[JoGu]

Kryptologie

Auszüge aus »Im Reiche des Silbernen Löwen IV« von Karl May

geschrieben 1903.

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Erstes Kapitel. Im Grabe.

[...]

Man kam dieser Weisung unverweilt nach. Als die Perser hinausgebracht worden waren, lagen die Kleider des Multasim noch am Boden. Der Pedehr forderte Tifl auf, nachzusehen, was sich in den Taschen befinde. Sie enthielten, wie es schien, nur die gewöhnlichen Gebrauchsgegenstände, und nur zuletzt entdeckte »das Kind« an einer verborgenen Stelle noch ein kleines Täschchen, aus dem er einen noch kleineren Lederumschlag hervorzog, in welchem einige beschriebene Papierblätter festgeheftet waren. Er gab das Büchelchen dem Pedehr, der es aufmerksam betrachtete und dann dem Ustad kopfschüttelnd mit den Worten hinreichte:

»Sonderbar! Das scheinen nur einzelne Buchstaben zu sein. Worte sind es nicht. Schau du zu, was es ist!«

Der Ustad nahm es in die Hand, sah es durch und sagte:

»Das ist das Täliq-Alphabet mit einer vorwärts gerückten Wiederholung. Ich würde glauben, es sei eine sogenannte Eselsbrücke für irgend einen Anfänger im Schreiben. Aber da auf der ersten Seite steht in derselben runden, stark nach links hängenden Schrift zu lesen: ,Für Ghulam, den Dschellad'1. [1) Henker.] Es ist also für Ghulam ganz besonders bestimmt. Er wird ,Henker' genannt. Weshalb? War es vielleicht ein Scherz? Dann hätte er es nicht so sorgfältig aufgehoben. Hat er es vielleicht selbst geschrieben? Was sagst du dazu, Effendi?«

»Ich kann nicht eher etwas sagen, als bis ich es gesehen habe,« antwortete ich ihm. »Ist es nur das Alphabet?«

»Dieses und die Überschrift, die ich vorgelesen habe. Denn die paar Buchstaben, die dann noch unter ihr stehen, können wohl kaum etwas zu bedeuten haben. Es ist ein Sa und ein Lam.«

»Weiter nichts?« fragte ich schnell.

»Noch das Verdoppelungszeichen dazwischen,« antwortete er. »Da, siehe selbst!«

Er gab es mir. Ja, das war das mir so wohlbekannte Erkennungszeichen der Sillan! Ich wußte sofort, daß dieses scheinbar ganz bedeutungslose Doppelalphabet gewiß von großer Wichtigkeit sei. Aber in welcher Weise wichtig, das war die Frage! Es enthielt zweimal alle persischen Buchstaben vom Aelyf bis zum Jäj und sogar Lam-Aelyf. Aber die gleichen Buchstaben standen nicht beieinander, sondern die zweite Reihe war weiter fortgeschoben, so daß die letzten sieben Buchstaben nicht hinten, sondern vorn ihr Ende fanden. Wenn ich versuchen will, dies durch das deutsche Alphabet zu verdeutlichen, so bekommt diese Probe folgendes Aussehen:

A b c d e f g h i k l m n o p q r s t u v w x y z. ---
t u v w x y z A b c d e f g h i k l m n o p q r s. ---
Es war mit Gewißheit anzunehmen, daß die bereits erwähnte Wichtigkeit dieser Zusammenstellung für die Sillan eine allgemeine, für den Multasim aber außerdem eine noch besondere sei. Ich wünschte sehr, hierüber Aufklärung zu erhalten. Aber von wem? Sie konnte mir nur durch eigenes Nachdenken werden. Jetzt aber gab es keine Zeit hierzu. Ich steckte also das Heftchen zu mir und sagte:

»Die Buchstaben sind wahrscheinlich das, wofür du sie hieltest, nämlich eine Eselsbrücke. ...«

[...]

