Jules Verne

Die Jangada, zweiter Teil


Zwölftes Kapitel

Das Dokument

Das war freilich ein sehr mißlicher Umstand, den weder Joam Dacosta noch die Seinigen vorhersehen konnten. In der Tat - diejenigen unserer Leser, welche den Anfang dieser Erzählung nicht vergessen haben, wissen es - erwies sich das Dokument abgefaßt nach der schwierig zu enträtselnden Methode eines der zahlreichen, in der Kryptologie gebräuchlichen Systeme.

Aber nach welchem?

Das herauszufinden, erheischte allen Scharfsinn eines schon geübten Menschengehirnes.

Der Richter Jarriquez ließ, bevor er Benito und dessen Begleiter verabschiedete, eine genaue Kopie des Dokuments anfertigen, da er das Original selbst zurückbehalten wollte, und lieferte jene nach sorgfältiger Kollationierung den beiden jungen Männern aus, damit diese sie dem Verhafteten zukommen lassen könnten.

Nachdem sie versprochen, sich am folgenden Tage wieder einzufinden, zogen sie sich zurück und begaben sich, um keinen Augenblick zu zögern und voll Verlangen, Joam Dacosta wiederzusehen, sofort nach dessen Gefängnisse.

Dort teilten sie dem Verhafteten in kurzen Worten alles mit, was inzwischen vorgefallen war.

Joam Dacosta ergriff erregt das für ihn so wichtige Schriftstück und betrachtete es aufmerksam. Dann gab er es kopfschüttelnd seinem Sohne zurück.

»Vielleicht«, sagte er gefaßt, »enthalten diese Zeilen den Beweis, den ich bisher nicht beizubringen vermochte. Doch wenn es nicht der Fall wäre und ein ganzes ehrenhaftes Leben keinen Ausschlag zu meinen Gunsten gibt, und habe ich von der menschlichen Gerechtigkeit nichts mehr zu erwarten, so liegt mein Schicksal allein noch in Gottes Hand.«

Alle empfanden die Wahrheit dieser Worte. Wenn das Dokument ungelöst blieb, so gestaltete sich die Lage des Verurteilten zum Schlimmsten.

»Wir werden das Rätsel lösen, liebster Vater!« rief Benito vertrauensvoll. »Es gibt keine Geheimschrift dieser Art, zu der sich nicht der Schlüssel finden ließe. O, fasse Mut ... habe Vertrauen! Der Himmel hat uns, ich möchte sagen durch ein Wunder, das Schriftstück mit dem Beweise deiner Unschuld wiederfinden lassen, und nachdem er unsere Hand so gnädig geleitet, kann es nicht sein Wille sein, unseren Geist nicht zu erleuchten, um dessen Sinn zu fassen!«

Joam Dacosta drückte Benitos und Manoels Hand, darauf entfernten sich die beiden jungen Leute, um schleunigst nach der Jangada zurückzukehren, wo Yaquita ihrer Ankunft entgegenharrte.

Joam Dacostas Gattin wurde sofort von allen Vorfällen seit dem gestrigen Tage unterrichtet, von dem Auftauchen des Leichnams Torres', wie von der Wiederauffindung des Dokuments und der ungewöhnlichen Form, in welcher der wirkliche Urheber des Attentats dasselbe abfassen zu müssen geglaubt hatte - wahrscheinlich, um sich selbst nicht zu kompromittieren, wenn jenes zufällig in fremde Hände käme.

Natürlich erfuhr auch Lina von jener unerwarteten Erschwerung und von Fragosos Entdeckung, daß Torres ein früherer Waldkapitän und Mitglied jener etwas zweifelhaften Miliz gewesen sei, die an den Mündungen des Madeira ihr Wesen trieb.

»Wie bist du aber mit ihm zusammengetroffen?« fragte die junge Mulattin.

