Die „Tatenberichte“ des Zärʾa Yaʿqob, Bä-ǝdä Maryam
und Fragmente der Chroniken seiner Nachfolger

Die „Tatenberichte“ des Zärʾa Yaʿqob, Bä-ǝdä Maryam und Fragmente der Chroniken seiner Nachfolger sind im Gegensatz zum „prᴏsaischen Heldenepos“ über König ʿAmdä Ṣǝyon (vgl. Kropp 1994.) ein auch sprachlich typisches Stück der äthiopischen Geschichtsschreibung. Im Wortschatz und in der Syntax herrscht ein tiefgehender amharischer Einfluß, der auch den äthiopischen Gelehrten auffiel, weshalb sie den Begriff der lǝssanä tarik der Chronikensprache für diese Sprachstufe prägten. Da zugleich aber das Amharische in zusammenhängenden Texten erst für viel spätere Zeit belegt ist, weiterhin ein großer Teil des in diesen Texten enthaltenen amharischen Wortschatzes Fachwörter aus der Verwaltung des königlichen Zeltlagers mit seiner bis in kleinste Einzelheiten geregelten Organisation (s. Śǝrʿatä gǝbr, Projekt Nr. 3) sind, so muß in der Bearbeitung und Übersetzung manches unklar und dunkel bleiben, wenn nicht zufällige Funde paralleler Texte oder Überlieferungen eine Klärung sachlicher und inhaltlicher Probleme erlauben. Ziel der einmal zu erstellenden Gesamtedition der Chronikensammlung des däǧǧazmač Ḫaylu ist es somit auch, in einem Gesamtglossar solche Titel, Verordnungen und Sachbezeichnungen mit allen Stellen im Kontext zusammenzuführen und dann eine sprachliche und inhaltliche Klärung zu erreichen.
Das öffnet den Blick auf die historischen Stücke über König Zärʾa Yaʿqob und seinen Nachfolger Bä-Ǝdä Maryam. Es handelt sich nicht um Chroniken, sondern um sachlich und nach bestimmten Themen geordnete Berichte über die Regierungstätigkeit des Monarchen, besonders dessen politische, administrative und religiöse Reformen. Akzent und Ordnung der Berichte sind in den zwei Stücken verschieden, aber sie sind nach wörtlicher Aussage des Textes vom gleichen Autor geschrieben. Diese Tatsache wird durch eine streng chronologische, aber wichtige Textstücke entstellende Anordnung in einem Strang der handschriftlichen Tradition verwischt. Der letzte Teil der ersten Serie beschreibt das harte und ungerechte Vorgehen des ZY gegen die Mutter des BM und ihn selbst, schließlich die Ernennung des BM zum Nachfolger. Er ist eigentlich schon Teil der chronologischen Schilderung über ZY und BM und nicht mehr Teil der Retrospektive über ZY wie die beiden Tatenberichte. An diesem Punkt seiner Darstellung angelangt, wird sich der Autor seiner beruflichen Verformung und deren Vorlieben bewußt. Er hält nachdenklich inne, denkt an ein weiteres Publikum als seine Berufskollegen – wenn die dramatisierende Vergegenwärtigung durch den Historiker hier erlaubt ist – und entschließt sich dann zu einer zweiten Fassung, deren Tendenz weniger die Abmilderung seiner durchaus deutlichen Verurteilung verschiedener Maßnahmen des ZY ist als die Weglassung von Einzelheiten, die lediglich den Verwalter und Bürokraten interessieren. Der Anfang von BM ist in Wirklichkeit der letzte Absatz von ZY1. Dieser entscheidende Moment wird verwischt, wenn ein späterer Kompilator oder Bearbeiter die zweite Fassung des Tatenberichts ZY herauslöst und direkt zur ersten setzt, dabei aber die Einleitung dazu an ihrem Platz beläßt. sodaß Einleitung zu ZY2 und Schluß mit Kolophon ZY / LD direkt zusammen zu stehen kommen. Perruchon (1893:102-103), der die geänderte Fassung als Grundlage benutzt, übersetzt denn auch den ersten Satz እጽሕፍ፡ ዜናሁ፡ ለንጉሥነ፡ nach den Erfordernissen des neuen Kontexts „falsch“ mit „je viens de racconter l‘histoire de notre roi“. Er kannte freilich nicht die Stellung und Funktion dieser Einleitung እጽሕፍ፡ ዳግመ፡ ዜናሁ፡ ለንጉሥነ፡ „Ich will nun wiederum, zum zweiten Mal den Bericht – nicht ታሪክ Geschichte! – über unseren König schreiben“. Mit seiner rein chronologischen Anordnung zerstörte er aber den logischen Zusammenhang zwischen beiden Texten und ließ den wesentlichen Vermerk über den gleichen Autor für beide Texte aus. In meiner in Bearbeitung befindlichen Neuedition wird die ursprüngliche Ordnung, die nur zwei Handschriften (d‘Abbadie A52; Mondon-Vidailhet MV27) bieten, wieder hergestellt. Textliche Überschneidungen und wörtliche Parallelen und direkte inhaltliche Ergänzungen zur Śǝrʿatä gǝbr machen klar, daß es sich in all den genannten Stücken um den gleichen Autor handelt. In seinem Text ist die Würdigung der Maßnahmen des Herrschers zu finden – etwa die neuartige halb feste Anlage des Hoflagers, die Ausgestaltung des strengen Hofzeremoniells – zu finden, aber auch ausgesprochene Kritik an übermäßiger Strenge in der Bestrafung von politischen und religiösen Dissidenten und an der politischen Neuordnung etwa in der zunächst gewählten Bevorzugung von weiblichen Familienangehörigen als Provinzgouverneure, schließlich aber die direkte Zentralverwaltung durch königliche Beamte. Dies wird alles aus der Sicht des ausführenden Beamten beschrieben. Also auch hier wieder ein Hofwürdenträger mit wenn nicht literarischen Ambitionen, so doch mit einem engen Verhältnis zur Schriftlichkeit und zur Bewahrung der flüchtigen mündlichen Tradition. Somit liegt nicht die Genese der äthiopischen Historiographie vor – eine solche bestand schon lange zuvor –, sondern die Geburt der politischen Kritik aus dem Geist selbstbewußter und selbstsicherer Verwaltung und Bürokratie

Referenz:
Kropp 1994 Der siegreiche Feldzug des Königs ʿĀmda-Ṣeyon gegen die Muslime in Adal. Louvain. (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium. 539. 540. = Scriptores Aethiopici. 99. 100.)

Perruchon, Jules 1893. Les chroniques de Zarʾa Yaʿqōb et des Baʾeda- Māryām, rois d'Éthiopie de 1434 à 1478. Texte éthiopien et traduction, précédées d'une introduction, Bibliothèque de l'École Pratique des Hautes Études. Sciences Philologiques et Historiques. 93, (Paris: Émile Bouillon, 1893).

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