Bei diesen Worten reichte er das Schreiben mir. Nun untersuchte ich es sorgfältiger, als ich es früher gethan hatte. Ich war der Meinung gewesen, daß es ein zusammengefaltetes Blatt sei, aus nur einem Stücke bestehend. Als ich den Brief nun gegen das Licht hielt, bemerkte ich, daß er aus zwei Teilen bestand, dem Umschlage und dem eigentlichen Schreiben, welches innen lag. Der Umschlag war kein Couvert in unserm Sinne, mit vier auf die Rückseite geschlagenen und dort zusammengeleimten Ecken, sondern einfach ein zusammengelegtes und mit den Enden ineinander gestecktes Papier, ungefähr so, wie unsere Apotheker die Papierumschläge fertigen, in denen sie ihre Pulver verkaufen. Es gab also auf der Rückseite nicht vier zusammenstoßende Ränder, sondern nur einen, der quer über die Mitte ging. Er war durch das mittelste Siegel verschlossen worden. Die andern vier Siegel erschienen also als vollständig überflüssig, obgleich anzunehmen war, daß man auch sie nicht ohne Grund angebracht hatte.

Es handelte sich also nur darum, den Mittelverschluß zu öffnen, ohne daß dies später zu entdecken war. Als ich das den beiden andern mitteilte, bat der Pedehr mich um den Brief. Er bekam ihn, hielt ihn auch gegen das Licht, griff mit dem Zeigefinger erst rechts, dann links in den Umschlag und sagte lachend:

»Wo sich Gelehrte vergeblich die Köpfe zerbrechen, da findet der ungelehrte Mutterwitz sofort das Richtige. Ich mache auf, ohne ein Siegel anzurühren!«

Er zog auf der einen Seite den nach innen geschlagenen Teil des Umschlages heraus, schob hierauf zwei Finger hinein und brachte das Schreiben hervor. Der Ustad lachte, und ich stimmte ein. Der Pedehr aber sagte ernst:

»Hier zeigt sich wieder einmal, wie wenig sich der Böse auf den Bösen verlassen kann. Und wenn der Ungerechte seine Absichten sogar fünfmal versiegelt, sie kommen trotzdem an den Tag und zwar infolge seines eigenen Leichtsinnes und seiner Unvorsichtigkeit!«

Wir schlugen das Schreiben auf. Wir waren fast begierig, es zu lesen. Wir taten das zu gleicher Zeit, ich mit meinem Kopfe ganz neben dem des Ustad. Aber schon nach kurzer Zeit erhob er den seinen, ich den meinen. Wir sahen einander verwundert an.

»Kannst du es lesen?« fragte er mich.

»Nein,« antwortete ich.

»Ich auch nicht! Ist dir diese Sprache bekannt?«

»Nein.«

»Auch mir nicht! So können nur ganz wilde Geschöpfe sprechen. Aber die schreiben doch nicht!«

»Es ist Täliq-Schrift!«

»Ganz wohl! Dieselbe Schrift, von welcher wir vorhin ---«

Er hielt mitten in der Rede inne, sprang auf, machte eine Gebärde der Überraschung und fuhr dann fort:

»Effendi, welch ein Gedanke! Wenn er richtig wäre!«

»So sprich ihn aus!«

»Diesen Brief hat ein Sill geschrieben. Du behauptest, der Multasim sei auch ein Sill und hältst ihn für den Adressaten. Wir haben vorhin bei ihm ein Täliq-Alphabet gefunden. Sollte dieses Alphabet sich etwa auf diesen Briefwechsel beziehen?«

Dieser Gedanke war zwar frappierend, aber ganz natürlich. Wir nahmen das kleine Heftchen vor, schlugen es auf und begannen zu vergleichen. Wie freuten wir uns, schon gleich bei den ersten Buchstaben zu sehen, daß der Ustad mit seiner Vermutung das Richtige getroffen hatte! Es stand in dem Heftchen ganz deutlich, wie das Schreiben, welches wir geöffnet hatten, zu lesen war. Wir hatten sehr einfach die Buchstaben so zu verwechseln, wie es dort angegeben wurde. Indem ich auf meine Umschreibung in das deutsche Alphabet auf Seite 62 dieses Buches zurückgreife, ist dies so zu verdeutlichen, daß t statt a, u statt b, v statt c, w statt d usw. zu lesen war.

Der Ustad holte zwei Papierblätter, für sich eines und für mich das andere. Dann setzten wir uns hin, um die vorgeschobenen Buchstaben in die richtigen zu verwandeln. Als wir damit fertig waren, stellte es sich heraus, daß zwischen den beiden Schreiben nicht der geringste Unterschied bestand.

