Jules Verne

Die Jangada, zweiter Teil


Vierzehntes Kapitel

Ganz nach Belieben!

Inzwischen hatte sich in der öffentlichen Meinung bezüglich des verurteilten Joam Dacosta ein völliger Umschwung vollzogen. Anstelle der Erbitterung war das Mitleid getreten. Jetzt strömte die Bevölkerung Manaos nicht mehr vor dem Gefängnisse zusammen, um den Tod des Fazenders zu verlangen. Im Gegenteil erklärten nun diejenigen, welche ihn früher am lautesten verdammten und von seiner Schuld bezüglich des Verbrechens in Tijuco überzeugt waren, mit demselben Ungestüm, daß er sofort auf freien Fuß gesetzt werden sollte - wie die große Menge ja gewöhnlich von einem Extrem zum anderen überzuspringen pflegt.

An Gründen für die Meinungsänderung fehlte es freilich nicht.

Die Ereignisse der letzten beiden Tage, der Zweikampf zwischen Benito und Torres, die Aufsuchung des unter so merkwürdigen Umständen wieder ans Licht gekommenen Leichnams, die Auffindung des, wenn man so sagen darf, »undechiffrierbaren« Dokuments, der Zeilen, von denen man überzeugt war oder sich doch die Überzeugung einredete, daß sie den materiellen Beweis der Schuldlosigkeit Joam Dacostas enthielten, da das Schriftstück von dem wahren Schuldigen ausging - alles hatte dazu beigetragen, diesen Umschwung der öffentlichen Meinung herbeizuführen. Was man noch vor achtundvierzig Stunden wünschte und mit Ungeduld erwartete, nämlich das Eintreffen der Instruktion von Rio de Janeiro, das fürchtete man jetzt ebenso ängstlich.

Lange konnte es ja bis dahin nicht dauern.

Joam Dacosta war am 24. August verhaftet und am nächsten Tage verhört worden. Der Bericht des Beamten wurde am 26. abgesendet. Binnen drei bis höchstens vier Tagen mußte der Minister eine Entscheidung bezüglich des Verurteilten fällen, und es schien nur zu gewiß, daß »die Gerechtigkeit ihren Lauf haben werde«.

In der Tat zweifelte daran niemand. Daß der Nachweis der Unschuld Joam Dacostas sich aus dem Dokument ergeben werde, daran zweifelte auch andererseits niemand, weder seine Familie noch die Einwohnerschaft Manaos, welche allen Phasen dieses Dramas mit größter Spannung folgte.

Und doch konnte jenes Dokument in den Augen nichtinteressierter und unparteiischer Beurteiler, welche nicht unter dem Eindruck der Ereignisse standen, eigentlich gar keinen Wert beanspruchen, vorzüglich da ja nicht einmal der Beweis erbracht war, daß es sich überhaupt auf den Überfall im Diamantendistrikt beziehe. Daß es existierte, war freilich unzweifelhaft, ebenso, daß man es an Torres' Leichnam gefunden hatte. Weiter ließ sich durch Vergleichung des Briefes, in dem Torres Joam Dacosta denunziert hatte, nachweisen, daß jenes nicht von der Hand des Abenteurers abgefaßt sein könne. Dagegen warf der Richter Jarriquez freilich mit Recht ein, wie damit keineswegs die Annahme ausgeschlossen sei, daß der Elende es habe zu betrügerischen Zwecken von einem anderen anfertigen lassen. Das wurde noch mehr dadurch bekräftigt, daß er dasselbe erst nach der Vermählung mit der Tochter des Fazenders hatte ausliefern wollen, d. h. erst dann, wenn an dem Geschehenen nichts mehr zu ändern wäre.

Auf jeden Fall konnte man über den Wert des Dokuments sehr abweichende Anschauungen haben, ein Umstand, welcher die Erhitzung der Gemüter nur noch begünstigte. Die Lage Joam Dacostas war und blieb ohne Zweifel eine sehr gefährliche. Wurde das Dokument nicht enträtselt, so war es so gut wie nicht vorhanden, und gelang die Lösung dieser außerordentlichen kryptographischen Aufgabe nicht binnen drei Tagen, so schien die Hinrichtung des in Tijuco Verurteilten unausweichlich.

