen. Ich starrte die holde Erscheinung an, und es muSS ein wilder, ekstatischer Aufblick gewesen sein, denn ›Ruhig! Bleiben Sie ruhig!‹ beschwichtigte mich dringlich die Nahende. Ich aber lauschte nur auf ihre Stimme – war das nicht ein Mensch, der sprach? Gab es wirklich noch auf Erden einen Menschen, der mich nicht verhOErte, nicht quAElte? Und dazu noch – unfaSSbares Wunder! – eine weiche, warme, eine fast zAErtliche Frauenstimme. Gierig starrte ich auf ihren Mund, denn es war mir in diesem HOEllenjahr unwahrscheinlich geworden, daSS ein Mensch gUEtig zu einem andern sprechen kOEnnte. Sie lAEchelte mir zu – ja, sie lAEchelte, es gab noch Menschen, die gUEtig lAEcheln konnten –, dann legte sie den Finger mahnend auf die Lippen und ging leise weiter. Aber ich konnte ihrem Gebot nicht gehorchen. Ich hatte mich noch nicht sattgesehen an dem Wunder. Gewaltsam versuchte ich mich in dem Bette aufzurichten, um ihr nachzublicken, diesem Wunder eines menschlichen Wesens nachzublicken, das gUEtig war. Aber wie ich mich am Bettrande aufstUEtzen wollte, gelang es mir nicht. Wo sonst meine rechte Hand gewesen, Finger und Gelenk, spUErte ich etwas Fremdes, einen dicken, groSSen, weiSSen Bausch, offenbar einen umfangreichen Verband. Ich staunte dieses WeiSSe, Dicke, Fremde an meiner Hand zuerst verstAEndnislos an, dann begann ich langsam zu begreifen, wo ich war, und zu UEberlegen, was mit mir geschehen sein mochte. Man muSSte mich verwundet haben, oder ich hatte mich selbst an der Hand verletzt. Ich befand mich in einem Hospital. Mittags kam der Arzt, ein freundlicher AElterer Herr. Er kannte den Namen meiner Familie und erwAEhnte derart respektvoll meinen Onkel, den kaiserlichen Leibarzt, daSS mich sofort das GefUEhl UEberkam, er meine es gut mit mir. Im weiteren Verlauf richtete er allerhand Fragen an mich, vor allem eine, die mich erstaunte – ob ich Mathematiker sei oder Chemiker. Ich verneinte. ›Sonderbar‹, murmelte er. ›Im Fieber haben Sie immer so sonderbare Formeln geschrien – cDREI, cVIER. Wir haben uns alle nicht ausgekannt.‹ Ich erkundigte mich, was mit mir vorgegangen sei. Er lAEchelte merkwUErdig. ›Nichts Ernstliches. Eine akute Irritation der Nerven‹, und fUEgte, nachdem er sich zuvor vorsichtig umgeblickt hatte, leise bei: ›SchlieSSlich eine recht verstAEndliche. Seit dem EINSDREI. MAErz, nicht wahr?‹ Ich nickte. ›Kein Wunder bei dieser Methode‹, murmelte er. ›Sie sind nicht der erste. Aber sorgen Sie sich nicht.‹ An der Art, wie er mir dies beruhigend zuflUEsterte, und dank seines begUEtigenden Blicks wuSSte ich, daSS ich bei ihm gut geborgen war. Zwei Tage spAEter erklAErte mir der gUEtige Doktor ziemlich freimUEtig, was vorgefallen war. Der WAErter hatte mich in meiner Zelle laut schreien gehOErt und zunAEchst geglaubt, daSS jemand eingedrungen sei, mit dem ich streite. Kaum er sich aber an der TUEr gezeigt, hAEtte ich mich auf ihn gestUErzt und ihn mit wilden Ausrufen angeschrien, die AEhnlich klangen wie: ›Zieh schon einmal, du Schuft, du Feigling!