Nun hatten wir mit dem Sinne der Worte zugleich den Inhalt des Briefes kennen gelernt. Für den Uneingeweihten wäre er selbst jetzt nach der Entzifferung ein Rätsel geblieben. Aber so wenig wir über die Sillan wußten, so war es doch genug für uns, diesen Inhalt zu verstehen. Der Brief lautete folgendermaßen:

»An Ghulam el Multasim, meinen Henker!

Es ist die Zeit gekommen, daß die Gul-i-Schiras auf der Brust von Rafadsch Azrim zu erblühen hat. Das soll am fünften Tage des Monates Schaban geschehen, zur Zeit des Abendgebetes, keine Stunde früher, keine später. Du brauchst ihn nicht zu suchen. Er wird dir zugeführt, wo es auch immer sei. Du weißt, daß ich zwar unsichtbar, doch auch allmächtig und allgegenwärtig bin! Blüht sie nicht ihm, so blüht sie sicher dir!

Der Aemir-i-Sillan.«

[...]

»Der Duft der Rose bedeutet den Mord. Das wissen wir, seit heute die deine aufgebrochen werden sollte. Der des Safran scheint die Schmuggelei zu sein. Habe ich recht, wenn ich annehme, daß der Brief an den Multasim den Befehl zur Ermordung eines Menschen enthält?«

»Ja.«

»So ist es doch auffällig, daß nicht von der Rose im allgemeinen, sondern von der köstlichen Gul-i-Schiras die Rede ist!«

»Mir fällt das gar nicht auf. Es ist das einfach eine Steigerung.«

»Eine Steigerung des Mordes? Kann ich, wenn ich jemand totschlage, dies noch steigern?«

»Ich meinte es anders. Der Duft der gewöhnlichen Rose bedeutet die Ermordung einer gewöhnlichen Person. Was für eine Person wird da wohl gemeint sein, wenn man nach der herrlichsten aller Rosen greift?«

»Ah, das ist die Lösung? Es handelt sich nicht um einen gewöhnlichen, sondern um einen wahrscheinlich sehr hochstehenden Menschen!«

»So ist es; ich wenigstens denke es mir so ...«

[...]

»Ja; es scheint sich alles, was du schließest, bestätigen zu sollen,« antwortete der Ustad. »Ich habe nicht geahnt, daß man bei einem Spaziergange auf solchem Wege, an welchem fast nichts zu stehen scheint, so schöne und so wichtige Blumen sammeln könne. Es gibt jedenfalls bei den Sillan eine Vorschrift darüber, wo und wie solche Auskünfte beizufügen sind. Aber nun kommt die Hauptsache: Wer ist der, welcher ermordet werden soll?«

»Ich hoffe, daß wir auch das finden werden.«

»Mir scheint es unmöglich!«

»Mir nicht. Es handelt sich jedenfalls um einen hochstehenden Herrn. Du bist am Hofe bekannt. Du wirst die Namen aller hervorragenden Männer Persiens wissen.«

»Die weiß ich allerdings. Aber einen Rafadsch Azrim kenne ich nicht. Dieser Name klingt so arabisch und so persisch, aber einen mir bekannten Mann, der ihn trägt, gibt es nicht.«

»Vielleicht heißt er gar nicht so, sondern anders,« fiel da der Pedehr ein. »Auf dem Umschlage wurde doch auch Dartschin anstatt Esara el Awar gesagt!«

»Aber Rafadsch Azrim ist kein Gewürz!« erwiderte der Ustad.

»Sollte da das Alphabet nicht helfen können?«

Wir versuchten es; aber auch das war vergeblich. Da aber schien den Ustad ein plötzlicher Gedanke zu überkommen. Er nahm den Brief in beide Hände, las und rief dann aus:

»Ich habe es! Wie leicht, und wie aber auch wie gräßlich!«

»Nun, wer ist's?« fragte ich gespannt.

»Lies selbst! Lies den Namen rückwärts! So leicht! Wie konnten wir nicht hierauf kommen!«

Er wollte mir das Schreiben geben; ich nahm es aber gar nicht, denn man brauchte die geschriebenen Worte nicht zu sehen, um zu wissen, daß der Name Rafadsch Azrim, wenn man ihn von rückwärts liest, Dschafar Mirza lautet.

[...]