Jules Verne

Die Jangada, zweiter Teil


Neunzehntes Kapitel

Das Verbrechen von Tijuco

Beim Erscheinen des Richters erstarrte plötzlich die Bewegung der Menschenmenge. Ein Echo ohne Ende wiederholte noch immer den von allen Seiten erschallenden Jubelruf: »Unschuldig! Unschuldig!«

Dann ward es ringsumher still. Niemand wollte eine Silbe von dem überhören, was der Richter weiter sagen würde.

Dieser hatte sich auf eine Steinbank niedergelassen; ihn umstanden Minha, Benito, Manoel und Fragoso, während Joam Dacosta Yaquita an die Brust gepreßt hielt. Jarriquez beschäftigte sich zunächst nur mit der Entzifferung des letzten Absatzes, und je nachdem ihm durch die daruntergesetzten Ziffern die Worte klar wurden, teilte er diese ab, interpunktierte die Sätze und las nach Vollendung der Arbeit und nach einigen einleitenden Worten folgendes vor:

»Dieses merkwürdige Schriftstück«, sagte er, »berufen, im letzten Augenblicke das Leben eines braven, hochgeachteten Mannes zu retten, ihm seine angezweifelte Ehre wiederzugeben, ist wunderbarerweise und ohne daß mir bisher ein Grund dafür ersichtlich wurde, nicht in unserer Landessprache, sondern französisch abgefaßt. Vielleicht hat der Urheber desselben damit weiter nichts als eine weitere Erschwerung der Entzifferung beabsichtigt. Französisch sieht die Übersetzung nun so aus, wie dieses Blatt, das ich hier in der Hand habe, und lautet folgendermaßen:

   Le véritable auteur du vol des diamants et de
   43 251343251 343251 34 325 134 32513432 51 34
   Ph yjslyddqf dzxgas gz zqq ehx gkfndrxu ju gi

   l'assassinat des soldats qui escortaient le
   3 2513432513 432 5134325 134 32513432513 43
   o cytdxvksbx hhu ypohdvy rym huhpuydkjox ph

   convoi, commis dans la nuit du vingt-deux
   251343  251343 2513 43 2513 43 25134 3251
   etozsl  etnpmv ffov pd pajx hy ynojy ggay

   janvier mil huit cent vingt-six, n'est donc
   3432513 432 5134 3251 34325 134  3 251 3432
   meqynfu qln mvly fgsu zmqiz tlb  q gyu gsqe

   pas Joam Dacosta, injustement condamné à mort;
   513 4325 1343251  34325134325 13432513 4 3251
   ubv nrcr edgruzb  lrmxyuhqhpz drrgcroh e pqxu

   c'est moi, le misérable employé de l'administration
   3 432 513  43 251343251 3432513 43 2 51343251343251
   f ivv rpl  ph onthvddqf hqsntzh hh n fepmqkyuuexkto

   du district diamantin; oui, moi seul, qui signe
   34 32513432 513432513  432  513 4325  134 32513
   gz gkyuumfv ijdqdpzjq  syk  rpl xhxq  rym vkloh

   de mon vrai nom, Ortega.
   43 251 3432 513  432513
   hh oto zvdk spp  suvjhd

»In unsere Sprache übersetzt, heißt das aber: Der wirkliche Urheber des Diamantendiebstahls und der Niedermetzelung der Soldaten, welche den Transport begleiteten, geschehen in der Nacht des zweiundzwanzigsten Januar achtzehnhundertsechsundzwanzig, ist also nicht der ungerechterweise zum Tode verurteilte Joam Dacosta, sondern ich, der ruchlose Verwaltungsbeamte im Diamanten-Distrikt, ja, allein ich, der sich hier mit seinem richtigen Namen unterzeichnende Ortega.«

Kaum verhallten diese Worte, als stürmische, nie endenwollende Hurras die Lüfte erschütterten.

Was brauchte man auch mehr, als diesen letzten Absatz des Dokuments, der die Unschuld des Fazenders von Iquitos unzweifelhaft nachwies und dem Galgen dieses Opfer eines schrecklichen Justizfehlers entriß?