‹, ihn bei der Gurgel zu fassen gesucht und schlieSSlich so wild angefallen, daSS er um Hilfe rufen muSSte. Als man mich in meinem tollwUEtigen Zustand dann zur AErztlichen Untersuchung schleppte, hAEtte ich mich plOEtzlich losgerissen, auf das Fenster im Gang gestUErzt, die Scheibe eingeschlagen und mir dabei die Hand zerschnitten – Sie sehen noch die tiefe Narbe hier. Die ersten NAEchte im Hospital hatte ich in einer Art Gehirnfieber verbracht, aber jetzt finde er mein Sensorium vOEllig klar. ›Freilich‹, fUEgte er leise bei, ›werde ich das lieber nicht den Herrschaften melden, sonst holt man Sie am Ende noch einmal dorthin zurUEck. Verlassen Sie sich auf mich, ich werde mein Bestes tun.‹ Was dieser hilfreiche Arzt meinen Peinigern UEber mich berichtet hat, entzieht sich meiner Kenntnis. jedenfalls erreichte er, was er erreichen wollte: meine Entlassung. Mag sein, daSS er mich als unzurechnungsfAEhig erklAErt hat, oder vielleicht war ich inzwischen schon der Gestapo unwichtig geworden, denn Hitler hatte seitdem BOEhmen besetzt, und damit war der Fall OEsterreich fUEr ihn erledigt. So brauchte ich nur die Verpflichtung zu unterzeichnen, unsere Heimat innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen, und diese vierzehn Tage waren dermaSSen erfUEllt mit all den tausend FormalitAEten, die heutzutage der einstmalige WeltbUErger zu einer Ausreise benOEtigt – MilitAErpapiere, Polizei, Steuer, PaSS, Visum, Gesundheitszeugnis –, daSS ich keine Zeit hatte, UEber das Vergangene viel nachzusinnen. Anscheinend wirken in unserem Gehirn geheimnisvoll regulierende KrAEfte, die, was der Seele lAEstig und gefAEhrlich werden kann, selbsttAEtig ausschalten, denn immer, wenn ich zurUEckdenken wollte an meine Zellenzeit, erlosch gewissermaSSen in meinem Gehirn das Licht; erst nach Wochen und Wochen, eigentlich erst hier auf dem Schiff, fand ich wieder den Mut, mich zu besinnen, was mir geschehen war. Und nun werden Sie begreifen, warum ich mich so ungehOErig und wahrscheinlich unverstAEndlich Ihren Freunden gegenUEber benommen. Ich schlenderte doch nur ganz zufAEllig durch den Rauchsalon, als ich Ihre Freunde vor dem Schachbrett sitzen sah; unwillkUErlich fUEhlte ich den FuSS angewurzelt vor Staunen und Schrecken. Denn ich hatte total vergessen, daSS man Schach spielen kann an einem wirklichen Schachbrett und mit wirklichen Figuren, vergessen, daSS bei diesem Spiel zwei vOEllig verschiedene Menschen einander leibhaftig gegenUEbersitzen. Ich brauchte wahrhaftig ein paar Minuten, um mich zu erinnern, daSS, was diese Spieler dort taten, im Grunde dasselbe Spiel war, das ich in meiner Hilflosigkeit monatelang gegen mich selbst versucht. Die Chiffren, mit denen ich mich beholfen wAEhrend meiner grimmigen Exerzitien, waren doch nur Ersatz gewesen und Symbol fUEr diese beinernen Figuren; meine UEberraschung, daSS dieses FigurenrUEcken auf dem Brett dasselbe sei wie mein imaginAEres Phantasieren im Denkraum, mochte vielleicht der eines Astronomen AEhnlich sein, der sich mit den kompliziertesten Methoden auf dem Papier einen neuen Planeten errechnet hat und ihn dann wirklich am Himmel erblickt als einen weiSSen, klaren, substantiellen Stern. Wie magnetisch festgehalten starrte ich auf das Brett und sah dort meine Schemata, Pferd, Turm, KOEnig, KOEnigin und Bauern als reale Figuren, aus Holz geschnitzt; um die Stellung der Partie zu UEberblicken, muSSte ich sie unwillkUErlich erst zurUEckmutieren aus meiner abstrakten Ziffernwelt in die der bewegten Steine. AllmAEhlich UEberkam mich die Neugier, ein solches reales Spiel zwischen zwei Partnern zu beobachten. Und da passierte das Peinliche, daSS ich, alle HOEflichkeit vergessend, mich einmengte in Ihre Partie. Aber dieser falsche Zug Ihres Freundes traf mich wie ein Stich ins Herz. Es war eine reine Instinkthandlung, daSS ich ihn zurUEckhielt, ein impulsiver Zugritt, wie man, ohne zu UEberlegen, ein Kind faSSt, das sich UEber ein GelAEnder beugt. Erst spAEter wurde mir die grobe UngehOErigkeit klar, deren ich mich durch meine Vordringlichkeit schuldig gemacht.