Jules Verne

Die Jangada, zweiter Teil


Elftes Kapitel

Was sich in dem Etui befand

[...]

»Lieber Freund«, richtete Manoel das Wort an den Vormann der Floßmannschaft, »greifen Sie einmal selbst in die Tasche dieser Jacke.«

Der Vormann willfahrte ihm. Er brachte eine Metallkapsel zum Vorschein, deren Deckel sich hermetisch verschloß und die durch das Liegen im Wasser nicht beschädigt zu sein schien.

»Das Papier ... ist das Papier noch darin?« rief Benito, der seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte.

»Es wird Sache des Gerichtes sein, dieses Etui zu öffnen«, erwiderte Manoel. »Dem Richter allein kommt es zu, zu konstatieren, ob sich ein Dokument darin befindet oder nicht.«

»Ja ... freilich ... da hast du wiederum recht«, antwortete Benito. »Auf nach Manao also, liebe Freunde, nach Manao!«

Benito, Manoel, Fragoso und der Vormann vom Floße, der das Etui bei sich behielt, bestiegen also die eine Piroge und wollten schon abfahren, als Fragoso sagte:

»Und was wird aus Torres' Leichnam?«

Die Piroge hielt an.

Die Indianer hatten den Körper des Abenteurers nämlich schon wieder ins Wasser geworfen, und dieser trieb mit der Strömung hinab.

»Torres war nur ein erbärmlicher Bösewicht«, begann Benito. »Ich habe mein Leben offen und ehrlich gegen das seine gewagt - Gott hat ihn durch meine Hand mit seinem Richterspruche ereilt, aber die entseelte Hülle soll wenigstens nicht unbeerdigt bleiben.«

Die zweite Piroge wurde demnach beordert, Torres' Kadaver wieder aufzufischen, nach dem Ufer zu schaffen und dort zu begraben.

In demselben Augenblicke stürzte sich aber ein Schwarm von Raubvögeln, der über dem Strome schwebte, auf den schwimmenden Leichnam herab. Es waren Urubus, eine Art kleiner, nackthalsiger Geier mit langen Krallen und schwarz wie Raben, welche in Südamerika gewöhnlich »Gallinazos« genannt werden und die sich durch beispiellose Gefräßigkeit auszeichnen. Aus dem durch ihre Schnabelhiebe zerhackten Körper entwichen die Gase, welche ihn bisher anschwellten; das spezifische Gewicht der Leiche nahm infolgedessen wieder zu, sie versank allmählich, und zum letzten Male verschwand, was von Torres noch übrig war, unter den Wellen des Amazonenstromes.

Zehn Minuten später traf die schnell dahingleitende Piroge im Hafen von Manao ein. Benito und seine Begleiter gingen ans Land und eilten durch die Straßen der Stadt.

Bald trafen sie an der Wohnung des Richters Jarriquez ein und ließen diesem durch einen seiner Diener melden, daß sie ihn unverzüglich zu sprechen wünschten.

Der Beamte ließ sie in sein Privatzimmer führen.

Hier erstattete Manoel Bericht über alles, was vorgegangen war seit der Stunde, wo Torres in regelrechtem Zweikampfe von Benito den Todesstoß erhalten hatte, bis zu dem Augenblicke, wo das Etui am Kadaver des Erschlagenen wiedergefunden und durch den Obmann des Floßes aus der Jackentasche hervorgezogen worden war.

Obgleich diese Darstellung Joam Dacostas Aussagen über Torres und den ihm von diesem angebotenen Handel allseitig bekräftigte, konnte der Richter Jarriquez ein ungläubiges Lächeln doch nicht ganz unterdrücken.

»Hier ist das Etui, Herr Richter«, fuhr Manoel fort.

»In unseren Händen befand es sich noch keinen Augenblick, und der Mann, welcher es Ihnen ausliefert, hat es auf Torres' Körper selbst gefunden!«

Der Beamte ergriff die Kapsel, prüfte sie sorgfältig und wendete sie nach allen Seiten, wie einen Gegenstand von höchstem Werte. Dann schüttelte er dieselbe und einige darin befindliche Stücke gaben dabei einen metallischen Klang.

Sollte das Etui wirklich das mit solchem Opfermute gesuchte Dokument, das von der eigenen Hand des Urhebers jenes halbverjährten Verbrechens beschriebene Papier nicht enthalten, welches Torres gegen den Preis eines unwürdigen Tausches an Joam Dacosta verschachern wollte? Sollte der materielle Beweis für die Unschuld des Verurteilten unwiederbringlich verloren sein?

Die unbeschreibliche Erregtheit der Zuschauer dieser Szene wird sich der Leser leicht vorstellen können. Benito war keines Wortes mächtig; er fühlte, daß sein Herz zu springen drohte.

»Öffnen Sie, Herr Richter, öffnen Sie nur das Etui!« bat er mit halb gebrochener Stimme.

Jarriquez bemühte sich, den Deckel abzuziehen; als ihm das gelungen, wendete er die offene Seite des Etuis nach unten, aus dem einige Goldstücke auf den Tisch rollten.

»Aber das Papier ... das Papier!« rief Benito noch einmal, während er sich an den Tisch anklammerte, um nicht zu Boden zu sinken.

Der Beamte fuhr mit den Fingern in die Kapsel und zog daraus mit einiger Schwierigkeit ein schon vergilbtes, aber sorgsam zusammengefaltetes Papier hervor, welches vom Wasser verschont zu sein schien.

»Das Dokument! Das ist das Dokument!« rief Fragoso erfreut, »ja, ja, das ist das nämliche Papier, welches ich in Torres' Händen gesehen habe!«

Der Richter Jarriquez schlug das Papier auseinander, betrachtete es prüfend und sah die Vorder- und die Rückseite an, welche mit ziemlich großen Schriftzügen bedeckt waren.

»Ein Dokument«, sagte er, »freilich, daran ist kaum zu zweifeln. Ein Dokument ist das sicherlich!«

»Gewiß«, setzte Benito hinzu, »und zwar ein Dokument, welches die Unschuld meines Vaters nachweist.«

»Das weiß ich noch nicht«, meinte der Richter Jarriquez, »und ich fürchte sogar, es wird seine Schwierigkeiten haben, das zu erfahren.«

»Warum?« rief Benito, bleich wie der Tod.

»Weil dieses Dokument in einer Geheimschrift abgefaßt ist«, antwortete der Richter Jarriquez, »und weil ...«

»Nun was?«

»... uns der Schlüssel dazu fehlt!«