Die Wundertat der Lösung wollte ein Mann vollbringen; dieser Mann war niemand anderer als der Richter Jarriquez, und jetzt arbeitete er mehr im Interesse Joam Dacostas als zur Befriedigung seiner eigenen Liebhaberei. Auch seine Ansicht von der Sache hatte sich vollständig geändert. Bot jener Mann, der sein Versteck in Iquitos freiwillig verließ, der sich selbst auf die Gefahr seines Lebens hin stellte, um von einem Gerichtshofe Brasiliens seine Rehabilitation zu verlangen, nicht ein moralisches Rätsel, welches für seine Unschuld mehr sprach als manche andere Beweise? Das Dokument wollte der Beamte jedenfalls nicht aus der Hand legen, bis er den Schlüssel dazu gefunden hatte; er ging in diesem Streben vollständig auf; er aß nicht mehr, er schlief nicht mehr - jede Minute seiner Zeit verwandte er dazu, Zahlen zu kombinieren und auf Grund derselben den Schlüssel zu diesem Schlosse zu finden.

Am Ende des ersten Tages war dieser Gedanke im Gehirn des Richters Jarriquez schon zur fixen Idee geworden. In seinem Innern kochte eine nur schlecht verhehlte Wut, vor welcher sein ganzes Haus zitterte. Seine weißen oder schwarzen Diener wagten gar nicht mehr, ihm näher zu kommen. Zum Glück war er ein alter Hagestolz, sonst hätte Frau Jarriquez jetzt gewiß bitterböse Stunden gehabt. Noch niemals hatte ein Problem dieses Original von einem Richter so lebhaft interessiert, und er war entschlossen, nicht eher nachzulassen, als bis ihm die Lösung gelungen war, vorausgesetzt, daß sein Kopf nicht sprang wie ein Kessel unter dem Drucke des zu hoch gespannten Dampfes.

Bei dem würdigen Beamten stand es jetzt unerschütterlich fest, daß der Schlüssel eine zwei- oder mehrzifferige Zahl bilde, daß aber diese Zahl auf keine Weise durch Deduktion zu finden sei.

Gerade das versuchte der Richter Jarriquez aber mit einer wirklichen Wut, und an diese übermenschliche Arbeit verschwendete er am 28. August alle seine Erfahrung und Fähigkeiten.

Jene Zahl durch Probieren zu finden, das hieß, wie er gesagt hatte, sich in Millionen Kombinationen verlieren, welche mehr als die Lebenszeit eines Rechners ersten Ranges in Anspruch genommen hätten. Wenn man auf die Hilfe des Zufalls aber kaum zählen durfte, konnte man nicht durch Räsonnement auf die richtige Fährte gelangen? Nein, aller Wahrscheinlichkeit auch das nicht, obwohl der Richter Jarriquez, nachdem er sich wenige Stunden Schlaf gegönnt, bis zur Unvernunft räsonnierte und Möglichkeiten erwog.

Wer ihn jetzt, unter Hintansetzung seines strengen Verbotes, ihn ungestört zu lassen, gesehen hätte, würde ihn noch immer vor seinem Schreibtische mit den Augen auf dem Dokument gefunden haben, während ganze Tausende von Zahlen ihm um den Kopf zu schwirren schienen.

»Zum Teufel«, rief er, »warum hat der Schurke, der diese Zeilen schrieb, nicht wenigstens die Wörter seiner Linien abbegrenzt, dann könnte man doch ..., ja, ja, dann wär's möglich ..., aber nein! Und dann, wenn in diesem Schriftstücke wirklich von dem Diamantendiebstahle die Rede ist, erscheint es ganz unmöglich, daß sich gewisse Wörter nicht darin vorfinden sollten, wie z. B. Arryal, Diamanten, Tijuco, Dacosta und andere, was weiß ich! Und wenn man unter diese ihre kryptographischen Stellvertreter setzte, müßte es gelingen, die untergelegte Zahl zu rekonstruieren. Aber nein, nicht eine einzige Trennung. Ein Wort, hätte ich nur ein einziges Wort, nur eines aus diesen zweihundertsechsundsiebzig Buchstaben! Zweihundertsechsundsiebzigmal soll ihn der Teufel holen, diesen Wicht, der sein System so spitzbübisch zu komplizieren wußte! Schon für diesen einen Schurkenstreich verdiente er zweihundertsechsundsiebzigmal den Kopf zu verlieren!«

Ein kräftiger Faustschlag auf das Dokument bekräftigte diesen menschenfreundlichen Wunsch.

»Und doch«, fuhr der Beamte fort, »wenn ich kaum erwarten darf, mit einem Worte mitten aus dem Texte des Schriftstückes etwas zu erreichen, könnte sich nicht ein geeignetes am Anfänge oder am Ende jedes Absatzes finden? Vielleicht ist das ein Ausweg!«

Der Richter Jarriquez machte sich sofort an diesen Versuch und prüfte die Buchstaben zu Anfang und zu Ende jedes Satzes im Verhältnis zu dem wichtigsten Worte des ganzen Dokuments, nämlich zu dem Namen Dacosta.