« Ich beeilte mich, Dr. B. zu versichern, wie sehr wir alle uns freuten, diesem Zufall seine Bekanntschaft zu verdanken, und daSS es fUEr mich nach all dem, was er mir anvertraut, nun doppelt interessant sein werde, ihm morgen bei dem improvisierten Turnier zusehen zu dUErfen. Dr. B. machte eine unruhige Bewegung. »Nein, erwarten Sie wirklich nicht zu viel. Es soll nichts als eine Probe fUEr mich sein... eine Probe, ob ich... ob ich UEberhaupt fAEhig bin, eine normale Schachpartie zu spielen, eine Partie auf einem wirklichen Schachbrett mit faktischen Figuren und einem lebendigen Partner... denn ich zweifle jetzt immer mehr daran, ob jene Hunderte und vielleicht Tausende Partien, die ich gespielt habe, tatsAEchlich regelrechte Schachpartien waren und nicht bloSS eine Art Traumschach, ein Fieberschach, ein Fieberspiel, in dem wie immer im Traum Zwischenstufen UEbersprungen wurden. Sie werden mir doch hoffentlich nicht im Ernst zumuten, daSS ich mir anmaSSe, einem Schachmeister, und gar dem ersten der Welt, Paroli bieten zu kOEnnen. Was mich interessiert und intrigiert, ist einzig die posthume Neugier, festzustellen, ob das in der Zelle damals noch Schachspiel oder schon Wahnsinn gewesen, ob ich damals noch knapp vor oder schon jenseits der gefAEhrlichen Klippe mich befand – nur dies, nur dies allein.« Vom Schiffsende tOEnte in diesem Augenblick der Gong, der zum Abendessen rief Wir muSSten – Dr. B. hatte mir alles viel ausfUEhrlicher berichtet, als ich es hier zusammenfasse – fast zwei Stunden verplaudert haben. Ich dankte ihm herzlich und verabschiedete mich. Aber noch war ich nicht das Deck entlang, so kam er mir schon nach und fUEgte sichtlich nervOEs und sogar etwas stottrig bei: »Noch eines! Wollen Sie den Herren gleich im voraus ausrichten, damit ich nachtrAEglich nicht unhOEflich erscheine: ich spiele nur eine einzige Partie... sie soll nichts als der SchluSSstrich unter eine alte Rechnung sein – eine endgUEltige Erledigung und nicht ein neuer Anfang ... Ich mOEchte nicht ein zweites Mal in dieses leidenschaftliche Spielfieber geraten, an das ich nur mit Grauen zurUEckdenken kann... und UEbrigens... UEbrigens hat mich damals auch der Arzt gewarnt... ausdrUEcklich gewarnt. jeder, der einer Manie verfallen war, bleibt fUEr immer gefAEhrdet, und mit einer – wenn auch ausgeheilten – Schachvergiftung soll man besser keinem Schachbrett nahekommen... Also Sie verstehen – nur diese eine Probepartie fUEr mich selbst und nicht mehr.