»Das war gelegentlich einer meiner Wanderungen durch die Amazonas-Provinz«, antwortete Fragoso, »als ich in Ausübung meines Geschäftes von Dorf zu Dorf pilgerte.«

»Nun, und jene Narbe?«

»Ja, das ging folgendermaßen zu: Ich langte eines schönen Tages in der Gegend von Aranas gerade in dem Augenblicke an, als Torres, den ich niemals vorher gesehen hatte, mit einem seiner Kameraden - lauter schuftige Kerle das - in Streit gekommen war, der damit endigte, daß der Waldkapitän einen Messerhieb in den Arm erhielt. Weil kein Arzt zur Hand war, mußte ich die Wunde einstweilen verbinden, und so habe ich seine Bekanntschaft gemacht.«

»Ja, was nützt es aber«, erwiderte das junge Mädchen, »zu wissen, was Torres früher gewesen ist. Er war der Urheber jenes Verbrechens offenbar nicht, und folglich wird deine Entdeckung der Klarlegung der Verhältnisse auch nicht besonders förderlich sein.«

»Freilich nicht«, antwortete Fragoso, »aber, zum Teufel, es wird doch gelingen, das verwünschte Dokument zu entziffern, und dann muß Joam Dacostas Unschuld doch allen klar vor Augen treten!«

Yaquita, Benito, Manoel und Minha hegten dieselbe Hoffnung. Alle verbrachten in dem allgemeinen Wohnzimmer lange Stunden, um der Geheimschrift auf den Grund zu kommen.

Wenn sie aber darauf rechneten, so hoffte - und das verdient wohl hervorgehoben zu werden - der Richter Jarriquez ganz dasselbe.

Nachdem er einen Bericht aufgesetzt, der auf Grundlage des stattgehabten Verhörs die Identität Joam Dacostas außer Zweifel stellte, hatte der Beamte denselben an die Kanzlei abgeliefert in der Meinung, diese Angelegenheit, soweit er dabei in Betracht kam, zum Abschluß gebracht zu haben. Es sollte anders kommen.

Mit der Auffindung des fraglichen Dokuments sah sich der Richter Jarriquez nämlich plötzlich in sein Lieblings-Fahrwasser versetzt. Er, der geübte Löser arithmetischer Aufgaben, amüsanter Probleme, der Entzifferer von Logogryphen, Rebussen, Charaden und dergleichen, er befand sich damit in seinem Element.

Bedachte er nun überdies, daß jenes Dokument die Rechtfertigung des verurteilten Joam Dacosta enthalten konnte, so regte sich sein analytischer Instinkt nur mit verdoppelter Lebhaftigkeit. Er hatte ja einmal ein Kryptogramm von reeller Bedeutung vor Augen! Da lag ihm denn nichts mehr am Herzen als der Wunsch, hinter dessen Sinn zu kommen. Nur wer ihn nicht kannte, hätte daran zweifeln können, daß er Essen und Trinken wegen einer solchen Aufgabe zu vergessen imstande war.

Nach der Entfernung der jungen Leute verschloß sich der Richter Jarriquez in seinem Privatkabinett. Der Eintritt dahin wurde jedermann verwehrt, so daß er mehrere Stunden über ungestört nachsinnen und suchen konnte. Die Brille setzte er sorglich auf die Nase, die Tabaksdose neben sich auf den Tisch. Er nahm eine tüchtige Prise, um seine geistigen Fähigkeiten zu schärfen, ergriff das rätselhafte Schriftstück und verlor sich in so tiefes Nachsinnen, daß sich seine Gedanken unwillkürlich in die Form eines Monologs einkleideten. Der ehrenwerte Beamte gehörte überhaupt zu den Leuten, welche lieber laut als heimlich denken.

»Nur alles mit Methode angefaßt«, sprach er so für sich. »Ohne Methode keine Logik. Ohne Logik kein Gedanke an erwünschten Erfolg.«

Das Dokument enthielt hundert, in sechs Absätze getrennte Linien.

»Hm«, murmelte der Richter Jarriquez nach reiflicher Erwägung, »jeden Absatz einzeln zu studieren, wäre unnütze Zeitvergeudung. Es dürfte ja hinreichend sein, einen dieser Absätze vorzunehmen und dazu denjenigen auszuwählen, der aller Wahrscheinlichkeit nach das größte Interesse bietet. Das kann aber kein anderer sein als der letzte, welcher notwendigerweise ein Resümee des ganzen Inhalts oder doch die wichtigsten Aufschlüsse enthalten dürfte. Eigennamen möchten am geeignetsten sein, mich auf die rechte Spur zu leiten, zum Beispiel der Name Joam Dacosta selbst, und wenn derselbe in irgendeinem Teile des Dokuments vorkommt, wird er in dem letzten Absatze kaum fehlen können.«

Diese Schlußfolgerung des Beamten erschien logisch gerechtfertigt. Jedenfalls tat er recht daran, seinen Scharfsinn und seine Erfahrung in diesem Fache zuerst an dem letzten Absatze zu erproben.