Auch das führte ihn aber nicht näher zum Ziele.

Um nur von dem letzten Absatze und den sieben ersten Buchstaben desselben zu sprechen, so ergab sich folgende Tabelle:

     P = D
     h = a
     y = c
     j = o
     s = s
     l = t
     y = a

Schon das allererste Schriftzeichen paßte nicht in des Richters Berechnungssystem, denn der Unterschied zwischen p und d im Alphabet ergab nicht eine Ziffer, sondern zwei, nämlich 12, und bei dieser Art von Geheimschrift konnte jeder Buchstabe natürlich nur durch einen einzigen anderen ersetzt werden.

Das gleiche ergaben die sieben letzten Buchstaben des Absatzes p s u v j h d, deren Reihe ebenfalls mit einem p anfing, welches auf keinen Fall dem D des Namen Dacosta substituiert sein konnte, weil es ja denselben Abstand von 12 Buchstaben hatte.

Dieser Name konnte sich an beiden Stellen unmöglich vorfinden.

Mit den Wörtern Arrayal und Tijuco, welche er nach und nach probierte und deren Zusammensetzung wiederum nicht der überhaupt möglichen Reihe kryptographischer Buchstaben entsprach, kam er ebenfalls nicht weiter.

Nach dieser fruchtlosen Mühe erhob sich der Richter Jarriquez; ihm schwirrte es im Kopfe, sodaß er im Zimmer auf und ab ging. Dann öffnete er das Fenster, um frische Luft zu schöpfen, und stöhnte hinaus ins Freie mit einer Gewalt, daß eine ganze Schar Kolibris aus der Mimose, in der sie rasteten, erschreckt entfloh; hierauf kehrte er wieder zu dem verwünschten Dokument zurück.

Er nahm es in die Hand und drehte und wendete es nach allen Seiten.

»Der Spitzbube, der Schurke!« brummte er für sich, »er wird mich noch rein verrückt machen! Aber halt, halt! Ruhe im Gliede! Nicht die Besonnenheit verlieren, das wäre jetzt das Schlimmste!«

Um weitersinnen zu können, wusch er sich den Kopf tüchtig mit kaltem Wasser.

»Nun werde ich die Sache vom anderen Ende anfangen«, sagte er; »da ich nicht imstande bin, eine Zahl aus diesen verdammten Buchstaben abzuleiten, so will ich doch nachdenken, welche Zahl der Verfasser des Dokuments, wenn er wirklich der Urheber des Verbrechens von Tijuco ist, wohl hätte wählen können.«

Das war eine andere Methode, auf welche der Beamte kam, und vielleicht keine so unrechte, denn eine gewisse Logik war ihr nicht abzusprechen.

»Zuerst«, fuhr er fort, »wollen wir's mit einer Zahl in den einfachen Tausenden probieren. Warum sollte der Übeltäter z. B. nicht die Zahl des Geburtsjahres Joam Dacostas, jenes Unschuldigen, den er an seiner Statt verurteilen ließ, als Unterlage gewählt haben? Nun, Joam Dacosta ist im Jahre 1804 geboren. Sehen wir zu, was diese 1804 ergibt, wenn ich sie der Schrift unterlege.«

Der Richter Jarriquez schrieb die ersten Buchstaben des Absatzes nieder, darüber entsprechend die Zahl 1804, welche er dreimal wiederholte, und erhielt dadurch folgendes:

	1804	1804	1804
	phyj	slyd	dqfd

Zählte er dann so viele Buchstaben zurück, wie jede Ziffer bedingte, so ergab das folgende Reihe:

	o.yf	rdy.	cif.

welches wiederum nichts bedeutete.

Und dazu fehlten ihm gar noch drei Buchstaben, die er hatte durch Punkte andeuten müssen, weil die Ziffern 8, 4 und 4, welche über den Buchstaben h, d und d standen, im Alphabet nach rückwärts gezählt keinen Buchstaben ergaben.

»Das war also auch nichts!« rief der Richter Jarriquez. »Versuchen wir's also mit einer anderen Zahl!«

Er kam auf den Einfall, daß der Verfasser des Dokuments ja vielleicht die Zahl des Jahres hätte nehmen können, in welchem das Verbrechen begangen wurde.

Das war 1826.

Das nämliche Verfahren wie oben ergab nun folgendes:

	1826	1826	1826
	phgj	slyd	dqfd

Und daraus wurde durch Rechnung:

	o.vd	rdv.	cid.