Im Kreise seiner Gattin, seiner Kinder und Freunde konnte Joam Dacosta gar nicht genug Hände drücken, die sich ihm entgegenstreckten. Trotz der Energie seines Charakters übermannte ihn doch die Rührung, und tränenfeuchten Auges blickte er hinauf zum Himmel und pries dankbaren Herzens den Herrn der Welt, dessen Hand im letzten, schwersten Augenblicke auf so wunderbare Weise sein Schicksal gelenkt und ihn dem Leben wiedergeschenkt hatte.

Die Schuldlosigkeit Joam Dacostas konnte ja nun in der Tat kaum noch einem Zweifel unterliegen. Der wirkliche Urheber des Überfalles von Tijuco hatte sein Verbrechen selbst eingestanden und schilderte treffend alle Nebenumstände bei dessen Ausführung. Mit Hilfe jener Zahl enträtselte der Richter Jarriquez das ganze geheimnisvolle Schriftstück, worin Ortega das Folgende erzählte und gestand:

Der Elende war ein Kollege Joam Dacostas und wie dieser Beamte in dem Büro des Gouverneurs im Diamanten-Arrayal zu Tijuco. Ihn hatte man damit betraut, den Edelsteintransport nach Rio de Janeiro zu begleiten.

Nicht zurückschreckend vor dem verbrecherischen Gedanken einer Bereicherung durch Raub und Mord, hatte er den Schleichhändlern den Tag, an dem der Zug von Tijuco abgehen sollte, genau mitgeteilt.

Bei dem Überfalle der Räuber, welche dem Transport jenseits der Stadt Villa Rica auflauerten, kämpfte er scheinbar auf Seite der Begleitmannschaften mit, fiel verabredetermaßen von einem auf ihn abgefeuerten blinden Schuß und wurde zu den Toten geworfen. So konnte der einzige mit dem Leben davongekommene Soldat allerdings aussagen, daß Ortega bei dem Gefechte mit umgekommen sei.

Der Verbrecher sollte aber seinen Raub nicht genießen, denn bald nachher wurde er von denen, die ihn bei Ausführung desselben unterstützt hatten, selbst total ausgeplündert.

Aller Mittel bar und ohne die Möglichkeit, nach Tijuco zurückzukehren, entflieht Ortega nach den nördlichen Provinzen Brasiliens, nach jenen Gebieten am oberen Amazonenstrome, wo die Miliz der »Capitaës do mato« ihr Wesen trieb. Er mußte doch leben - so trat Ortega in jene nicht besonders gut beleumundete Truppe ein. Hier fragte ihn niemand, wer er sei oder woher er komme. Ortega wurde also Waldkapitän und betrieb lange Jahre hindurch das Geschäft eines Menschenjägers.

Inzwischen wurde der ebenfalls aller Existenzmittel beraubte Abenteurer Torres sein Kamerad. Ortega und er traten sehr bald in nähere Beziehung zueinander. Wie Torres gesagt hatte, quälten den Übeltäter aber bald genug Gewissensbisse.

Die Erinnerung an seine Freveltat erfüllte ihn mit Schrecken. Er hatte erfahren, daß ein anderer an seiner Statt verurteilt worden war, er kannte auch diesen anderen, seinen gänzlich unschuldigen Kollegen Joam Dacosta. Erfuhr er endlich auch, daß es jenem gelungen sei, sich der ihn bedrohenden schimpflichen Hinrichtung zu entziehen, so schwebte doch noch immer das Schwert über seinem Haupte.

Als nun die genannte Miliz vor nicht allzu langer Zeit einmal bis über die peruanische Grenze hinüber schweifte, kam Ortega zufällig in die Nähe von Iquitos, und da fand er unter Joam Garral, der ihn selbst nicht erkannte, den früheren Joam Dacosta wieder.

Damals beschloß er, soweit ihm das möglich wäre, das dem ehemaligen Kollegen angetane Unrecht wiedergutzumachen und setzte ein Dokument auf, in dem er alles auf den Überfall bei Villa Rica Bezügliche niederschrieb; aber er tat es in der dem Leser bekannten geheimnisvollen Form, in der Absicht, es dem Fazender von Iquitos samt der zur Enträtselung der Schrift nötigen Zahl zu übersenden.