« PUEnktlich um die vereinbarte Stunde, drei Uhr, waren wir am nAEchsten Tage im Rauchsalon versammelt. Unsere Runde hatte sich noch um zwei Liebhaber der kOEniglichen Kunst vermehrt, zwei Schiffsoffiziere, die sich eigens Urlaub vom Borddienst erbeten, um dem Turnier zusehen zu kOEnnen. Auch Czentovic lieSS nicht wie am vorhergehenden Tage auf sich warten, und nach der obligaten Wahl der Farben begann die denkwUErdige Partie dieses Homo obscurissimus gegen den berUEhmten Weltmeister. Es tut mir leid, daSS sie nur fUEr uns durchaus unkompetente Zuschauer gespielt war und ihr Ablauf fUEr die Annalen der Schachkunde ebenso verloren ist wie Beethovens Klavierimprovisationen fUEr die Musik. Zwar haben wir an den nAEchsten Nachmittagen versucht, die Partie gemeinsam aus dem GedAEchtnis zu rekonstruieren, aber vergeblich; wahrscheinlich hatten wir alle wAEhrend des Spiels zu passioniert auf die beiden Spieler statt auf den Gang des Spiels geachtet. Denn der geistige Gegensatz im Habitus der beiden Partner wurde im Verlauf der Partie immer mehr kOErperlich plastisch. Czentovic, der Routinier, blieb wAEhrend der ganzen Zeit unbeweglich wie ein Block, die Augen streng und starr auf das Schachbrett gesenkt; Nachdenken schien bei ihm eine geradezu physische Anstrengung, die alle seine Organe zu AEuSSerster Konzentration nOEtigte. Dr. B. dagegen bewegte sich vollkommen locker und unbefangen. Als der rechte Dilettant im schOEnsten Sinne des Wortes, dem im Spiel nur das Spiel, das ›diletto‹ Freude macht, lieSS er seinen KOErper vOEllig entspannt, plauderte wAEhrend der ersten Pausen erklAErend mit uns, zUEndete sich mit leichter Hand eine Zigarette an und blickte immer nur gerade, wenn an ihn die Reihe kam, eine Minute auf das Brett. Jedesmal hatte es den Anschein, als hAEtte er den Zug des Gegners schon im voraus erwartet. Die obligaten ErOEffnungszUEge ergaben sich ziemlich rasch. Erst beim siebenten oder achten schien sich etwas wie ein bestimmter Plan zu entwickeln. Czentovic verlAEngerte seine UEberlegungspausen; daran spUErten wir, daSS der eigentliche Kampf um die Vorhand einzusetzen begann. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, bedeutete die allmAEhliche Entwicklung der Situation wie jede richtige Turnierpartie fUEr uns Laien eine ziemliche EnttAEuschung. Denn je mehr sich die Figuren zu einem sonderbaren Ornament ineinander verflochten, um so undurchdringlicher wurde fUEr uns der eigentliche Stand. Wir konnten weder wahrnehmen, was der eine Gegner noch was der andere beabsichtigte, und wer von den beiden sich eigentlich im Vorteil befand. Wir merkten bloSS, daSS sich einzelne Figuren wie Hebel vorschoben, um die feindliche Front aufzusprengen, aber wir vermochten nicht – da bei diesen UEberlegenen Spielern jede Bewegung immer auf mehrere ZUEge vorauskombiniert war –, die strategische Absicht in diesem Hin und Wider zu erfassen. Dazu gesellte sich allmAEhlich eine lAEhmende ErmUEdung, die hauptsAEchlich durch die endlosen UEberlegungspausen Czentovics verschuldet war, die auch unseren Freund sichtlich zu irritieren begannen. Ich beobachtete beunruhigt, wie er, je lAEnger die Partie sich hinzog, immer unruhiger auf seinem Sessel herumzurUEcken begann, bald aus NervositAEt eine Zigarette nach der anderen anzUEndend, bald nach dem Bleistift greifend, um etwas zu notieren. Dann wieder bestellte er ein Mineralwasser, das er Glas um Glas hastig hinabstUErzte; es war offenbar, daSS er hundertmal schneller kombinierte als Czentovic. jedesmal, wenn dieser nach endlosem UEberlegen sich entschloSS, mit seiner schweren Hand eine Figur vorwAErtszurUEcken, lAEchelte unser Freund nur wie jemand, der etwas lang Erwartetes eintreffen sieht, und ripostierte bereits. Er muSSte mit seinem rapid arbeitenden Verstand im Kopf alle MOEglichkeiten des Gegners vorausberechnet haben; je