Wir setzen denselben nochmals hierher, da es geboten erscheint, ihn dem Leser vor Augen zu führen, um daran zu zeigen, wie ein ergrauter Analytiker zuwegeging, um den Schleier zu lüften und die Geheimschrift in verständliche Worte zu übersetzen.

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Zunächst fiel dem Richter Jarriquez auf, daß die Zeilen Dokuments weder in Worte noch in Sätze abgeteilt waren und daß ihnen jede Interpunktion fehlte. Dieser Umstand mußte die Lesbarkeit desselben wesentlich erschweren.

»Ich will aber doch nachsehen«, sprach er für sich, »ob nicht nebeneinanderstehende Buchstaben schon verständliche Wörter bilden, zunächst solche Wörter, deren Konsonanten-Anzahl das Aussprechen von Silben überhaupt gestatten. Da sehe ich gleich zu Anfang die Silbe phy ... weiterhin das Wort gas ... Halt ... da kommt ujugi ... sollte man das nicht für den Namen einer bekannten afrikanischen Stadt am Ufer des Tanganyika ansehen? Was könnte aber diese Stadt mit der ganzen Sache zu tun haben? ... Da steht ferner das Wort ypo ... soll das griechisch sein? Endlich rym ... puy ... jox ... phetoz ... jyggay ... suz ... gruz ... und vorher red ... let ... aha, das sind zwei englische Wörter! Weiter ohe ... syk ... Sieh' da, noch einmal die Silbe rym und hier das Wort oto!«

Der Richter Jarriquez ließ das Blatt sinken und begann über seine Wahrnehmungen nachzudenken.

»Alle die Wörter«, murmelte er für sich, »die ich bei dieser summarischen Übersicht entdecke, geben keinerlei Aufschluß. Nichts deutet auf ihre Abstammung. Die einen sehen wie griechisch aus, andere wie holländisch, wieder andere erscheinen englisch, etliche haben gar keinen bestimmten Charakter, ganz davon abgesehen, daß dazwischen völlig unaussprechbare Konsonantenreihen vorkommen. Offenbar wird es nicht so leicht sein, den Schlüssel zu diesem Kryptogramm zu finden!«

Die Finger des Beamten begannen auf dem Schreibtisch eine Art Reveille zu trommeln, als wollte er seine schlummernde Geistestätigkeit dadurch erwecken.

»Zunächst will ich doch nachsehen, wie viele Buchstaben dieser Absatz enthält.«

Er zählte mit dem Bleistift in der Hand.

»Zweihundertsechsundsiebzig«, sagte er. »Schön! Nun wird es darauf ankommen, zu untersuchen, in welcher Anzahl die einzelnen Buchstaben vorkommen.«

Das machte eine längere Auszählung nötig. Der Richter Jarriquez hatte das Dokument wieder zur Hand genommen; darauf notierte er mit dem Bleistift jeden Buchstaben in alphabetischer Ordnung. Nach einer Viertelstunde hatte er folgende Tabelle erhalten:

       a =  3 mal
       b =  4  -
       c =  3  -
       d = 16  -
       e =  9  -
       f = 10  -
       g = 13  -
       h = 23  -
       i =  4  -
       j =  8  -
       k =  9  -
       l =  9  -
       m =  9  -
       n =  9  -
       o = 12  -
       p = 16  -
       q = 16  -
       r = 12  -
       s = 10  -
       t =  8  -
       u = 17  -
       v = 13  -
       x = 12  -
       y = 19  -
       z = 12  -

SUMME ... 276 mal.

»Aha«, fuhr der Richter in seinem Selbstgespräch fort, da fällt mir gleich etwas auf, nämlich, daß schon in diesem Satze allein alle Buchstaben des Alphabets vorkommen Das ist merkwürdig! Man nehme ein beliebiges Buch zur Hand; da wird man in so vielen Zeilen, welche zweihundertsechsundsiebzig Buchstaben enthalten, sehr selten darin alle Buchstaben des Alphabets vorfinden. Doch das könnte ja ein bloßer Zufall sein!«

Dann schlugen seine Gedanken eine andere Richtung ein. »Hm ... wichtiger erscheint es zu wissen«, brummte er weiter, »ob die Vokale zu den Konsonanten in richtigem Zahlenverhältnis stehen.«

Der Beamte nahm wieder den Bleistift und erhielt, als er die Vokale zusammenzählte, folgendes Resultat:

      a =  3 mal
      e =  9  -
      i =  4  -
      o = 12  -
      u = 17  -
      y = 19  -

SUMME ... 64 Vokale.