Der Tod verhinderte ihn an der völligen Durchführung dieses Planes. In einem Scharmützel mit Negern am Madeira-Fluß schwer verwundet, erkannte Ortega, daß sein Ende nahe sei. Sein Kamerad Torres befand sich an seiner Seite; diesem Freunde glaubte er das Geheimnis anvertrauen zu dürfen, das schon so lange und so schwer auf ihm gelastet hatte. Jenem überlieferte er das eigenhändig geschriebene Dokument und nahm ihm einen Eid ab, dasselbe Joam Dacosta zu überliefern, dessen jetzigen Namen und Aufenthaltsort er ihm mitteilte, und mit dem letzten Seufzer flüsterte er noch die Zahl vierhundertzweiunddreißigtausendfünfhundertdreizehn, ohne deren Kenntnis das Schriftstück völlig unverständlich bleiben mußte.

Der Leser weiß, wie Torres nach Ortegas Ableben sich seines Auftrages entledigte, wie er aus dem in seinen Händen befindlichen Geheimnis Nutzen zu ziehen beschloß, wie er dasselbe zum Gegenstande eines schamlosen Tauschhandels zu machen versuchte.

Torres mußte vor gänzlicher Durchführung seiner bübischen Absichten gewaltsamen Todes sterben und nahm sein Geheimnis mit in das Wellengrab. Der von Fragoso zuerst erwähnte Name Ortega aber, gleichsam die Signatur des Schriftstückes, dieser Name führte endlich, dank dem Scharfsinne des Richters Jarriquez, dazu, das Kryptogramm in allgemein verständliche Schrift zu übersetzen.

Ja, hiermit lag der so lange gesuchte materielle Beweis vor Augen, das unwiderlegbare Zeugnis der Unschuld des dem Leben und der Ehre wiedergegebenen Joam Dacosta.

Die Hurras erschallten mit verdoppelter Lebhaftigkeit, als der würdige Beamte mit lauter Stimme zur Erbauung aller diese spannende Geschichte vorgetragen hatte.

Von dieser Stunde an ließ der Richter Jarriquez, der Besitzer des unbestreitbaren Beweises, in Übereinstimmung mit dem Chef der Polizei, es sich nicht nehmen, Joam Dacosta, den er vor Eintreffen weiterer Instruktionen von Rio de Janeiro doch nicht völlig auf freien Fuß setzen durfte, einstweilen in seinem eigenen Hause unterzubringen.

Das konnte er sich jedenfalls, ohne Überschreitung seiner Machtbefugnisse, erlauben, und unter dem Zusammenlauf der ganzen Einwohnerschaft Manaos sah sich Joam Dacosta gleich einem Triumphator mehr nach der Dienstwohnung des hohen Beamten getragen, als daß er, begleitet von allen seinen Angehörigen, dahin ging.

Diese Stunde belohnte den ehrenwerten Fazender von Iquitos reichlich für alle Leiden einer langjährigen Verbannung, und wenn er sich jetzt, mehr um seiner Familie als um seiner selbst willen, glücklich fühlte, so regte sich in ihm auch ein gewisser vaterländischer Stolz, daß die Heimat sich nicht durch einen schrecklichen Justizmord besudelt hatte.

Was wurde inzwischen aber mit Fragoso?

Nun, der Liebenswürdige wurde von Zärtlichkeiten fast erdrückt. Benito, Manoel und Minha überhäuften ihn damit, und Lina ersparte ihm dieselben nicht. Er wußte kaum, woran er war, und wehrte sich, so gut es anging. So viel des Dankes verdiente er ja gar nicht! Der Zufall allein hatte alles getan! War es denn ein so besonderes Verdienst von ihm, daß er in Torres einen früheren Waldkapitän wiedererkannt hatte? Gewiß nicht. Auch sein Einfall, die Miliz, der Torres früher angehört hatte, aufzusuchen, schien doch von vornherein die schlimme Lage des Fazenders kaum bessern zu können, und was endlich den Namen Ortega anging, so hatte er ja dessen entscheidenden Wert nicht im mindesten geahnt.