lAEnger darum Czentovics EntschlieSSung sich verzOEgerte, um so mehr wuchs seine Ungeduld, und um seine Lippen preSSte sich wAEhrend des Wartens ein AErgerlicher und fast feindseliger Zug. Aber Czentovic lieSS sich keineswegs drAEngen. Er UEberlegte stur und stumm und pausierte immer lAEnger, je mehr sich das Feld von Figuren entblOESSte. Beim zweiundvierzigsten Zuge, nach geschlagenen zweidreiviertel Stunden, saSSen wir schon alle ermUEdet und beinahe teilnahmslos um den Turniertisch. Einer der Schiffsoffiziere hatte sich bereits entfernt, ein anderer ein Buch zur LektUEre genommen und blickte nur bei jeder VerAEnderung fUEr einen Augenblick auf. Aber da geschah plOEtzlich bei einem Zuge Czentovics das Unerwartete. Sobald Dr. B. merkte, daSS Czentovic den Springer faSSte, um ihn vorzuziehen, duckte er sich zusammen wie eine Katze vor dem Ansprung. Sein ganzer KOErper begann zu zittern, und kaum hatte Czentovic den Springerzug getan, schob er scharf die Dame vor, sagte laut triumphierend: »So! Erledigt!«, lehnte sich zurUEck, kreuzte die Arme UEber der Brust und sah mit herausforderndem Blick auf Czentovic. Ein heiSSes Licht glomm plOEtzlich in seiner Pupille. UnwillkUErlich beugten wir uns UEber das Brett, um den so triumphierend angekUEndigten Zug zu verstehen. Auf den ersten Blick war keine direkte Bedrohung sichtbar. Die AEuSSerung unseres Freundes muSSte sich also auf eine Entwicklung beziehen, die wir kurzdenkenden Dilettanten noch nicht errechnen konnten. Czentovic war der einzige unter uns, der sich bei jener herausfordernden AnkUEndigung nicht gerUEhrt hatte; er saSS so unerschUEtterlich, als ob er das beleidigende ›Erledigt!‹ vOEllig UEberhOErt hAEtte. Nichts geschah. Man hOErte, da wir alle unwillkUErlich den Atem anhielten, mit einemmal das Ticken der Uhr, die man zur Feststellung der Zugzeit auf den Tisch gelegt hatte. Es wurden drei Minuten, sieben Minuten, acht Minuten – Czentovic rUEhrte sich nicht, aber mir war, als ob sich von einer inneren Anstrengung seine dicken NUEstern noch breiter dehnten. Unserem Freunde schien dieses stumme Warten ebenso unertrAEglich wie uns selbst. Mit einem Ruck stand er plOEtzlich auf und begann im Rauchzimmer auf und ab zu gehen, erst langsam, dann schneller und immer schneller. Alle blickten wir ihm etwas verwundert zu, aber keiner beunruhigter als ich, denn mir fiel auf, daSS seine Schritte trotz aller Heftigkeit dieses Auf und Ab immer nur die gleiche Spanne Raum ausmaSSen; es war, als ob er jedesmal mitten im leeren Zimmer an eine unsichtbare Schranke stieSSe, die ihn nOEtigte umzukehren. Und schaudernd erkannte ich, es reproduzierte unbewuSSt dieses Auf und Ab das AusmaSS seiner einstmaligen Zelle; genau so muSSte er in den Monaten des Eingesperrtseins auf und ab gerannt sein wie ein eingesperrtes Tier im KAEfig, genau so die HAEnde verkrampft und die Schultern eingeduckt; so und nur so muSSte er dort tausendmal auf und nieder gelaufen sein, die roten Lichter des Wahnsinns im starren und doch fiebernden Blick. Aber noch schien sein DenkvermOEgen vOEllig intakt, denn von Zeit zu Zeit wandte er sich ungeduldig dem Tisch zu, ob Czentovic sich inzwischen schon entschieden hAEtte. Aber es wurden neun, es wurden zehn Minuten. Dann endlich geschah, was niemand von uns erwartet hatte. Czentovic hob langsam seine schwere Hand, die bisher