»In diesem Absatze befinden sich demnach«, fuhr er fort, »vierundsechzig Vokale gegen zweihundertzwölf Konsonanten! Nun, das ist ja das normale Verhältnis, das heißt etwa ein Fünftel, annähernd wie im Alphabet selbst, welches sechs Vokale auf fünfundzwanzig Buchstaben enthält. Das ließe vermuten, daß das Dokument in unserer Landessprache abgefaßt, aber für jeden Buchstaben irgendein anderer gesetzt wäre. Ist diese Veränderung nun einfach durchgeführt, steht zum Beispiel an Stelle eines b allemal ein l, für ein o ein v, für g ein k, für u ein r und so weiter, so will ich meine Stellung als Richter in Manao dagegen einsetzen, daß es mir gelingt, das Dokument zu lesen. Ich habe ja einfach nach der Methode zu verfahren, welche das große analytische Genie, das sich Edgar Allan Poe nennt, angegeben hat!«

Der Richter Jarriquez spielte mit diesen Worten auf eine Novelle des berühmten amerikanischen Schriftstellers an, der in seinem »The Gold Bug« ein vielgelesenes Meisterwerk geliefert hat.

In dieser Novelle wird eine aus Ziffern, Buchstaben, algebraischen Zeichen, Sternchen, Punkten und Kommas zusammengesetzte Geheimschrift einer höchst sinnreichen mathematischen Untersuchungsmethode unterworfen und auf wirklich überraschende Weise entziffert, was die Verehrer dieses scharfsinnigen Autors nicht vergessen haben dürften.

Von der Entzifferung jenes amerikanischen Dokuments hing freilich nur die Auffindung eines Schatzes ab, während es sich hier um Leben und Ehre eines Menschen handelte. Die Entdeckung des Schlüssels bot also in unserem Falle entschieden mehr Interesse.

Der Beamte, der »seinen« Gold Bug (Goldkäfer) wiederholt gelesen hatte, war mit dem sorgsam befolgten analytischen Verfahren Edgar Poes hinreichend bekannt und beschloß, sich desselben bei dieser Gelegenheit zu bedienen. Durch Anwendung desselben mußte es, wie er geäußert, wenn die Buchstaben eine gleichbleibende Bedeutung hatten, über kurz oder lang gelingen, das auf Joam Dacosta bezügliche Dokument zu lesen.

»Wie ging Edgar Poe denn zuwege?« fragte er sich. »Zunächst überzeugte er sich, welches Zeichen - hier gibt es keine anderen als Buchstaben - sagen wir also gleich, welcher Buchstabe am häufigsten in dem Kryptogramm wiederkehrt. Hier ergibt sich als solcher der Buchstabe h, welcher dreiundzwanzigmal vorkommt. Schon dieses auffällige überwiegen beweist a priori, daß dieses h nicht dem gewöhnlichen h der Schrift, sondern daß es demjenigen Buchstaben entspricht, der in unserer Sprache am häufigsten vorkommt, da ich doch wohl voraussetzen darf, daß das Dokument in portugiesischer Sprache abgefaßt ist. Im Englischen und Französischen wäre das zweifellos e, im Italienischen i oder a, im Portugiesischen müßte es a oder o sein. Nehmen wir also, uns eine spätere Berichtigung vorbehaltend, an, daß h hier a oder o bedeute.«

Nun machte sich der Beamte daran, festzustellen, welcher Buchstabe nach dem h am häufigsten vorkam, und erhielt, indem er das ganze Alphabet in diesem Sinne ordnete, folgende Tabelle:

          h = 23 mal
          y = 19  -
          u = 17  -
      d p q = 16  -
        g v = 13  -
    o r x z = 12  -
        f s = 10  -
  e k l m n =  9  -
        j t =  8  -
        b i =  4  -
        a c =  3  -