Braver Fragoso! Ob er es nun zugeben wollte oder nicht, er hatte doch zuletzt Joam Dacosta gerettet.

Doch wie viele merkwürdige Ereignisse in glücklicher Aufeinanderfolge gehörten dazu, dieses Ziel zu erreichen! Die Rettung Fragosos, gerade als er sich im Walde von Iquitos aus Lebensüberdruß den Tod geben wollte; der freundliche Empfang, der ihm in der Fazenda zuteil wurde; die Begegnung mit Torres an der Grenze Brasiliens, seine Einschiffung auf der Jangada und endlich der Umstand, daß er den Abenteurer schon früher einmal gesehen hatte.

»Nun, ja doch«, rief Fragoso zuletzt, »aber ohne Lina wäre doch alles unmöglich gewesen.«

»Ohne mich!« bemerkte die junge Mulattin.

»Gewiß! Ohne jene Liane, ohne deinen famosen Einfall, hätte ich nimmer so viel Glück stiften können.«

Wir brauchen wohl kaum hervorzuheben, daß Fragoso und Lina geradezu gefeiert und von der ganzen ehrbaren Familie, wie von deren vielen in Manao gewonnenen neuen Freunden fast auf den Händen getragen wurden.

Hatte der Richter Jarriquez aber nicht auch seinen Anteil an der Ehrenrettung des Unschuldigen? Wenn es ihm trotz seiner hochentwickelten analytischen Talente auch nicht gelang, das für jedermann, der nicht im Besitze des Schlüssels war, unenträtselbare Dokument zu lesen, so hatte er doch zeitig genug erkannt, welches kryptologische System demselben zugrunde gelegt war. Wer hätte außer ihm mit Hilfe des einzigen Namens Ortega die versteckte Zahl herauszufinden vermocht, welche nur der Urheber des Verbrechens und Torres, als sie noch lebten, gekannt hatten?

Auch ihm wurde selbstverständlich der wohlverdiente Dank zuteil.

Noch am nämlichen Tage ging nach Rio de Janeiro ein ausführlicher Bericht über die letzten Vorkommnisse ab, dem das Original-Dokument nebst dem zugehörigen Schlüssel beigefügt war. Jetzt mußte erst ein weiterer Erlaß des Ministers an den Richter abgewartet werden, aber niemand zweifelte daran, daß jener die sofortige Freigebung des Gefangenen verfügen werde.

Es galt also noch einige Tage in Manao auszuharren; dann sollten Joam Dacosta und die Seinigen frei und unbeschränkt, von keiner weiteren Besorgnis bedrückt, von ihrem Wirte Abschied nehmen, sich wieder einschiffen und den Amazonenstrom weiter hinab bis zum Para segeln, wo die Reise durch die Doppelhochzeit Minhas und Manoels, sowie Linas und Fragosos, entsprechend dem vorher entworfenen Plane, ihr Ende finden sollte.

Vier Tage später, am 4. September, traf der Befehl zur Freigabe des Gefangenen ein. Das Dokument war als authentisch anerkannt worden, sowie die Handschrift als diejenige Ortegas, des ehemaligen Beamten im Diamantenbezirke, und es unterlag keinem Zweifel, daß das Geständnis des Verbrechens, mit allen Einzelheiten, die er beifügte, allein von seiner Hand geschrieben war.

Endlich war also die Unschuld des Verurteilten von Villa Rica anerkannt und Joam Dacosta wieder ehrlich erklärt worden.

An diesem Tage speiste der Richter Jarriquez mit der glücklichen Familie an Bord der Jangada, und als er gegen Abend aufbrach, drückten ihm alle warm die Hände. Es war ein rührender Abschied, aber man versprach dabei, sich auf der Rückreise in Manao und später in Iquitos gegenseitig zu besuchen.

Am folgenden Morgen mit Tagesanbruch erschallte das Signal zur Weiterfahrt. Alle Insassen der Jangada standen auf dem ungeheuren Floße. Die Jangada trieb langsam nach der Strömung, und als sie an der Biegung des Rio Negro verschwand, donnerte noch ein tausendstimmiges Hurra der Bewohner von Manao durch die warme Luft.