unbeweglich auf dem Tisch gelegen. Gespannt blickten wir alle auf seine Entscheidung. Aber Czentovic tat keinen Zug, sondern sein gewendeter HandrUEcken schob mit einem entschiedenen Ruck alle Figuren langsam vom Brett. Erst im nAEchsten Augenblick verstanden wir: Czentovic hatte die Partie aufgegeben. Er hatte kapituliert, um nicht vor uns sichtbar mattgesetzt zu werden. Das Unwahrscheinliche hatte sich ereignet, der Weltmeister, der Champion zahlloser Turniere hatte die Fahne gestrichen vor einem Unbekannten, einem Manne, der zwanzig oder fUEnfundzwanzig Jahre kein Schachbrett angerUEhrt. Unser Freund, der Anonymus, der Ignotus, hatte den stAErksten Schachspieler der Erde in offenem Kampfe besiegt! Ohne es zu merken, waren wir in unserer Erregung einer nach dem anderen aufgestanden. jeder von uns hatte das GefUEhl, er mUESSte etwas sagen oder tun, um unserem freudigen Schrecken Luft zu machen. Der einzige, der unbeweglich in seiner Ruhe verharrte, war Czentovic. Erst nach einer gemessenen Pause hob er den Kopf und blickte unseren Freund mit steinernem Blick an. »Noch eine Partie?« fragte er. »SelbstverstAEndlich«, antwortete Dr. B. mit einer mir unangenehmen Begeisterung und setzte sich, noch ehe ich ihn an seinen Vorsatz mahnen konnte, es bei einer Partie bewenden zu lassen, sofort nieder und begann mit fiebriger Hast die Figuren neu aufzustellen. Er rUEckte sie mit solcher Hitzigkeit zusammen, daSS zweimal ein Bauer durch die zitternden Finger zu Boden glitt; mein schon frUEher peinliches Unbehagen angesichts seiner unnatUErlichen Erregtheit wuchs zu einer Art Angst. Denn eine sichtbare Exaltiertheit war UEber den vorher so stillen und ruhigen Menschen gekommen; das Zucken fuhr immer OEfter um seinen Mund, und sein KOErper zitterte wie von einem jAEhen Fieber geschUEttelt. »Nicht!« flUEsterte ich ihm leise zu. »Nicht jetzt! Lassen Sie's fUEr heute genug sein! Es ist fUEr Sie zu anstrengend.« »Anstrengend! Ha!« lachte er laut und boshaft. »Siebzehn Partien hAEtte ich unterdessen spielen kOEnnen statt dieser Bummelei! Anstrengend ist fUEr mich einzig, bei diesem Tempo nicht einzuschlafen! – Nun! Fangen Sie doch schon einmal an!« Diese letzten Worte hatte er in heftigem, beinahe grobem Ton zu Czentovic gesagt. Dieser blickte ihn ruhig und gemessen an, aber sein steinern starrer Blick hatte etwas von einer geballten Faust. Mit einemmal stand etwas Neues zwischen den beiden Spielern; eine gefAEhrliche Spannung, ein leidenschaftlicher HaSS. Es waren nicht zwei Partner mehr, die ihr KOEnnen spielhaft aneinander proben wollten, es waren zwei Feinde, die sich gegenseitig zu vernichten geschworen. Czentovic zOEgerte lange, ehe er den ersten Zug tat, und mich UEberkam das deutliche GefUEhl, er zOEgerte mit Absicht so lange. Offenbar hatte der geschulte Taktiker schon herausgefunden, daSS er gerade durch seine Langsamkeit den Gegner ermUEdete und irritierte. So setzte er nicht weniger als vier Minuten aus, ehe er die normalste, die simpelste aller ErOEffnungen machte, indem er den KOEnigsbauern die UEblichen zwei Felder vorschob. Sofort fuhr unser Freund mit seinem KOEnigsbauern ihm entgegen, aber wieder machte Czentovic eine endlose, kaum zu ertragende Pause; es war, wie wenn ein starker Blitz niederfAEhrt und man pochenden Herzens auf den Donner wartet, und der Donner kommt und kommt nicht. Czentovic