Jules Verne

Die Jangada, zweiter Teil


Achtzehntes Kapitel

Fragoso

Die Entscheidung war also eingetroffen und enthielt, wie der Richter Jarriquez vorausgesehen hatte, den Befehl zur sofortigen Vollziehung des Todesurteils an Joam Dacosta. Niemand hatte einen wirklichen Beweis seiner Unschuld beizubringen vermocht - die Gerechtigkeit sollte ihren Lauf haben.

Am folgenden Tage, am 31. August morgens neun Uhr, sollte der Gefangene am Galgen sterben.

Die Todesstrafe wird gerade in Brasilien meist umgewandelt, außer wenn es sich um verurteilte Schwarze handelt; diesmal sollte sie jedoch einen Weißen treffen.

Für Verbrechen, welche sich auf das Diamantenregal der Regierung beziehen, schloß das Gesetz von vornherein jedes Gnadenmittel aus.

Joam Dacosta konnte nichts mehr retten. Er sollte nicht allein das Leben, sondern auch die Ehre verlieren.

An jenem Morgen des 31. August stürmte jedoch ein Mann, so schnell das Pferd ihn tragen konnte, auf Manao zu; eine halbe Meile vor der Stadt brach das Tier erschöpft zusammen.

Der Reiter machte gar keinen Versuch, es wieder auf die Beine zu bringen. Er hatte es offenbar über die Maßen angestrengt und ließ es liegen, während er selbst, trotz seiner Erschöpfung, weiter nach der Stadt hin eilte.

Dieser Mann kam auf dem linken Ufer des Stromes aus den Provinzen des Ostens. Alles was er besaß, hatte er auf den Ankauf des Pferdes verwendet, das ihn schneller als ein Boot, welches die Strömung des Amazonenstromes gegen sich gehabt hätte, nach Manao bringen mußte.

Das war Fragoso.

Hatte der mutige Bursche etwa Erfolg gehabt von seinem, gegen alle geheimgehaltenen Unternehmen, und die Miliz gefunden, der Torres früher einmal angehörte? Hatte er das Geheimnis entdeckt, das Joam Dacosta vielleicht noch retten konnte?

Er vermochte sich zwar selbst keine Rechenschaft zu geben, doch eilte er so schnell wie möglich, dem Richter Jarriquez von dem Mitteilung zu machen, was er durch seinen Ausflug erfahren hatte.

Wir teilen mit kurzen Worten das Notwendigste hiervon mit.

Fragoso hatte sich nicht getäuscht, als er in Torres ein Mitglied jener Miliz erkannte, welche in den Uferländern am Madeira operierte.

Er brach dahin auf und vernahm, als er an die Mündung jenes Nebenflusses kam, daß der Chef jener Capitaës do mato sich in der Nähe aufhalte.

Unverzüglich ging Fragoso daran, diesen aufzusuchen, und es gelang ihm, nicht ohne Mühe, denselben zu entdecken.

Der Anführer der Waldkapitäne zögerte nicht, die Fragen zu beantworten, welche Fragoso an ihn richtete; er hatte ja nicht das geringste Interesse daran, die verlangte Aufklärung zu verweigern.

Fragoso stellte nämlich folgende drei Fragen an ihn:

»Gehörte der Waldkapitän Torres noch vor einigen Monaten zu Ihrer Miliz?«

»Ja.«

»Pflegte er damals nicht vertrauten Umgang mit einem Kameraden, der inzwischen verstorben ist?«

»Ganz richtig.«

»Und wie hieß dieser?«

»Ortega.«

Das war alles, was Fragoso erfuhr. Konnten diese Nachrichten geeignet sein, die schlimme Lage Joam Dacostas zu bessern? Diese Frage wäre wohl jeder geneigt zu verneinen.

Fragoso fühlte das auch selbst und bemühte sich, von dem Chef der Miliz noch zu erfahren, ob er jenen Ortega näher gekannt, ob er gewußt habe, woher jener kam und ob er ihm vielleicht Ausführlicheres über dessen Vergangenheit mitteilen könnte. Es erschien ihm das von Wichtigkeit, weil dieser Ortega nach Torres' Aussagen wahrscheinlich der wirkliche Urheber des Verbrechens von Tijuco war.

Leider sah sich der Befehlshaber außerstande, ihm weitere Aufklärung zu geben.

Unzweifelhaft war nur, daß jener Ortega der Miliz schon seit einer langen Reihe von Jahren angehörte, daß zwischen ihm und Torres ein besonders vertrautes Verhältnis herrschte und daß letzterer an seinem Lager stand, als er den letzten Seufzer aushauchte.

Mehr konnte der Chef der Miliz nicht aussagen.

Fragoso mußte sich mit diesen unzulänglichen Mitteilungen begnügen und begab sich sofort auf den Rückweg.

Brachte er auch nicht den Beweis mit, daß jener Ortega der Urheber des Diamantenraubes war, so ergab sich aus seinen Erkundigungen doch, daß Torres die Wahrheit gesagt hatte, als er behauptete, daß einer seiner Kameraden gestorben und er Zeuge seiner letzten Augenblicke gewesen sei.

