Wilhelm Busch: Die fromme Helene


An Helene

Zur 36. Auflage - 1907

So hat sich denn schon sechsunddreißig Male
Das Jahr erneut in diesem Erdentale,
Seit du erschienst in Deiner Schändlichkeit.
Viel ist passiert von dazumal bis heut,
Darunter viel, was wir nicht gern erlebten.
Die Bomben krachten, und die Berge bebten,
Zum Teil ins Wackeln kam das Weltgerüst.
Indes, sosehr wir uns darob betrübten,
Wir faßten uns, wir aßen, tranken, liebten
Und dachten nach, was schlau und nützlich ist
Und machten es und brauchten's mit Behagen.
Jüngst träumte mir, im neusten Sausewagen,
Dem unverschämten, dennoch wundersamen,
Der so beliebt, besonders bei den Damen,
Denn alles Neue liebten sie ja stets,
Kämst Du mir, altes Lenchen, flink verwegen,
Staub und Gerüche hinter Dir, entgegen.
Ich war erstaunt und fragte Dich: Wie geht's?
Der Herr Verleger, der Dein Pflegevater,
Verehrte, seh' ich, Dir ein neu Kostüm.
Mach einen Knicks. Es war doch nett von ihm.
Demnach, obwohl Du längst schon aus dem Schneider,
Spielst Du noch immer - manche sagen: leider! -
Vor jedermann auf dem Papiertheater
Ganz unverfroren Deine losen Streiche.
Du hast Dich nicht gebessert, bliebst die gleiche,
Neckst immer noch den Onkel, schreckst die Tante,
Die beide doch so brave Anverwandte,
Und eben dies macht uns ein Hauptvergnügen,
Wenn Biederleute, die allhier auf Erden
Geruhig leben, recht gehudelt werden,
Daß sie vor Ärger fast die Kränke kriegen.
Zwar, was die Alten sind, die abgeklärten,
Die Speckphilister, die sich gut ernährten,
Sie kennen eine beßre Unterhaltung.
Allabendlich siehst Du sie schwitzend wandeln,
Um über die verderbte Stadtverwaltung
Im Volksverein laut dröhnend zu verhandeln.
Dort zeigen frei sie ihre Redegaben,
Sie, die zu Hause nichts zu sagen haben.
Doch eines sei erwähnt zu ihren Ehren:
Sie waren treu bemüht, sich zu vermehren.
Ein junger Nachwuchs kam, dem jene Sachen
Zu ernsthaft sind; man möchte lieber lachen,
Und kindlich harmlos hascht man nach Genüssen
In Wort und Bild, als gäb' es kein Gewissen.
Man denkt sich halt: Es ist ja Phantasie,
Ein Puppenspiel. Wir täten so was nie!
Die Frommen aber, die vorüberradeln,
Die uns vermutlich in die Gosse rennten,
Wenn sie vor Lachen und Entrüstung könnten,
Sie sind mal so, wir wollen sie nicht tadeln,
Ersuchen sie vielmehr, sich zu getrösten:
Die Narren sterben, auch die allergrößten.
Sobald nur hundert Jahre erst verflossen,
Wo, unter andern, sind dann unsre Possen?
Die Lampe fällt. Was bleibt noch auf der Szene?
Ein Häufchen Asche, wie von Dir, Helene.
Drauf kommt die Zeit mit ihrem Reiserbesen
Und fegt es weg, als wär' es nie gewesen.
Mir selbst ist so, als müßt' ich bald verreisen -
Die Backenzähne schenkt' ich schon den Mäusen -,
Als müßt' ich endlich mal den Ort verändern
Und weiterziehn nach unbekannten Ländern.
Mein Bündel ist geschnürt. Ich geh' zur See.
Und somit, Lenchen, sag' ich Dir ade!