rUEhrte sich nicht. Er UEberlegte still, langsam und, wie ich immer gewisser fUEhlte, boshaft langsam; damit aber gab er mir reichlich Zeit, Dr. B. zu beobachten. Er hatte eben das dritte Glas Wasser hinabgestUErzt; unwillkUErlich erinnerte ich mich, daSS er mir von seinem fiebrigen Durst in der Zelle erzAEhlte. Alle Symptome einer anomalen Erregung zeichneten sich deutlich ab; ich sah seine Stirne feucht werden und die Narbe auf seiner Hand rOEter und schAErfer als zuvor. Aber noch beherrschte er sich. Erst als beim vierten Zug Czentovic wieder endlos UEberlegte, verlieSS ihn die Haltung, und er fauchte ihn plOEtzlich an: »So spielen Sie doch schon endlich einmal!« Czentovic blickte kUEhl auf. »Wir haben meines Wissens zehn Minuten Zugzeit vereinbart. Ich spiele prinzipiell nicht mit kUErzerer Zeit.« Dr. B. biSS sich die Lippe; ich merkte, wie unter dem Tisch seine Sohle unruhig und immer unruhiger gegen den Boden wippte, und wurde selbst unaufhaltsam nervOEser durch das drUEckende VorgefUEhl, daSS sich irgend etwas Unsinniges in ihm vorbereitete. In der Tat ereignete sich bei dem achten Zug ein zweiter Zwischenfall. Dr. B., der immer unbeherrschter gewartet hatte, konnte seine Spannung nicht mehr verhalten; er rUEckte hin und her und begann unbewuSSt mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln. Abermals hob Czentovic seinen schweren bAEurischen Kopf. »Darf ich Sie bitten, nicht zu trommeln? Es stOErt mich. Ich kann so nicht spielen.« »Ha!« lachte Dr. B. kurz. »Das sieht man.« Czentovics Stirn wurde rot. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte er scharf und bOEse. Dr. B. lachte abermals knapp und boshaft. »Nichts. Nur daSS Sie offenbar sehr nervOEs sind.« Czentovic schwieg und beugte seinen Kopf nieder. Erst nach sieben Minuten tat er den nAEchsten Zug, und in diesem tOEdlichen Tempo schleppte sich die Partie fort. Czentovic versteinte gleichsam immer mehr; schlieSSlich schaltete er immer das Maximum der vereinbarten UEberlegungspause ein, ehe er sich zu einem Zug entschloSS, und von einem Intervall zum andern wurde das Benehmen unseres Freundes sonderbarer. Es hatte den Anschein, als ob er an der Partie gar keinen Anteil mehr nehme, sondern mit etwas ganz anderem beschAEftigt sei. Er lieSS sein hitziges Aufundniederlaufen und blieb an seinem Platz regungslos sitzen. Mit einem stieren und fast irren Blick ins Leere vor sich starrend, murmelte er ununterbrochen unverstAEndliche Worte vor sich hin; entweder verlor er sich in endlosen Kombinationen, oder er arbeitete – dies war mein innerster Verdacht – sich ganz andere Partien aus, denn jedesmal, wenn Czentovic endlich gezogen hatte, muSSte man ihn aus seiner Geistesabwesenheit zurUEckmahnen. Dann brauchte er immer einige Minuten, um sich in der Situation wieder zurechtzufinden; immer mehr beschlich mich der Verdacht, er habe eigentlich Czentovic und uns alle lAEngst vergessen in dieser kalten Form des Wahnsinns, der sich plOEtzlich in irgendeiner Heftigkeit entladen konnte. Und tatsAEchlich, bei dem neunzehnten Zug brach die Krise aus. Kaum daSS Czentovic seine Figur bewegt, stieSS Dr. B. plOEtzlich, ohne recht auf das Brett zu blicken, seinen LAEufer drei Felder vor und schrie derart laut, daSS wir alle zusammenfahren: »Schach! Schach dem KOEnig!