Das Hexlein

Wie ich so auf dem Schneidstuhl sitz,
zum Zeitvertreibe Lichtspän' schnitz,
da geht ein Hexlein frohgemut
vorbei und fragt: »Haut 's Messer gut?«

Und lächelt freundlich Guten Tag,
und wie ich schau und wie ich sag:
»'s könnt bessergehn und Großen Dank«,
da wird das Herz mir plötzlich krank.

Ich hintendrein und auf und fort;
ich such es durch den ganzen Ort,
und wie ich ruf: »Du Hexlein, hör!«,
da gibt es keine Antwort mehr.

Und seither schmeckt mir 's Essen nicht;
stell auf das köstlichste Gericht.
Wenn abends alles schläft schon lang,
hör ich der Uhren Stundenklang.

Und was ich schaff, gerät mir nit;
bei jedem Schritt und jedem Tritt
kommt mir das liebe Hexlein vor,
ich rede wie der reinste Tor.

Ihr Angesicht war lieb und fein,
ein Engel könnt' nicht schöner sein.
Es sagt mit einem freien Mut,
so lieb und süß: »Haut 's Messer gut?«

Nur einmal hab ich es gehört,
und dennoch hat es mich betört.
Ich seh an Hag und Busch den Rock,
und schon ist's über Stein und Stock.

Wer späht mir nun mein Hexlein aus?
Wer zeigt mir seiner Mutter Haus?
Ich gehe, was ich gehen kann;
wer weiß, so treff ich's doch noch an!

Ich wandre alle Dörfer aus;
ich such und frag von Haus zu Haus;
und wird mir nicht mein Hexlein kund,
so werd ich eben nimmer g'sund.

(Johann Peter Hebel: Alemannische Gedichte. Reclam-Universalbibliothek 8294.
Hochdeutsche Übertragung von Richard Gäng.)

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