Die neuen Fiedellieder

Es war in der Studentenzeit, als in einem jetzt nicht mehr vorhandenen einsamen Wirtshause, oben im Walde an der Ostsee, mein gleichfalls nun längst von der Erde verschwundener Freund Ferdinand Röse oder, wie er von uns und von sich selber gern genannt wurde, der Magister Antonius Wanst mir und den Brüdern Theodor und Tycho Mommsen sein tiefsinniges Märchen »Das Sonnenkind« vorlas, in welchem der Held auf dem abgelegenen Schlosse Grümpelstein von sechzig alten Tanten erzogen wurde und von Mr. Breeches, nachdem er in der Nasenkrabbelmaschine seinen Spleen ausgeniest hatte, nur noch seine karierten Beinkleider übrigblieben. - Wir saßen in einem hohen Zimmer, in welches von draußen die Bäume stark hereindunkelten, und von fern aus den Buchenwipfeln hörten wir das Flattern der Waldtauben, als der Verfasser in seiner feierlichen Weise aus dem entrollten Manuskripte anhub: »Hans Fideldum, der lustige Musikant, ging durch ein Seitental des Böhmerwaldes rüstig vorwärts.«

Armer Magister Wanst! Wo sind jetzt deine Märchen? Wo dein großes Drama »Ahasver«, aus dem du einst in Lübeck in deinem altväterischen Elternhaus an der Trave, aber auch nur in weihevollster Stunde, wohl ein einzelnes Blättchen mir zu lesen gabst? Wer kennt die gedruckten Bände deiner »Individualitätsphilosophie«, die nach deiner Versicherung ihrem Jahrhundert vorausgeeilt war, und in welchem Krämerladen sind die nicht gedruckten, zum Teil bei strengem Winterfrost im ungeheizten Zimmer ausgearbeiteten übrigen Bände zu Tüten umgewandelt worden? - Keine deiner Saaten ist aufgegangen, selbst dein Sonnenkind ist in dem »Pilger durch die Welt« pr. 1845 nur verkrüppelt an das Tageslicht getreten. Du bist gestorben, verdorben, nur ich und dein treuester, bis ans Ende hilfreicher Jugendgenosse, Emanuel Geibel, wenn die alten Tage uns besuchen, mögen deiner dann und wann gedenken.

Damals aber, an jenem Sommernachmittag im Walde, warst du noch hoffnungsreich und im Vollgefühl einer großen Lebensaufgabe, und mit Behagen hattest du neben ernsteren Studien auch jenes Märchen hingeschrieben. Nur für den Liederbedarf des Hans Fideldum, den du allein nicht zu decken wußtest, wurde die Beisteuer in Anspruch genommen. Geibel hatte aus seinem Reichtum schon gegeben; dann schrieb auch ich die kleinen »Fiedel-Lieder«, wie sie noch jetzt in der Sammlung meiner Gedichte stehen.

Und die Veranlassung, daß ich eben jetzt jener Jugendzeit gedenke?

Hier liegt sie vor mir, frisch aus der Presse wie aus dem Herzen: »Die Lieder jung Werners aus Scheffels Trompeter von Säckingen für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte von Ludwig Scherff.« - »Wer klappert von dem Turme seltsamen Gruß mir? Horch!« - Hell und jung ist mein ganzes Haus geworden, seitdem diese herzerquickenden Lieder darin erklingen; ja dermaßen sind sie mir in die Glieder gefahren, daß ich meinen alten Fiedelbogen aus dem Staube hervorgesucht und damit gerade an der Stelle wiederum zu streichen angefangen habe, wo ich ihn vor dreißig Jahren abgesetzt hatte.

Dir aber, Meister Ludwig, dem Lebenden, dessen klare Manneskraft nicht im Sande verrinnen wird, lasse ich die frischen Blätter zufliegen. Nimm sie hin nebst jenen alten, die der tote Freund nicht mehr gebrauchen kann; und mag es gelten, ob ich dich klingen machen kann, wie du es mir getan hast.

Und nun horch auf, wie sie gehen!

Theodor Storm: Gedichte