Auch die Annahme, daß Ortega ihm das fragliche Dokument übergeben habe, gewann hierdurch an Wahrscheinlichkeit, ebenso, daß dasselbe sich auf den Überfall bei Tijuco beziehe und daß es das Geständnis der Schuld jenes Ortega enthalte, mit Angabe von Umständen, welche jeden Zweifel daran auslöschten.

Es lag also auf der Hand, daß die Wahrheit endlich an den Tag kommen mußte, wenn jenes Dokument gelesen werden konnte, wenn der Schlüssel dazu gefunden wurde, wenn die Chiffre, auf der es beruhte, bekannt war.

Diese Chiffre kannte Fragoso freilich nicht. Einige Wahrscheinlichkeiten mehr, die halbe Gewißheit, daß der Abenteurer nicht nur erfunden hatte, gewisse Andeutungen dafür, daß das so lange über der ganzen Affäre ruhende Geheimnis durch das Schriftstück entschleiert werden könne, das war alles, was der wackre Bursche von seinem Besuche bei dem Anführer der Miliz, der Torres angehört hatte, mit heimbrachte.

So wenig das auch war, es ließ ihm doch keine Ruhe, bis er es dem Richter Jarriquez mitgeteilt hatte. Er wußte, daß jetzt keine Stunde zu verlieren sei, und so kam er an jenem Morgen um acht Uhr, von Anstrengung ganz außer Kräften, eine halbe Meile vor Manao an. Den kurzen Weg bis nach der Stadt legte er in wenigen Minuten zurück. Eine Art Vorgefühl trieb ihn weiter, und er hatte sich fast eingeredet, daß die Rettung Joam Dacostas jetzt in seinen Händen liege.

Plötzlich hielt Fragaso an, als ob seine Füße in der Erde wurzelten.

Er befand sich vor einem kleinen Platze, nach dem hin eines der Stadttore mündete.

Hier erhob sich, zwanzig Fuß höher als die dichtgedrängte Volksmenge auf dem Platze, ein Galgen, von dem der Strick herabhing.

Fragoso fühlte, wie seine letzten Kräfte schwanden. Er brach zusammen. Unwillkürlich hatten seine Augen sich geschlossen. Er wollte nichts sehen, und über seine Lippen drangen nur die Worte:

»Zu spät! Zu spät!«

Mit übermenschlicher Kraft erhob er sich noch einmal. Nein, es schien doch nicht zu spät. Der Körper Joam Dacostas hing noch nicht an jenem Stricke.

»Wo ist der Richter Jarriquez? Der Richter Jarriquez!« rief Fragoso, so laut er konnte.

Atemlos stürmte er auf das Stadttor zu, lief gleich einem Wahnsinnigen durch die Straßen von Manao und fiel halbtot vor dem Hause des Beamten nieder.

Die Tür war geschlossen. Fragoso gewann noch die Kraft zu klopfen.

Ein Diener öffnete. Sein Herr wollte niemanden sehen, niemanden sprechen.

Trotz dieser bestimmten Aussage stieß Fragoso den Mann zurück, der ihm den Eingang wehrte und eilte nach dem Privatkabinett des Richters.

»Ich kehre eben aus der Gegend zurück, wo Torres als Waldkapitän gedient hat«, rief er. »Torres hat die Wahrheit gesagt, Herr Richter - verschieben Sie die Hinrichtung um Gottes willen!«

»Sie haben Mitglieder jener Miliz gefunden?«

»Ja.«

»Und bringen mir die Chiffre zu jenem Dokument? ...«

Fragoso gab keine Antwort.

»Nein? - So lassen Sie mich in Ruhe, weichen Sie von hier!« rief der Richter Jarriquez, der in einem Anfalle von Wut das Dokument ergriff, um es zu zerreißen.

Fragoso faßte seine Hand und hinderte ihn daran.

»Es enthält die Wahrheit!« sagte er.

»Ich weiß es«, erwiderte der Beamte, »aber was nützt eine Wahrheit, wenn sie nicht an den Tag kommt!«

»Sie wird ..., sie muß an den Tag kommen!«

»Noch einmal, besitzen Sie den Schlüssel?«

»Nein«, antwortete Fragoso, »doch ich wiederhole Ihnen, Torres hat nicht gelogen! ... Einer seiner Kameraden, mit dem er sehr befreundet war, ist vor wenigen Monaten gestorben, und es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser ihm das Dokument ausgehändigt hat, das er an Joam Dacosta verhandeln wollte.«

»Gewiß«, sagte auch Jarriquez, »für uns unterliegt das keinem Zweifel, aber leider urteilen diejenigen, welche über das Leben Joam Dacostas zu verfügen haben, nicht ebenso! ... Lassen Sie mich!«

Obwohl er Fragoso zurückdrängte, wollte dieser das Feld noch nicht räumen. Er umklammerte die Füße des Beamten.