Also nochmals eine sinnlose Reihe, in der ebenfalls einzelne Buchstaben wie in der früheren und aus derselben Ursache fehlten.

»Verwünschte Zahl!« schrie der Beamte wütend. »Mit dieser ist also auch nichts anzufangen. Nun, so gehen wir an eine andere! Sollte der Wicht vielleicht die Anzahl der gestohlenen Contos gewählt haben?«

Der Wert der geraubten Diamanten war auf 834 Contos [1.250.000 Mark] geschätzt worden.

Die Aufstellung nach dieser Formel ergab nun folgende Reihe:

	834	834	834	834
	phy	jsl	ydd	qfd

und als gleich unsinniges Resultat wie die vorigen Versuche:

     het lph pa. ic.

»Zum Teufel mit dem Dokument und mit dem Verfasser desselben!« rief der Richter und warf das Papier zur Erde, daß es bis in die andere Ecke des Zimmers flog. »Da verlöre ja ein Heiliger die Geduld und lernte schimpfen und wettern dabei!«

Diese Aufwallung von Zorn ging jedoch vorüber, und der unermüdliche Beamte nahm das Papier aufs neue zur Hand. Was er mit den ersten Buchstaben jedes Absatzes versucht hatte, das probierte er nun mit den letzten - vergebens! Alles, was ihm in den Sinn kam, wurde versucht. So kamen nacheinander an die Reihe die Zahl der Lebensjahre Joam Dacostas, welche der Urheber des Verbrechens wohl kennen mußte, das Datum seiner ersten Verhaftung, das seiner Verurteilung in Villa Rica, der Monatstag, der zu seiner Hinrichtung bestimmt war usw., usw., bis auf die Zahl der Opfer jenes Überfalles bei Tijuco.

Nichts, immer noch nichts!

Der Richter Jarriquez befand sich jetzt in einer Aufregung, welche wirklich für seine geistigen Fähigkeiten fürchten ließ. Er arbeitete mit Händen und Füßen, als hätte er einen Gegner vor sich, dem er den Garaus machen wollte.

»Nun, so überlaß ich's dem Zufall und der Himmel mag helfen, da mich die Logik im Stiche läßt!«

Schnell riß er an einer Klingelschnur, die über dem Schreibtisch hing. Die Klingel ertönte laut; der Beamte ging zur Tür und öffnete diese.

»Bobo!« rief er hinaus.

Einige Augenblicke vergingen.

Bobo, ein freigelassener Schwarzer und Leibdiener des Richters, erschien aber nicht. Offenbar wagte Bobo jetzt nicht, das Zimmer seines Herrn zu betreten.

Ein neuer Zug mit der Klingel. Wieder tönte Bobos Name durch das Haus, aber der Diener glaubte in seinem Interesse zu handeln, wenn er jetzt den Tauben spielte.

Jetzt riß der Beamte noch ein drittes Mal an der Schnur, aber so heftig, daß dieselbe in Stücke ging. Nun erschien Bobo.

»Was wünscht mein Herr?« fragte er, vorsichtig auf der Türschwelle stehenbleibend.

»Vorwärts, hereintreten, nicht gemuckst!« antwortete der Beamte, dessen Flammenblicke den armen Kerl erzittern machten.

Bobo schritt ins Zimmer.

»Bobo«, begann der Richter, »paß wohl auf, was ich dir sage, und antworte augenblicklich, ohne einen Augenblick zu überlegen, oder ich ...«

Bobo riß die Augen und sperrte den Mund auf, stand aber stramm da, wie ein Soldat ohne Waffen, und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

»Bist du bei der Sache?« fragte sein Herr.

»Vollkommen!«

»Nun paß auf! Sage mir, ohne zu wählen, - verstehst du mich? - die erste beste Zahl, die dir der Zufall eingibt.«

»Sechsundsiebzigtausendzweihundertdreiundzwanzig!« antwortete Bobo in einem Atemzuge.

Bobo mochte glauben, seinem Herrn einen Gefallen zu erweisen, wenn er eine recht hohe Zahl nannte.

Der Richter Jarriquez war inzwischen zum Schreibtische gelaufen, hatte den Bleistift ergriffen und versuchte es nun mit der Zahl, welche Bobo auf gut Glück ausgesprochen hatte.

Der Leser sagt sich gewiß selbst, wie wenig Wahrscheinlichkeit dafür vorlag, daß gerade diese Zahl 76223 den richtigen Schlüssel des Dokuments ergeben werde. Es kam auch kein anderes Resultat heraus, als daß Jarriquez' Lippen einen furchtbaren Fluch herausstießen, der Bobo veranlaßte, über Hals und Kopf Fersengeld zu zahlen.