« Wir blickten in der Erwartung eines besonderen Zuges sofort auf das Brett. Aber nach einer Minute geschah, was keiner von uns erwartet. Czentovic hob ganz, ganz langsam den Kopf und blickte – was er bisher nie getan – in unserem Kreise von einem zum andern. Er schien irgend etwas unermeSSlich zu genieSSen, denn allmAEhlich begann auf seinen Lippen ein zufriedenes und deutlich hOEhnisches LAEcheln. Erst nachdem er diesen seinen uns noch unverstAEndlichen Triumph bis zur Neige genossen, wandte er sich mit falscher HOEflichkeit unserer Runde zu. »Bedaure – aber ich sehe kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren ein Schach gegen meinen KOEnig?« Wir blickten auf das Brett und dann beunruhigt zu Dr. B. hinUEber. Czentovics KOEnigsfeld war tatsAEchlich – ein Kind konnte das erkennen durch einen Bauern gegen den LAEufer vOEllig gedeckt, also kein Schach dem KOEnig mOEglich. Wir wurden unruhig. Sollte unser Freund in seiner Hitzigkeit eine Figur danebengestoSSen haben, ein Feld zu weit oder zu nah? Durch unser Schweigen aufmerksam gemacht, starrte jetzt auch Dr. B. auf das Brett und begann heftig zu stammeln: »Aber der KOEnig gehOErt doch auf fSIEBEN... er steht falsch, ganz falsch. Sie haben falsch gezogen! Alles steht ganz falsch auf diesem Brett... der Bauer gehOErt doch auf gFUENF und nicht auf g VIER... das ist ja eine ganz andere Partie... Das ist...« Er stockte plOEtzlich. Ich hatte ihn heftig am Arm gepackt oder vielmehr ihn so hart in den Arm gekniffen, daSS er selbst in seiner fiebrigen Verwirrtheit meinen Griff spUEren muSSte. Er wandte sich um und starrte mich wie ein Traumwandler an. »Was... was wollen Sie?« Ich sagte nichts als »Remember!« und fuhr ihm gleichzeitig mit dem Finger UEber die Narbe seiner Hand. Er folgte unwillkUErlich meiner Bewegung, sein Auge starrte glasig auf den blutroten Strich. Dann begann er plOEtzlich zu zittern, und ein Schauer lief UEber seinen ganzen KOErper. »Um Gottes willen«, flUEsterte er mit blassen Lippen. »Habe ich etwas Unsinniges gesagt oder getan... bin ich am Ende wieder...?« »Nein«, flUEsterte ich leise. »Aber Sie mUEssen sofort die Partie abbrechen, es ist hOEchste Zeit. Erinnern Sie sich, was der Arzt Ihnen gesagt hat!« Dr. B. stand mit einem Ruck auf. »Ich bitte um Entschuldigung fUEr meinen dummen Irrtum«, sagte er mit seiner alten hOEflichen Stimme und verbeugte sich vor Czentovic. »Es ist natUErlich purer Unsinn, was ich gesagt habe. SelbstverstAEndlich bleibt es Ihre Partie.« Dann wandte er sich zu uns. »Auch die Herren muSS ich um Entschuldigung bitten. Aber ich hatte Sie gleich im voraus gewarnt, Sie sollten von mir nicht zuviel erwarten. Verzeihen Sie die Blamage – es war das letzte Mal, daSS ich mich im Schach versucht habe.« Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimnisvollen Weise, mit der er zuerst erschienen. Nur ich wuSSte, warum dieser Mann nie mehr ein Schachbrett berUEhren wUErde, indes die andern ein wenig verwirrt zurUEckblieben mit dem ungewissen GefUEhl, mit knapper Not etwas Unbehaglichem und GefAEhrlichem entgangen zu sein. »Damned fool!« knurrte McConnor in seiner EnttAEuschung. Als letzter erhob sich Czentovic von seinem Sessel und warf noch einen Blick auf die halbbeendete Partie. »Schade«, sagte er groSSmUEtig. »Der Angriff war gar nicht so UEbel disponiert. FUEr einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewOEhnlich begabt.«