»Joam Dacosta ist unschuldig!« rief er. »Sie können ihn nicht sterben lassen! Er war es nicht, der das Verbrechen von Tijuco beging. Es war der Waffengefährte Torres', der Verfasser des Dokumentes, Ortega war es!«

Bei Nennung dieses Namens sprang der Richter in die Höhe. Als er nach der ersten Aufwallung seine Ruhe wiedergewann, nahm er das schon zerknitterte Dokument nach einmal zur Hand, breitete es auf dem Tische aus, setzte sich nieder und strich mit der Hand über die Stirn.

»Halt, dieser Name!« sagte er, »... Ortega! ... Versuchen wir es mit diesem!«

Wieder verfuhr er nun mit dem von Fragoso vernommenen Namen ebenso, wie mit allen früher probierten. Nachdem er denselben unter die ersten sechs Buchstaben des letzten Absatzes geschrieben, erhielt er folgende Formel:

	O r t e g a
	P h y j s l

»Nichts!« rief er, »das ergibt auch nichts!«

In der Tat ließ sich das h unter dem r nicht durch eine Ziffer ausdrücken, da ersteres dem letzteren vorausgeht.

Das p, das y und das j unter die Buchstaben o, t und e gesetzt, hätten die Ziffer 1, 4 und 5 ergeben.

Das s und l am Ende obiger Reihe wären vom g und a um zwölf Stellen entfernt gewesen, die durch eine einzige Ziffer nicht ausdrückbar waren. Sie konnten also dem g und a unmöglich entsprechen.

Da erschollen von der Straße laute Rufe hinauf.

Fragoso stürzte, bevor der Beamte ihn daran hindern konnte, an eines der Fenster und riß dasselbe auf.

Vor dem Hause wogte eine unübersehbare Menschenmenge. Es war die Stunde herangekommen, wo der Gefangene den Kerker verlassen sollte, und die erhitzten Massen strömten jetzt von dem Platze herbei, wo der Galgen errichtet war.

Der Richter Jarriquez verzehrte die Zeilen des Dokumentes noch immer mit den Augen.

»Die letzten Buchstaben«, murmelte er, »versuchen wir es mit diesen!«

Hieran knüpfte er seine letzte Hoffnung.

Mit zitternder Hand, so daß er kaum zu schreiben vermochte, setzte er den Namen Ortega über die letzten sechs Buchstaben des Absatzes, wie er es eben mit den ersten ausgeführt hatte.

Da entfuhr ihm ein Schrei. Er hatte sich gleich von vornherein überzeugt, daß diese letzten sechs Buchstaben im Alphabet alle hinter denen folgten, welche jenen Namen bildeten, daß man für die Differenz der Stellung also gewisse Ziffern finden und daraus eine Zahl bilden konnte.

Als er auf diese Weise verfuhr, erhielt er folgendes:

     O r t e g a
     4 3 2 5 1 3
     S u v j h d

Die gefundene Zahl war also 432513.

Sollte das wirklich diejenige sein, welche der Umgestaltung der gewöhnlichen Schrift in Geheimschrift untergelegt worden war? Oder erwies sie sich ebenso falsch, wie alle bisher geprüften?

Da wurde es noch lauter vor der Wohnung; aus der Menge rief man um Gnade für den Verurteilten, und doch hatte dieser jetzt nur noch wenige Minuten zu leben. In seiner Verzweiflung eilte Fragoso aus dem Zimmer - er wollte, er mußte seinen Wohltäter noch einmal sehen, bevor dieser zum Tode ging. Er wollte sich dem Zuge entgegenwerfen und rufen: »Tötet ihn nicht! Ermordet nicht einen Gerechten!«

Schon hatte der Richter Jarriquez indes die erhaltene Zahl über die ersten Buchstaben des letzten Absatzes geschrieben, indem er sie so oft als nötig wiederholte, wie folgt:

     4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3
     P h y j s l y d d q f d z x g a s g z z q q e h

Dann suchte er die betreffenden Buchstaben, indem er in der alphabetischen Reihe nach abwärts zählte, und las:

     Le véritable auteur du vol de ...

Da entrang sich ihm ein Jubelruf! Diese Zahl Vierhundertzweiunddreißigtausendfünfhundertdreizehn war die so lange mühsam und vergeblich gesuchte Chiffre! Der Name Ortega hatte endlich zu ihrer Auffindung geführt. Jetzt besaß er den Schlüssel zu dem Dokument, das ohne Zweifel den Nachweis der Unschuld Joam Dacostas enthielt, und ohne jenes vorläufig weiter zu lesen, stürzte er aus dem Zimmer hinaus auf die Straße und rief, was er rufen konnte: »Halt! Haltet ein!« Die Menge zu teilen, die sich vor seinen Schritten öffnete, nach dem Gefängnisse zu laufen, das der Verurteilte eben verließ, währenddessen Frau und Kinder sich verzweiflungsvoll an ihn anklammerten, das war für den Richter Jarriquez nur das Werk eines Augenblicks.

Vor Joam Dacosta stehend, vermochte er nicht zu sprechen, er schwang aber das Dokument in der Hand, und endlich drängten sich über seine Lippen die Worte:

»Unschuldig! Unschuldig!«