Allochthone Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

nutzen: Französisch & Türkisch

Eins der brisantesten Ergebnisse der PISA-Studien sowie anderer Unterrichtsevaluationen ist die Tatsache, dass in Deutschland bereits in der Primarstufe die sprachliche Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund stark defizitär ist und so erhebliche Lerndefizite auch der deutschen Kinder mit verursacht werden. Diese strukturelle Benachteiligung ist aufzubrechen.

Die von Kindern und Jugendlichen mitgebrachten Kulturen und Sprachen müssen institutionell anerkannt und wertgeschätzt werden. Es sind Konzepte und Modelle zu entwickeln, wie diese positiv in den Lernprozess und die Bildungsbiographie der Kinder eingebaut werden können (Havva Engin in BildungSPEZIAL: lernen - unterrichten - erziehen, 1(2009): 46)
Lern- und Lehrinhalte im Rahmen des (Fremd-)Sprachenunterrichts sollten interkulturell ausgerichtet sein. Es geht nicht um die Vermittlung von Faktenwissen über fremde Kulturen, im Zentrum des interkulturellen Lernens steht ein Prozess des Selbst- und Fremdverstehens, der von Ambiguitätstoleranz, Empathiefähigkeit und einer ständigen Differenzierung von Wahrnehmungsschemata geprägt ist (vgl. Denzel de Tirado, Heidi (2007). Interkulturelle Kommunikation. In: Krechel. H. (Hrsg.). Französisch Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen). Diese Konditionen des (Mehr)Spracherwerbs zu erforschen, bleibt in einer multikulturellen Gesellschaft eine besondere Herausforderung.
Ein erstes Unterrichtsprojekt in einer Grundschule, in der Kinder nicht deutscher Primärsprachsozialisation einen türkischen Sprachhintergrund haben, wurde im Mai 2013 durchgeführt. Für den Wortschatzerwerb im frühbeginnenden Fremdsprachenunterricht kann man in dieser spezifischen Sprachsituation romanische Lehnwörter bzw. Internationalismen im Türkischen, das relativ häufig L1 verschiedener Jugendlicher ist, Französischen und Deutschen nutzen, um erweiterte Lernstrategien zu Strukturmechanismen des mentalen Lexikons im Grundschulalter zu erproben. Im Rahmen der Projektwoche, in der die Sprachen Türkisch und Französisch im Mittelpunkt stehen, waren Fallstudien vorgesehen: Es handelt sich bei dem Forschungsgegenstand um Unterricht in einer Integrationsgruppe, die aus Kindern mit deutscher oder türkischer Muttersprache besteht. Dabei hat der Umfang der Sprachkompetenz in türkischer Sprache bzw. in der neuen Zielsprache Französisch zunächst sekundäre Bedeutung; primäre Ziele sind eine Sensibilisierung der türkischen Schüler für ihre Muttersprache und damit für deren Wertschätzung, die Förderung des Interesses der deutschsprachigen Kinder für die Sprache und Kultur der türkischen Mitschüler sowie die Identifikation von kommunikativen Gemeinsamkeiten, auch bzw. gerade im Hinblick auf Europa durch die Beschäftigung mit der Landessprache der französischen Nachbarn. Der sogenannte éveil aux langues und erste Schritte auf dem Weg zu einer Sprachlernkompetenz stehen im Mittelpunkt. Die Ergebnisse wurden 2013 auf dem Romanistentag einen Vortrag zum Thema "Was ist französisch an türkisch duş? Allochthone Mehrsprachigkeit im FSU nutzen" präsentiert.
Die zweite Pilotphase in der Sekundarstufe 1 mit ist für Klasse 8-9 geplant. Der Unterricht findet gemeinsam mit türkischsprachigen Schülern im Rahmen einer wöchentlichen AG oder einer Projektwoche statt. Zielsprache wird dann nicht Französisch, sondern Türkisch sein. Die Teilnehmer sollen allerdings Französisch bereits seit 3-4 Jahren lernen. Die Phasen des Sprach- und Kulturvergleichs werden gemeinsam gestaltet, so dass die Schüler mit Türkisch als L1 hier LDL, also lernen durch lehren, erfahren.
Menschen, die in mehreren Sprachen gelernt haben, gewissermaßen die Schwelle in andere Sprachhäuser zu überschreiten (vgl. Christ, Herbert (2002). Einsprachigkeit überwinden. Das Postulat der Erziehung zur Mehrsprachigkeit. In: Krüger-Potratz, Marianne (Hrsg.) Mehrsprachigkeit macht Europa. Texte und Dokumente zu Mehrsprachigkeit und Schule. Münster: iks, 13-24), werden die kommunikativen Aufgaben, denen sie sich in einer globalisierten Welt in Zukunft stellen müssen, leichter bewältigen können. Jedes Schul- bzw. Unterrichtsmodell, "das bereits im Pflichtschulalter eine möglichst breite Sprachkompetenz gewährleisten kann […], bietet die besten Voraussetzungen für eine echte Integration Europas, für die Kommunikation und Verständigung zwischen den Völkern und nicht zuletzt die besten Grundlagen für das Erlernen weiterer Sprachen" (Rifesser, Theodor (1994). Drei Sprachen unter einem Dach. Das Schulmodell an den Schulen der ladinischen Täler in der Autonomen Provinz Bozen/Südtirol. Bozen: Istitut Pedagogich Ladin, 26).

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