»Aha, der Buchstabe a«, rief der Richter, »der am häufigsten auftreten sollte, findet sich nur dreimal vor. Das beweist zum Überfluß noch einmal, daß die Bedeutung der Buchstaben verändert ist. Doch nun, welche sind nach a und o diejenigen Buchstaben, die in unserer Sprache am häufigsten vorkommen? Wollen doch nachsehen!« Mit wirklich bewundernswertem Scharfsinn, der seiner Beobachtungsgabe ein vorzügliches Zeugnis ausstellte, vertiefte sich der Richter Jarriquez in diese neue Untersuchung. Er ahmte damit den berühmten amerikanischen Schriftsteller nach, der - ein geborener Analytiker - durch einfache Induktion und Wahrscheinlichkeitsrechnung dahin gelangte, sich ein Alphabet zu rekonstruieren, das den Zeichen der Geheimschrift entsprach und es ihm ermöglichte, dieselbe ohne Anstoß zu lesen.

Ganz ähnlich verfuhr der Beamte, und man muß ihm das Zeugnis geben, daß er hinter seinem berühmten Vorbilde keineswegs zurückblieb. Da er sich mit Logogriphen, Quadrat- und anderen Rätseln, welche auf eine willkürliche Verstellung von Buchstaben hinauslaufen, vielfach beschäftigt und sich gewöhnt hatte, deren Lösung aus dem Kopfe oder mit der Feder in der Hand zu finden, so brachte er für diese Arbeit eine mehr als gewöhnliche Vorübung mit.

Es ward ihm also auch jetzt nicht schwer, festzustellen, welche Reihenfolge die einzelnen Buchstaben, erst die Vokale, dann die Konsonanten, der Häufigkeit ihres Vorkommens nach einnahmen. Nach Verlauf von drei Stunden hatte er ein Schema vor Augen, das ihm, die Richtigkeit seines Verfahrens vorausgesetzt, die wirkliche Bedeutung der in dem Dokument vorkommenden Buchstaben angeben mußte.

Es blieb ihm jetzt nur übrig, unter die letzteren die Buchstaben nach seinem Schema zu setzen.

Als er jedoch daranging, das zu tun, hinderte ihn eine gewisse Erregung an der Ausführung. Den Richter Jarriquez durchschauerte eine Art wohlverdienter Freude, wie jeden, der nach mehreren Stunden mühevoller Arbeit den sehnlichst gesuchten Sinn eines Logogriphs vor seinem geistigen Auge allmählich aufdämmern sieht.

»Nun denn, legen wir die letzte Hand an«, ermahnte er sich selbst. »Es wäre doch sonderbar, wenn ich die richtige Lösung nicht gefunden hätte!«

Der Richter Jarriquez nahm die Brille ab, putzte sorgfältig die Gläser und setzte jene wieder auf der Nase zurecht; dann beugte er sich von neuem über den Schreibtisch.

Sein Spezial-Alphabet in der Hand neben dem Dokument, begann er zu schreiben und setzte die seiner Meinung nach richtigen Buchstaben unter die der ersten Zeile der Geheimschrift.

Nach der ersten Linie verfuhr er in gleicher Weise mit der zweiten, dann ebenso mit der dritten, mit der vierten, und gelangte so bis zum Ende des Absatzes.

Während des Schreibens vermied er es absichtlich, zu prüfen, ob diese Vereinigung von Buchstaben verständliche Worte ergab. Er hätte ja ein Stümper in seinem Fache sein müssen, wenn das zuletzt nicht der Fall wäre. Nein - er geizte nach dem Vergnügen, den ganzen Absatz flottweg und in einem Atemzuge zu lesen.

Er war fertig.

»Nun wollen wir lesen!« rief er.

Er las.

Großer Gott, welche Mißlaute! Die von ihm mit Hilfe seines Alphabets gebildeten Zeilen hatten gerade so wenig Sinn und Verstand wie jene des Dokuments. Sie bildeten eine andere Reihe von Buchstaben, weiter nichts, jedenfalls keine Wörter, keinen verständlichen Satz. Kurz, seine Niederschrift erschien nicht minder hieroglyphisch als das ursprüngliche Kryptogramm.

»Alle Wetter und Teufel!« brummte der Richter Jarriquez bei dieser beschämenden Enttäuschung vor sich hin.